ITALIEN: 150 Jahre Haft gegen die TAV-Gegner_innen

von Joëlle Meunier*, 30.03.2015, Veröffentlicht in Archipel 235

Siebenundvierzig Gegner_innen der Hochgeschwindigkeits-Zuglinie Lyon-Turin sind am 27. Januar 2015 vom Gericht in Turin wegen der Zusammenstösse mit der Polizei im Jahr 2011 zu Gefängnisstrafen verurteilt worden.1

Sechs weitere Aktivist_innen wurden freigesprochen. Insgesamt hat das Gericht 193 Jahre Gefängnis gegen die gesamte Gruppe der Gegner_innen verhängt. Bei der Verkündung des Urteils haben die Angeklagten lauthals protestiert und geschrien: «Sie werden uns mit dieser Verurteilung nicht beerdigen!» Im Juni und Juli 2011 standen sich auf der Baustelle des TAV2 in Chiomonte im Susatal, einem italienischen Alpental, etwa 50 km von Turin entfernt, Hunderte vermummter Demonst-rant_innen aus dem ganzen Land und die Polizei gegenüber. Im Dezember 2014 sind bereits vier Gegner_innen vom Gericht in Turin zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Bei jedem Gerichtsfall ging es darum, dass die Absperrungen zerschnitten worden sind oder die Zufahrt zur Baustelle blockiert wurde, sowie die dorthin beorderten Ordnungskräfte mit Molotow-Cocktails und selbstgebastelten Spreng-körpern beworfen wurden.
Ein Schriftsteller vor Gericht Der italienische Autor Erri de Luca3, der sich auf die Seite der TAV-Gegner_innen stellte, war ebenfalls angeklagt. In einem Interview im Jahr 2013 hat er für Sabotage an der Hochgeschwindigkeits-Zuglinie plädiert. «Diese Berge, die für eine Bahnlinie durchbohrt werden, sind voller Asbest», erklärte er. Im kleinen Gerichtssaal kamen rund 20 Personen zur Unterstützung des Autors zusammen. Sie halten diese Baustelle für umweltschädlich und für viel zu teuer. Einige hielten Schilder hoch, auf denen stand: «Ich bin Erri.» Gleich am Anfang der Verhandlung bekräftigte der Staatsanwalt Andrea Beconi, dass es seiner Ansicht nach eindeutig sei, auf was Erri de Luca mit dem Ausdruck «Sabotage» hingezielt hat, nämlich auf die Anstiftung zur Sachbeschädigung. Er spielte damit auf Aussagen Erris an, der behauptete, dass mit Sabotage nicht nur materielle Zerstörung gemeint sein kann. Der Autor erklärt: «Zum Beispiel ein Streik, vor allem ein wilder Streik, ohne Ankündigung, sabotiert die Produktion von Waren oder Dienstleistungen.» In einem Interview mit dem italienischen Fernsehen fügte er hinzu: «Wenn diese Worte als Verbrechen angesehen werden, dann werde ich es weiterhin begehen und mich dazu bekennen. Sie können meinen Körper einsperren, aber diese Worte können sie nicht in Handschellen legen, denn dies sind nicht nur meine Worte, sondern die einer ganzen Gemeinschaft, die sich im Kampf befindet.»
Für Alberto Mittone, Anwalt des französisch-italienischen Unternehmens, das die Bahnlinie baut und am Ursprung der Anklage steht, «können Delikte sowohl mit Worten als auch mit Taten begangen werden». Mittone liess sich lange über De Luca aus. Als Autor und Aktivist der linksradikalen Szene hätten dessen Worte eine besonders starke psychologische Wirkung. «Zeigt mir die Leute, die ich zur Sabotage und zu Verbrechen angestiftet habe, zeigt sie mir!» rief De Luca den vielen Journalist_innen zu, die zum Prozess gekommen waren. Er riskiert für ein bis fünf Jahre hinter Gitter zu kommen und hat bereits angekündigt, dass er gegen das Urteil nicht Berufung einlegen wird.
Am 21. Februar 2015 demonstrierten dann die Bürgermeister und die Regionalregierung des Susatals zusammen mit der No-TAV-Bewegung in Turin, um ihre gemeinsame Haltung kundzutun. Übrigens hat die Europäische Anti-Betrugsbehörde ein Ermittlungsverfahren wegen «allfälligen mafiösen Verstrickungen auf der Baustelle» eröffnet.

* Die Informationen zu diesem Artikel wurden der Internetseite notavfrance.noblogs.org entnommen.1. Siehe auch Archipel Nr. 229 vom September 2014: Das Susatal hat keine Angst

  1. Siehe auch Archipel Nr. 229 vom September 2014: Das Susatal hat keine Angst
  2. TAV = Treni ad Alta Velocita. Informationen über die No-TAV-Bewegung: notavfrance.noblogs.org
  3. Autor von unter anderem La parole contraire, ein Werk, in dem ein alter Arbeiter auf seiner Freiheit sich auszudrücken beharrt, indem er explizit das Verb «sabotieren» benutzt. Das Buch gibt es in französischer und italienischer Sprache.