HAITI: Der weiße Fluch

von Eduardo Galeano, 22.06.2004, Veröffentlicht in Archipel 116

Am ersten Tag dieses Jahres wurde der zweihundertste Jahrestag der Freiheit gefeiert. Niemand hat es bemerkt, oder beinahe. Einige Tage später stand Haiti, das Geburtstagskind, in allen Medien. Nicht aufgrund des Jahrestages der universellen Freiheit, sondern wegen eines Blutbads, das zum Sturz des Präsidenten Aristide führte.

Haiti war das erste Land, in dem die Sklaverei abgeschafft wurde. Die bekanntesten Enzyklopädien und die meisten Lehrtexte schreiben England diese historische Ehre zu. Es stimmt, dass das Königreich eines Tages eine Kehrtwendung gemacht hat, auch wenn es Weltmeister im Sklavenhandel war. Die Abschaffung durch die Briten geschah 1807, drei Jahre nach der Revolution von Haiti, und war so wenig überzeugend, dass England 1832 die Sklaverei noch einmal verbieten musste. Die Negation Haitis ist nichts Neues. Seit zwei Jahrhunderten leidet die Insel unter Missachtung und Bestrafung. Der Amerikaner Thomas Jefferson, Freiheitsheld und selbst Sklavenhalter, sagte, Haiti gebe ein schlechtes Beispiel, und man müsse «die Pest auf diese Insel verbannen». Sein Land hat auf ihn gehört. Die USA warteten 60 Jahre, um die freieste aller Nationen diplomatisch anzuerkennen. Inzwischen kam in Brasilien der Begriff «Haitinianismus» auf, wenn es um Unordnung und Gewalt ging. Die Sklavenhalter wurden dort bis 1988 vom «Haitianismus» verschont. Erst in diesem Jahr schuf Brasilien die Sklaverei ab. Es war damit das letzte Land auf der Welt.

Haiti verschwand wieder von der Bildfläche, bis zum nächsten Blutbad. Zu Beginn dieses Jahres berichteten die Medien nur von Konfusion und Gewalt und bestätigten, dass die Haitianer geboren seien, um Schlechtes zu tun oder um das Gute schlecht zu machen. Seit der Revolution ereignete sich in Haiti eine Tragödie nach der anderen. Es war eine glückliche, blühende Kolonie und jetzt ist es die ärmste Nation der westlichen Hemisphäre. Spezialisten schlossen daraus, dass Revolutionen in den Abgrund führen. Gewisse Kommentatoren haben gesagt, andere haben angedeutet, dass die hatitianische Tendenz zum Brudermord ein Erbe des wilden Afrika sei. Ein Gebot der Vorfahren. Der schwarze Fluch, der zu Verbrechen und Chaos treibt. Vom weißen Fluch spricht niemand.

Die Französische Revolution schuf die Sklaverei ab, doch Napoleon führte sie wieder ein:

  • «Welches war das beste Regime für die Kolonien?

  • Das vorhergehende.

  • Es sei also wieder hergestellt.»

Um die Sklaverei wieder einzuführen, entsandte er über 50 Schiffe voll mit Soldaten. Die aufständischen Schwarzen besiegten die Franzosen und erkämpften die nationale Unabhängigkeit sowie die Befreiung der Sklaven. 1804 standen sie vor einem Land, das durch die Zuckerplantagen ausgelaugt und von einem wilden Krieg verwüstet war. Und sie erbten die «französischen Schulden». Frankreich ließ sich die Demütigung von Napoleon teuer bezahlen. Kaum geboren musste Haiti sich zur Zahlung von riesigen Entschädigungssummen verpflichten - für die Schäden, die bei der Befreiung der Insel angerichtet worden waren. Die Sühne für die Sünde der Freiheit kostete das Land 150 Millionen Gold-Francs. Das neue Land kam mit einer Schnur um den Hals zur Welt: Eine Schuld, die heute 21.700 Millionen Dollar wert wäre oder 44 Budgets des heutigen Haiti. Es brauchte weit mehr als ein Jahrhundert, um die durch die Zinsen wachsenden Schulden zurückzuzahlen. 1938 wurde endlich die Erlösung gefeiert. Aber Haiti gehörte bereits den amerikanischen Banken.

Im Gegenzug anerkannte Frankreich offiziell die neue Nation. Kein anderes Land hat sie anerkannt. Haiti war zur Einsamkeit verdammt geboren.

Auch Simon Bolivar hat sie nicht anerkannt, obwohl er ihr alles verdankt. Haiti gab ihm 1816 Schiffe, Waffen und Soldaten, als er besiegt auf der Insel ankam und um Schutz und Hilfe bat. Haiti gab ihm alles, unter der einzigen Bedingung, die Sklaven zu befreien, eine Idee, die ihm damals noch nicht gekommen war. Anschließend triumphierte der große Mann in seinem Unabhängigkeitskrieg und gab seiner Dankbarkeit Ausdruck, indem er ein Schwert als Geschenk nach Port-au-Prince schickte. Von Anerkennung war nicht die Rede.

In den spanischen Kolonien, die unabhängige Länder geworden waren, gab es weiterhin Sklaven, sogar in jenen, wo dies durch das Gesetz verboten war. Bolivar erließ diesbezüglich 1821 ein Dekret, doch die Realität hat es nicht zur Kenntnis genommen. Dreißig Jahre später, 1851, schuf Kolumbien die Sklaverei ab, Venezuela im Jahr 1854.

1915 landeten die Marines in Haiti. Sie blieben 19 Jahre lang. Sie okkupierten die Zoll- und die Steuerbüros. Die Besatzungsarmee enthielt dem Präsidenten von Haiti so lange sein Gehalt vor, bis er die Liquidierung der Nationalbank unterschrieb, die somit zu einer Filiale der Citibank von New York wurde. Der Präsident und alle anderen Schwarzen durften keine Hotels, keine Restaurants und Klubs betreten, die der Fremdmacht vorbehalten waren. Die Besetzer wagten es nicht, die Sklaverei wieder einzuführen, aber sie setzten die Zwangsarbeit im Straßenbau durch. Und sie töteten viel. Es war nicht leicht, das Feuer der Revolte zu löschen. Der Anführer der Partisanen, Charlemagne Péralte, wurde auf eine Tür genagelt und so auf einem öffentlichen Platz vorgezeigt.

Die zivilisatorische Mission war 1934 abgeschlossen. Die Besetzer zogen ab und hinterließen eine von ihnen fabrizierte Nationalgarde, um jeden möglichen Funken von Demokratie auszulöschen. Dasselbe taten sie in Nicaragua und in der Dominikanischen Republik. Einige Zeit später wurde Duvalier zum Pendant von Somoza und Trujillo.

Von Diktatur zu Diktatur, von Versprechen zu Verrat, gingen die Jahre vorüber. Aristide, der rebellische Priester, wurde 1991 Präsident. Das dauerte einige Monate. Die Regierung der USA halfen mit, ihn zu stürzen, sie nahmen ihn, unterzogen ihn einer Spezialbehandlung und setzten ihn wieder als Präsidenten ein, unter dem Schutz der Marines . Sie haben noch einmal mitgeholfen, ihn zu demolieren, jetzt, im Jahr 2004. Einmal mehr hat ein Massaker stattgefunden. Einmal mehr sind die Marines gekommen, sie kommen immer wieder, wie die Grippe.

Doch die internationalen Experten sind noch verheerender als die Besatzungstruppen. Unter dem Druck von Weltbank und Internationalem Währungsfonds befolgte Haiti stillschweigend ihre Instruktionen. Sie vergalten es dem Land, indem sie ihm Brot und Salz verweigerten. Sie haben die Kredite eingefroren, obwohl der Staat aufgelöst und die Zollbarrieren und Subventionen, welche die nationale Produktion schützten, aufgehoben wurden. Die Reisbauern, die in der Mehrheit waren, verwandelten sich in Bettler. Viele stürzen sich in die Tiefen des karibischen Ozeans, doch diese Schiffbrüchigen sind keine Kubaner und nur sehr selten in den Medien zu sehen.

Jetzt importiert Haiti den Reis aus den USA, wo die internationalen Experten, die sehr zerstreute Leute sind, vergessen haben, Zollbarrieren und Subventionen zum Schutz der nationalen Produktion zu verbieten.

Dort, wo die Dominikanische Republik aufhört und Haiti anfängt, steht ein großes Schild mit einer Warnung: El mal paso – der böse Übergang. Auf der anderen Seite ist die schwarze Hölle. Blut und Hunger, Misere, Pest.

In dieser so gefürchteten Hölle sind alle Bildhauer. Die Haitianer haben die Gewohnheit, auf Müllhalden Konservendosen und Alteisen einzusammeln. Mit althergebrachter Fertigkeit schneiden und hämmern sie und schaffen wunderbare Gegenstände, die sie auf den Märkten feilbieten.

Haiti ist ein Land, das auf die Müllhalde geworden wurde, als ewige Strafe für seine Würde. Dort liegt es, als wäre es Alteisen. Und wartet auf die Hände seiner Leute.

Eduardo Galeano

  1. April 2004

Quelle: Patria Grande, www.patriagrande.net

Französische Übersetzung:R U S S L A N D www.elcorreo.eu.org

Deutsche Übersetzung: Archipel