GRIECHENLAND: «Lass niemanden allein in der Krise!»

von Alex Benos, Arzt, Mai 2013, Thessaloniki, 31.07.2013, Veröffentlicht in Archipel 217

Wie in der letzten Nummer des Archipels berichtet, reisten wir vor kurzem nach Griechenland, wo wir unter anderem das Solidarische Medizinische Zentrum in Thessaloniki besuchten. Alex Benos, Arzt und Universitätsprofessor, führte uns durch das Zentrum. Wir bringen hier Auszüge seiner Ausführungen, die wir für Radio Zinzine* aufgenommen haben.

Hilfe für Mittellose

Wir sind, nach Kreta, das zweite Solidarische Medizinische Zentrum, das in Griechenland gegründet wurde. Im Jahr 2011, gab es eine große Bewegung von papierlosen Migrant_innen, die einen sehr harten Hungerstreik durchführten. Für Griechenland war das außergewöhnlich. Nach einem Monat verschlechterte sich der zustand der Streikenden sehr.. Also haben wir hier in Thessaloniki und auch in Athen, solidarische medizinische Versorgungsgruppen gebildet, um diese Migrant_innen zu begleiten. Der Streik wurde erfolgreich beendet und wir haben uns daraufhin gesagt, dass das eine gute Erfahrung für uns alle war und dass wir auch weiterhin für Behandlungen so zusammen arbeiten könnten. So kam uns die Idee, eine solidarische Klinik für Papierlose und andere, die in den Krankenhäuser und öffentlichen medizinischen Einrichtungen nicht akzeptiert werden, in Thessaloniki aufbauen!

Am Anfang war das also, um den Migrant_innen diese Möglichkeit zu geben und heute sind, wegen der Krise, 70% unserer Patienten Griech_innen.
In Griechenland ist der Zugang zu medizinischer Hilfe direkt verbunden mit der Tatsache, eine Arbeit zu haben. Wenn du arbeitest, bist du krankenversichert. Wenn du nicht arbeitest, hast du überhaupt keine Sozialversicherung. Arbeitslose haben keinen Zugang zum Gesundheitswesen, es gibt keine Mindestversicherung. Es gab eine vor der Krise, aber die wurde abgeschafft.

Medikamente

Also, um unsere Führung anzufangen: Hier ist die Apotheke. Es ist wirklich interessant, am Anfang haben wir einen Aufruf gemacht, dass wir Medikamente brauchen, und inzwischen haben wir einen Überschuss. Hier seht Ihr nur einen Teil, wir haben noch ganze Räume voll. Das sind nicht sehr teure Medikamente, die die Leute uns geben, weil sie sie nicht mehr brauchen. Wir haben ein Netzwerk von solidarischen Apotheken in der Stadt, die das kleine Plakat mit unserem Logo haben, wo die Leute ihre Medikamente abgeben können. Diese können wir also gratis verschreiben. Die teuren Medikamente, z.B. die gegen Krebs oder Impfungen für Kinder, müssen wir kaufen. Dafür müssen wir das nötige Geld auftreiben. Wir organisieren viele lokale, nationale und internationale kulturelle Aktivitäten mit Spendenaufrufen. Vor kurzem haben wir das Projekt in Berlin und dann in Wien vorgestellt. Wir haben auch einen Kalender gemacht, den wir für 10 € verkaufen – das bringt viel ein!

Wie wir funktionieren

Der Kern der Leute, die regelmäßig unentgeltlich hier arbeiten, besteht aus ungefähr 80 Ärzt_inn_en, Krankenschwestern und Pflegepersonal. Wir kommen natürlich alle außerhalb unserer regulären Arbeitszeiten. Von Anfang an waren mehrer Berufe hier vertreten; es gibt ein größeres Netzwerk von Mitarbeiter_innen und Mitarbeitern, z.B. Lehrer_innen, rund um das Zentrum. Wir arbeiten in direkter Demokratie, mit Generalversammlungen und wir entscheiden alles gemeinsam, alle sind gleichberechtigt – es gibt keine Leitung.
Wir haben verschiedene Abteilungen, wie z.B. die Zahnarztpraxis mit vielen Zahnärzt_inn_en. Das ist wichtig, weil es in Griechenland nie einen öffentlichen zahnärztlichen Dienst gab und zum Zahnarzt gehen ist teuer.
Dann gibt es die Generalmedizin. Neben der Praxis hier, haben wir ein Netzwerk von solidarischen Ärzt_inn_en, aufgebaut, die nicht ins Zentrum kommen, denen wir aber fünf Patienten pro Woche in ihre Klinik schicken können, die nicht zahlen müssen. Die privaten Labors nehmen auf dieselbe Weise teil und machen umsonst Analysen. Es gibt auch einen psychiatrischen Dienst, der sehr wichtig ist, da sehr viele Menschen durch die Krise traumatisiert sind. Die Leute mit den größten Problemen sind die Kleinbürger_innen, die in einer ziemlich stabilen Situation gelebt haben und plötzlich bricht das alles zusammen. Mit den ärmeren Schichten haben wir weniger psychiatrische Probleme, weil sie diese Art von schwieriger Situation bereits kennen. Dann gibt es noch die Kinder- und die Nervenheilabteilung…
Hier organisieren wir also die ersten notwendigen Gratisbehandlungen. Wenn jemand aber operiert werden muss oder sonst eine komplizierte Behandlung in einem Krankenhaus braucht, wie z.B. einen Scanner, gehen wir mit einer ganzen Gruppe in ein Krankenhaus, wie eine Demonstration mit unserer Banderole «Gesundheit ist Bürgerrecht» und fordern vom Direktor, dass die Patientin oder der Patient umsonst operiert wird. Bisher hatten wir immer Erfolg, da wir mit den Medien hingegangen sind und viel Lärm gemacht haben; und welcher Direktor kann behaupten, ein Patient, sei ihm egal, nur weil er kein Geld hat?

Die Gesundheit

Wir nehmen auch an verschiedenen Kämpfen teil, wie dem gegen das Goldminenprojekt in der Region von Halkidiki, im Osten von Thessaloniki, das unselige Folgen für die allgemeine Gesundheit hätte. Ein anderer Aspekt der Bürgerbewegungen in Griechenland seit Beginn der Krise ist das Bemühen zahlreicher Vereine, Verbindungen zwischen Produzenten und Konsumenten herzustellen, damit man günstig an gute Nahrungsmittel kommen kann. An der Universität gibt es z.B. jetzt jeden Freitag einen Bio-Markt. Für Griechenland ist das neu – wir müssen die Bedeutung der Ernährung für die Gesundheit bekannter machen!
Die Krise hat ernsthafte Konsequenzen auf die Gesundheit. Mit der Zerstörung des täglichen Lebens, der Arbeitslosigkeit, und die Verschlechterung der sozial-ökonomischen Situation eines Großteils der Bevölkerung, leben die Menschen schlecht; also haben wir immer mehr gesundheitliche Probleme. Schon letztes Jahr wurden z.B. viele Kinder in der Grundschule ohnmächtig, weil man ihnen zu Hause kein Frühstück geben konnte. Also haben die Eltern gemeinsam eine Solidaritätskampagne ins Leben gerufen, um eine solidarische Küche für alle Kinder in der Schule zu betreiben, damit kein Kind benachteiligt wird.
Man muss auch sagen, dass die Selbstmordrate in letzter Zeit enorm gestiegen ist. In den meisten Fällen hängt das zusammen mit der brutalen Zerstörung des Lebensstandards. Die Leute sind plötzlich vollkommen verschuldet und erleben gleichzeitig den Zusammenbruch eines ganzen Wertesystems. Vor kurzem mussten wir auch eine Steigerung der Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr feststellen. Das widerspiegelt insbesondere die sozial-ökonomischen Lebensbedingungen einer Familie: heute lebt ein großer Teil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Auch die Lebenserwartung sinkt jetzt mit der Abschaffung der Pensionsgehälter.
Ein Teil der traditionellen Linken kritisiert uns, weil sie finden, dass wir dabei sind, die Rolle des Staates einzunehmen, dessen Aufgabe es doch wäre, sich um medizinische Versorgung zu kümmern. Wir antworten darauf, dass wir sicherlich weder an die Stelle des Staates treten wollen noch können, dass es in Krisenzeiten jedoch wesentlich ist, solidarisches Denken und Handeln zu fördern, weil sonst Individualismus und Faschismus Überhand nehmen – das ist eine echte Gefahr. Unser Leitspruch ist: «Lass niemanden allein in der Krise.» Man muss gegen die Ursachen der Krise kämpfen, auf die Demonstrationen gehen, aber wenn jemand am Rücken Schmerzen hat, muss man sich auch darum kümmern.
* freier unkommerzieller Radiosender in Südfrankreich, www.radiozinzine.org