INTERVIEW AKTUELL: Das fremdenfeindliche Erbe

von Interview: Marc-André Miserez, 27.11.2006, Veröffentlicht in Archipel 143

Für den Historiker Hans-Ulrich Jost haben die Abstimmungen über das Asyl- und Ausländerrecht eine Konstante der Schweizer Politik wieder ans Licht gebracht: Den Fremdenhass. Wir geben hier ein Interview wieder, welches die Agentur Swissinfo mit ihm gemacht hat.

Zeigen die Abstimmungsergebnisse, dass der Kurs des rechten SVP-Flügels in der ganzen Schweiz dominiert?

Hans-Ulrich Jost: Die SVP wertet - mit einer modernen Strategie von Polit-Management - lediglich das alte Erbe der Schweiz wieder auf, die Xenophobie. Fremdenhass wird kombiniert mit einigen aktuellen Problemen, etwa der Globalisierung, Modernisierungsängsten oder den steigenden Kosten im Gesundheitswesen.

Verfügt die Schweiz wirklich über ein xenophobes Erbe?

H.-U. J.: Um es ganz simpel zu sagen: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Schweiz zwei oder drei konstante Parameter ihrer Politik. Eine dieser Konstanten ist der Fremdenhass. Die Situation ist wie vor Beginn des Ersten Weltkriegs, als sich die Ausländerfrage stellte, und schlimmer noch, Menschen aus bestimmten Regionen ausgeschafft wurden. Beispielsweise die «Zigeuner», die in einem offiziellen Dokument als «Plage» bezeichnet worden waren. Von da an verschwand die Thematik nie mehr. Sie wurde von Zeit zu Zeit von der rechten oder rechtsextremen Seite aufgegriffen, und heute hat man dieses sehr klare Verdikt. Der humanitäre Schleier, hinter dem wir uns immer versteckt haben, ist zerrissen.

Aber alle berufen sich doch auf diese humanitäre Tradition der Schweiz. Sogar die Gewinner der Abstimmung versichern, dass diese nicht angetastet wird. Eine Illusion?

H.-U. J.: Keine Illusion, aber man muss sie relativieren. Sogar eine grosse konservative deutsche Zeitung hat kürzlich ganz klar geschrieben, dass unsere humanitäre Tradition nur so lange gelte, wie sie den Interessen des Landes diene und den eigenen Egoismus nicht tangiere. Das war schon zu Zeiten der Hugenotten so. Man hat diese protestantischen Flüchtlinge aus Frankreich bei uns akzeptiert, aber mit Vorbehalt, und man hat sie aufgefordert, so rasch als möglich wieder zu gehen.

Die SVP hat bereits angekündigt, die Schraube gegen Ausländer weiter anzuziehen. Wird sich die Welle des Fremdenhasses, die Sie feststellen, noch verstärken?

H.-U. J.: Sie dauert schon mindestens 100 Jahre, und ich bin überzeugt, dass sie anhält. Denn offenbar handelt es sich um eine Mentalität, die sich im Land stark verankert hat. Und da es die SVP nur auf Wählerstimmen abgesehen hat, wird sie dieses Terrain so lange bearbeiten, wie es ihr neue Wähler bringt.

Auch die Nachbarländer tendieren zu Verschärfungen ihrer Ausländerpolitik. Sehen Sie diesbezüglich Besonderheiten der Schweiz?

H.-U. J.: Nein, es gibt keine Besonderheiten, ausser der, dass man viel heuchlerischer ist. Man ist immer bemüht, eine Art Diskurs über die humanitäre Tradition aufrecht zu erhalten, vorzugeben, dass die Schweiz eine Art Unbeflecktheit besitzt, und dass sie demnach nicht in die Tiefen einer moralischen Degeneration fallen könne. Aber man vergisst, dass dies bereits geschehen ist. Am stärksten gezeigt hat dies die Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges.

Interview:

Marc-André Miserez

Der gebürtige Seeländer doktorierte an der Universität Bern in Geschichte und Philosophie. 1981 wurde er Professor für neueste Geschichte an der Universität Lausanne. Er gehört zu denjenigen Historikern, welche die Schweiz zu einer realistischeren Sicht auf die Vergangenheit bewegen wollen, nämlich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs.