GRENZEN: Eine Woche mit Boats4People1 – ein persönliches Resümee

von Nina Perkowski 23. Juli 2012, 13.09.2012, Veröffentlicht in Archipel 207

Im Dezember letzten Jahres haben wir ein Projekt2 angekündigt. Es nannte sich „Flotte der Solidarität - stoppt das Sterben im Mittelmeer“ und soll die Migrant_Inn bei ihrer Reise nach Europa unterstützen. Wir veröffentlichen hier den Bericht einer Teilnehmerin der vom Kollektiv Boats4People organisierten Aktion.

Als ich endlich wieder meinen Fuß auf sizilianischen Boden setzte, fühlte ich mich erleichtert. Eine ereignisreiche Woche lag hinter mir, Gedanken rasten durch meinen Kopf und ich war zusehends ungeduldiger geworden während ich darauf wartete, die Fähre aus Tunis verlassen zu dürfen. Sie hatte Palermo mit einer vierstündigen Verspätung erreicht.
Mit meiner Rückkehr nach Sizilien endete meine Teilnahme an der Boats4People-Aktion. 10 Tage lang war ich eine von ungefähr 50 Aktivist_Innen, die an einer Reise von Italien nach Tunesien teilnahmen. Ich schloss mich dem Projekt an seiner zweiten Station in Palermo an und reiste weiter nach Tunis und Monastir bevor ich nach Sizilien zurückkehrte. Andere waren zuvor nach Cecina in Norditalien gefahren, wo die Boats4People-Reise begann, oder reisten weiter nach Lampedusa, wo sie am 19. Juli schliesslich endete.
Ich schreibe dies eine Woche nach meiner Rückkehr. Eine Woche, die ich mit Reflektionen über das, was während dieser Reise passierte, verbrachte. Ich habe versucht, meine Gedanken und Eindrücke zu ordnen und eine angemessene Antwort auf die Frage von Freunden und Bekannten zu finden: „wie war’s?“ Wie es war? Ich traf tolle Menschen und hatte gute Gespräche. Ich fühlte intensive Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Bewunderung, Frustration, Verbundenheit und sah Fragen, mit denen ich schon lange kämpfe, sich mir wieder einmal neu stellen. Nach einer Woche fällt es mir immer noch schwer, ein Resümee über Boats4People zu ziehen. Dennoch weiß ich, dass ich froh über meine Teilnahme bin. Sie hat mir nicht nur schier unendlichen Stoff zum Nachdenken beschert und es mir ermöglicht, inspirierende, interessante Menschen zu treffen, sondern hat mir ebenso erlaubt, mir einiger Schwierigkeiten und Frustrationen des transnationalen Graswurzel-Aktivismus klarer bewusst zu werden.
Boats4People kann vielleicht am besten als eine Allianz von Organisationen und Individuen beschrieben werden, die gegen die derzeitige EU-Immigrationspolitik und für das Recht auf Bewegungsfreiheit eintreten. Diese Allianz wurde letztes Jahr ins Leben gerufen, als als Folge des „Arabischen Frühlings“ zehntausende Menschen sich dazu entschieden oder sich dazu gezwungen sahen, das Mittelmeer Richtung Europa zu überqueren. Die Antwort der EU darauf war eine erneute Frontex3-Operation, die Migrant_Innen stoppte und postwendend nach Nordafrika zurückschickte. Obwohl das Mittelmeer noch einmal besser überwacht wurde und Frontex, NATO sowie nationale Grenzbeamte dort präsent waren, wurde 2011 eins der tödlichsten Jahre in der Region. Mehr als 2000 Menschen starben auf dem Weg nach Europa.
Boats4People ist das Ergebnis der Empörung von Aktivist_Innen über EU-Politiken und ihrer Entschlossenheit, sich für politischen Wandel einzusetzen. Anfänglich war eine Flotilla geplant, die über das Mittelmeer fahren sollte und währenddessen Frontex beobachten, potenziell Menschen in Seenot retten und mediale Aufmerksamkeit für die Situation an Europas südlichen Grenzen schaffen würde. Schlussendlich führten finanzielle Nöte zu Planänderungen und nur ein kleines Boot wurde für eine Reise von Italien nach Tunesien und zurück nach Lampedusa gechartert. Zusätzlich reisten etliche Aktivisten mit anderen Transportmitteln zu den einzelnen Reisestationen.

Verschiedene Aktivitäten

Am 1.-2. Juli nahm Boats4People in Cecina am antirassistischen Treffen teil, das vom italienischen ARCI (Associazione di promozione social) organisiert wurde. In Palermo wurden ein paar Tage später Präsentationen, Diskussionen und Workshops durchgeführt und es gab eine Gedenkveranstaltung für diejenigen, die auf See starben oder verschwanden. Eine B4P-Delegation besuchte das Identifikations- und Abschiebegefängnis in Milo (Sizilien), wo zurzeit ca. 200 tunesische Migranten festgehalten werden. In Tunis wurden Workshops an der Universität organisiert, Diskussionsgruppen mit studentischen Aktivist_Innen wurden abgehalten und eine Theater-Performance stellte die Perspektive eines Exil-Tunesiers auf Migration vor. Außerdem fanden Treffen mit den Müttern von verschwundenen Tunesiern statt und ihre Demonstrationen vor lokalen Ministerien wurden unterstützt. Eine B4P-Delegation reiste ins Flüchtlingslager Choucha, um mit seinen Bewohnern zu sprechen und sicherzustellen, dass eine Gruppe von vorher eingeladenen Flüchtlingen tatsächlich an B4P-Aktivitäten in Monastir würde teilnehmen können. In Monastir nahm Boats4People am Vorbereitungstreffen für das Weltsozialforum teil. Einen Tag lang beschäftigten sich Workshops und Podiumsdiskussionen mit dem Thema Migration. Am Abend wurde eine weitere Gedenkfeier für die Toten und Verschwundenen abgehalten. Am nächsten Morgen wurden zwei aufschlussreiche Diskussionen innerhalb der Boats4People-Reisegruppe und mit tunesischen Partnern geführt und dann begaben sich viele Aktivist_Innen auf den Heimweg. Andere reisten weiter nach Lampedusa, wo sie am LampedusaInFestival teilnahmen, einem Filmfestival zum Thema Migration. Dort fand dann auch eine abschließende Gedenkfeier statt.
Während dieser Aktivitäten war zudem ein Pilotprojekt von WatchTheMed 4 online verfügbar. Diese Karte des Mittelmeers wurde von zwei Doktoranden des Londoner Goldsmiths-Colleges entwickelt und hat zum Ziel, „die Möglichkeit zu vergrössern, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für den Tod von Migrant_Innen und für die Verletzung ihrer Rechte an den maritimen Grenzen der EU verantwortlich sind."Informationen über Grenzkontrollen, Frontex-Operationen, Search-and-Rescue-Zonen, Boote in Seenot etc. werden räumlich zugeordnet und so sichtbar gemacht. Die beiden Doktoranden, Charles Heller und Lorenzo Pezzani, greifen auf verschiedenste Informationsquellen zurück – darunter auch Winde, Meeresströme sowie Daten, die sie durch Interviews mit Migrant_Innen sammeln. Ihre Hoffnung ist, diejenigen zu finden, die für Vorfälle wie das ‚left-to-die boat’ verantwortlich sind – auf diesem waren letztes Jahr 63 Menschen ums Leben gekommen, während sie zwei Wochen auf See trieben. Auf ihre Notrufe war nicht reagiert worden und Boote, in deren Nähe sie getrieben wurden, halfen nicht. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich während die Boats4People-Reise stattfand vor der tunesischen Küste: 54 Menschen starben, während sie zwei Wochen auf See trieben. Die Hoffnung von Charles Heller, Lorenzo Pezzani und Boats4People ist, irgendwann einmal mit WatchTheMed fast in Echtzeit Informationen verarbeiten zu können, die durch facebook, twitter, oder via SMS übermittelt werden – so könnten zuständige Behörden unter Druck gesetzt werden, die Boote in Seenot rechtzeitig zu retten.

Fragen

Obwohl ich Begegnungen und Diskussionen innerhalb und außerhalb des von Boats4People schätzte, frage ich mich was die Auswirkungen des Projekts sein werden. Und ob diese nicht weitreichender hätten sein können, wenn einige Entscheidungen anders getroffen worden wären. Vielleicht auch wenn das Projektziel für Teilnehmer und Planer klarer gewesen wäre: war das Ziel, ein transnationales Netzwerk aufzubauen und zu stabilisieren oder aber das Schaffen von Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit? War die Absicht, nach Innen zu arbeiten und gemeinsames Verständnis innerhalb der Bewegung aufzubauen oder war der Fokus vielmehr nach Außen gerichtet, um Druck für politischen Wandel zu schaffen? Inwiefern können gleichberechtigter, transnationaler Aktivismus und Kooperation Realität werden? Ich empfand uns Europäer oftmals sowohl in Teilnehmerzahlen als auch in der thematischen Richtungsgebung von Diskussionen als dominant. Und wo ist eine solche Form des transnationalen Aktivismus mit gemeinsamer Reisegruppe notwendig und wichtig? Wo wäre es potenziell effektiver, Energien auf diejenigen zu fokussieren, die einen gewissen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen haben –was ja den Informationsaustausch und die Unterstützung über Ländergrenzen hinweg nicht ausschließt? Wie können wir jederzeit und unter allen Bedingungen sicherstellen, dass unsere Aktionen und unser Aktivismus nicht diejenigen, die wir unterstützen möchten, Risiken aussetzen oder ihnen gar psychologischen, physischen oder emotionalen Schaden zufügen?
Mir fällt es schwer zu sagen, ob Boats4People ein Erfolg war – und die Meinungen der Teilnehmer diesbezüglich gingen weit auseinander. Teilweise ist das so, weil ich an der Organisation der Reise nicht beteiligt war und nur wenig darüber weiß, welche Überlegungen und Schwierigkeiten es im Vorfeld gegeben hat. Teilweise es das so, weil es wichtig ist, dass das Projekt überhaupt stattgefunden hat – trotz vielseitiger Kritik daran, wie es sich gestaltet und entwickelt hat. Es war wichtig, dass Netzwerke zwischen Europäern und Afrikanern aufgebaut und intensiviert wurden, die für das gleiche Ziel kämpfen: Bewegungsfreiheit. Und es gab beeindruckende Momente während dieser Reise, zum Beispiel auf der kommerziellen Fähre zwischen Palermo und Tunis, auf der wir mit den Passagieren in Kontakt traten, ihnen Flyer gaben und sie einluden, an einer Assemblea an Deck teilzunehmen. Viele kamen und tauschten sich mit uns und untereinander aus: sie hörten zu und teilten ihre eigenen Erfahrungen mit Migrationskontrollen. Entgegen meiner Erwartungen ließ die italienische Crew des Schiffs uns gewähren und äußerte sich unterstützend gegenüber dem Projekt und unseren Aktivitäten. Viele vorher unbeteiligte Reisende beschlossen zu kommen, sich anzuschließen, zuzuhören und zu sprechen.
Hat Boats4People mit dieser Aktion Einfluss nehmen können auf EU-Politiken? Vermutlich nicht – ich bin mir nicht einmal sicher, dass viele EU-Politiker überhaupt bemerkten, dass die Reise stattfand. Den meisten Teilnehmern war jedoch klar, dass diese Fahrt nur der Auftakt von Boats4People sein würde. Neue Ideen und Pläne wurden in Tunesien geschmiedet und Verbindungen zwischen existierenden Projekten und Gruppen wurden gestärkt. Das enorm wichtige WatchTheMed-Projekt wird hoffentlich weiter wachsen und andere Aktionen werden folgen. Die B4P-Reise war vielleicht nicht der perfekte erste Schritt. Aber sie war ein erster Schritt.

  1. Siehe Archipel Nr. 199.
  2. <http://boats4people.org>
  3. Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen der EU-Mitgliedstaaten.
  4. Überwachung des Mittelmeeres:
    <http://watchthemed.crowdmap.com>.