KOMMENTAR : Bolivien, Bush und Lateinamerika

17.02.2004, Veröffentlicht in Archipel 112

Über den Aufstand in Bolivien, der einen Präsidenten sein Amt kostete, ist in nordamerikanischen und europäischen Zeitungen ungewöhnlich breit berichtet worden. In gewisser Weise überrascht dies, denn selbst in den besten Zeitungen werden Länder wie Bolivien in der Regel ausgeblendet oder finden allenfalls untergeordnete Berichterstattung.

Vielleicht handelt es sich hier nur um die Auswirkungen einer Häufung von Ereignissen während der zurückliegenden zwei Jahre, in denen sich der Wandel der politischen Strukturen Lateinamerikas wiederspiegelt.

Möglicherweise rückt Lateinamerika aber wieder in den Brennpunkt der Weltpolitik.

Während der 60er Jahre begegenete man in Lateinamerika dem Thema "Revolution" überall. Kuba wurde zum Symbol für den Marsch zum Sozialismus. Che Guevara versinnbildlichte und praktizierte einen Ansatz, der "focoismo" genannt wurde, "Revolution innerhalb der Revolution", ein Weg, auf dem Guevara den Tod fand - in Bolivien. "Abhängigkeit" lautete der neue Slogan der lateinamerikanischen Intellektuellen, ein Konzept, das sich aus dem Bild von Kern und Peripherie sowie aus dem "desarrolismo" (der "Entwicklungstheorie") herleitete, wie er von Raul Prebisch und dem Wirtschaftsausschuss der Vereinten Nationen für Lateinamerika zuerst entwickelt worden war. Jene Intellektuellen stellten sich erstmals den kommunistischen Parteien Lateinamerikas offen entgegen. Sie betrachteten diese als reformistische, anti-revolutionäre de-facto-Kollaborateure mit den Vereinigten Staaten und dem Weltkapitalismus. In einer ganzen Reihe von Ländern traten Guerilla-Bewegungen auf die Bildfläche, und sie erschienen sehr stark. In Chile wurde Salvador Allende auf der Grundlage eines Programms des Übergangs zum Sozialismus gewählt.

Militärdiktaturen

Von da an setzten die Vereinigten Staaten, um die Flutwelle einzudämmen, auf die militärische Übernahme einiger Regimes: Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay. Die revolutionäre Welle ebbte in den 70er Jahren ab; die Sandinistas in Nicaragua sind jedoch als ein letzter Schub nach vorn zu betrachten. In den 80er Jahren begann Lateinamerika für die weltwirtschaftliche Stagnation zu zahlen. Mexiko führte den lateinamerikanischen Reigen an, als sich 1982 dort der Vorhang für die "Schuldenkrise" hob (obwohl streng genommen Polen diesbezüglich schon 1980 das Rennen um den Platz Nummer Eins in der Welt für sich entschieden hatte).

Die 80er Jahre sind Schauplatz einer Absetzbewegung von der Entwicklungspolitik und zugleich eines neuen Vorschubs in Richtung "Demokratie", d.h. einer auf Wahlen gestützten Politik, im ganzen aber einer Beruhigung der Gewässer. Im Grunde gaben die verschiedenen Guerilla-Bewegungen Mittelamerikas auf und erhielten dafür zur Wahrung ihres Gesichts (Wieder-) Beteiligungsrechte bei parlamentarischen Wahlen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der verschiedenen Ausprägungen des Kommunismus in Ost-Europa desorientierte einen großen Teil der amerikanischen Linken und nahm ihm die Waffen.

Die 90er Jahre gaben den Vereinigten Staaten das Gefühl, in Lateinamerika mit bequemen Spielräumen operieren zu können. Mexiko erklärte sein Einverständnis, sich der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) anzuschließen. Endlich, nach einem halben Jahrhundert der Einparteiregierung zu Händen des Partido Revolucionario Institucional (PRI), wählte Mexiko Vicente Fox zum Präsidenten, den Chef einer konservativen, auf Freihandel orientierten, pro-nordamerikanischen Partei.

Gewiss, sogleich nach der Unterzeichnung des NAFTA-Vertrags, erlebte Mexiko die Entstehung und Stabilisierung eines auffälligen neuen Typs sozio-politischer Bewegung, nämlich den der Zapatistas in Chiapas, die sich die Verteidigung der Interessen der unterdrückten indianischen Bevölkerung zum Ziel gesetzt hatten. Sie aktivierten weltweit Aufmerksamkeit und Unterstützung in bemerkenswertem Ausmaß. Die Vereinigten Staaten hingegen schenkten ihnen praktisch keine Beachtung - möglicher-weise deshalb, weil die Zapatistas ihr Desinteresse an der Übernahme von Staatsmacht verkündeten.

Freier Handel

Nun gingen die Vereinigten Staaten dazu über, den Plan eines Freihandelsbündnisses der Amerikas (FTAA oder ALCA) zu propagieren, und gewannen Chile dafür, als erstes Land seine Signatur unter ein bilaterales Vertragswerk solcher Bestimmung zu setzen.

Danach ließ sich in Lateinamerika ein feines Donnerrollen der politischen Unzufriedenheit vernehmen. Die Art und Weise, in der es sich äußerte, unterschied sich in Ecuador, Peru, Venezuela, Brasilien und Argentinien im Einzelnen. In einer Eigentümlichkeit stimmten jedoch alle überein. Die Unzufriedenheit wurzelte bei den Bevölkerungen der Indios (oder Mestizen) sowie bei den gewerkschaftlich organisierten und in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsteilen.

Hingegen waren die Mittelschichten vergleichsweise desorientiert und verunsichert bezüglich ihrer Interessenslage. In keinem dieser Fälle kam eine Regierung an die Macht, die nach den Normen der 60er Jahre "revolutionär" war. In allen Fällen aber formierte sich mehr oder weniger offene Opposition gegen die Diktate des Internationalen Währungsfonds (IMF) und gegen die Herausbildung der FTAA. Immer waren die Vereinigten Staaten wenig glücklich, erschienen jedoch unfähig, die Lage so direkt und schnell zu beeinflussen, wie in den 70er Jahren. Es gab keinen Staatsstreich à la Pinochet.

Bolivien

Dies ist der Hintergrund für Bolivien, das vielleicht ärm-ste Land Südamerikas. Bolivien war im Grunde der Pionier der voraufgegangenen "revolutionären" Welle in Lateinamerika. Eine Revolution im Jahr 1952 führte zur Verstaatlichung der Zinn-Bergwerke. Die Revolution stand unter der Führung des Central Obrero Boliviano (COB), Organisator der Zinn-Bergleute, die in der Mehrzahl Indios waren. Diese Revolution schockierte die Vereinigten Staaten schrecklich, denn es vereinte sich in ihr gewerkschaftliche Kampfbereitschaft mit Ansprüchen der indianischen Mehrheit auf eine politische Rolle im Staat. Fünf Jahre waren nötig, um die Sache einzudämmen. Als die Nachfrage nach Zinn auf dem Weltmarkt zurückging, wandten sich viele der indianischen Produzenten der Herstellung von Coca zu, was ihnen zwar ein Einkommen bescherte, aber ebenso sehr den Zorn der Vereinigten Staaten, die ihren Feldzug gegen Drogen betrieben.

In der jüngsten Wahl trat der Sprecher der Cocaleros, Evo Morales an, der eine Bewegung namens "Movimiento al Socialismo" (MAS) leitet, welche die Unterstützung des COB und der indianischen Bewegungen genoss. Er war nur ganz knapp Gonzalo Sanchez de Lozada unterlegen, einem konservativen Standardkandidaten. Berichten zufolge witzelte Sanchez, als er Bush in Washington traf, er wolle sich wohl wunschgemäß verhalten, jedoch würde, täte er es, Bush ihn bei nächster Gelegenheit vermutlich als politischen Exilanten in den Vereinigten Staaten antreffen. Genau so geschah es.

Als Sanchez anbot, bolivisches Gas billig zu verkaufen und darüberhinaus offerierte, eine Gasleitung zu einem Hafen zu bauen, der einst Bolivien gehört hatte, jedoch im 19. Jahrhundert im Krieg von Chile errungen worden war, da explodierte das Land - allen voran die ungeheuren Slumgebiete von Altiplano, die drohend von oben auf die City der Hauptstadt herunterschauen. Und plötzlich riefen Studenten und Arbeiter, die durch die Straßen marschierten (ebenso wie der COB in einem offiziellen Dokument), das Lob Che Guevaras.

Die Vereinigten Staaten verkündeten, dass sie Sanchez unterstützten, und sie brachten den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten dazu, ein Gleiches zu tun. Der Aufstand war jedoch zu stark gewesen. Der bislang unprofilierte Vizepräsident kündigte die Unterstützung der Regierung auf und ebnete damit den Weg für seine eigene Amtsübernahme. Als Nächstes verlor zu jedermanns Überraschung kurz darauf die konservative Regierung Kolumbiens, des stärksten Verbündeten der Vereinigten Staaten auf dem Kontinent, die Bürgermeisterwahl in Bogota (ebenso wie in Medellin, der zweitgrößen Stadt) an "Lucho" Garzon, einen Gewerkschaftsführer und Ex-Kommunisten. Die Typologie der Unzufriedenheit stimmte in beiden Fällen überein: Folgeschäden des Neoliberalismus und der Forderungen nach Ausrottung der Coca-Pflanzen, wobei im letzteren Fall die Unzufriedenheit mit der harten Verhandlungslinie der Regierung gegenüber der dauerhaft überlebenden Rebellenbewegung FARC hinzutrat. Also: keine "Revolution", aber systematische Geländeverluste für konservative Kräfte und das politische Projekt der Vereinigten Staaten.

Überblick

Versuchen wir einen Überblick der Geschehnisse im Ganzen: In Brasilien gingen "Lula" und der Partido dos Trabalhadores (PT) am Ende siegreich aus einer Präsidentenwahl hervor. In Argentinien, dem Schaufenster des Internationalen Währungsfonds, brachten wirtschaftlicher Zusammenbruch und politischer Aufruhr einen Präsidenten hervor, der dem IWF die Stirn bot, damit davonkam und hierfür schließ-lich mit starker politischer Unterstützung für seine Kandidaten in den wichtigsten Bürgermeisterwahlen belohnt wurde.

Im Jahr 2003 scheiterten die Vereinigten Staaten mit dem Versuch, bei einem kritischen Votum des UN-Sicherheitsrats zum Irak, die Unterstützung eines einzigen der beiden Länder Mexiko oder Chile zu gewinnen. In Cancun lag die Führung des Widerstands gegen die Vereinigten Staaten in den Händen Brasiliens, und dies erfolgreich. Landauf, landab hat sich das Erwachen der indigenen Bevölkerungen gezeigt, die in der größeren Zahl der Länder Lateinamerikas die Mehrheit bilden.

Zwei Erscheinungen, die zusammentraten, haben möglich gemacht, daß diese Woge anschwellen konte: Einerseits verfügen die Vereinigten Staaten nicht mehr über die Macht, Entscheidungen in Lateinamerika zu diktieren, gerade gegenwärtig, während sie im mittelöstlichen militärischen Engagement gebunden sind. Ande-rerseits haben die politischen Führer Lateinamerikas - insbesondere im Feld von Mitte-Links - ihre Lektion gelernt. Diese besagt, dass sie keine großen, schnellen Schritte machen können, dass ihnen aber durchaus mittelgroße möglich sind, und diese wiederum können kumulieren. Lateinamerika ist dabei, aus Schwächeerscheinungen der Vereinigten Staaten Vorteil zu ziehen. Die Kämpfe haben zwei Angelpunkte: Einmal das Ausmaß, in dem indianische und andere, bei den Gewerkschaften und den Landarbeitern beheimatete Bewegungen ihre Dynamik beibehalten und ihren politischen Einfluss vergrössern; zum anderen die Frage, ob die Verhandlungen über die FTAA tatsächlich zusammenbrechen, weil die Vereinigten Staaten sich gegenüber jedem sinnvollen Zugeständnis starr verschließen.

Immanuel Wallerstein

German translation by Daniel von Recklinghausen

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Diese Kommentare erscheinen zweimal monatlich und verstehen sich als Reflektionen über die gegenwärtige Weltlage aus einer längerfristigen, über die Schlagzeilen des Tages hinausreichenden Perspektive.

Fernand Braudel Center, Binghamton University

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Commentary No. 124, Nov. 1, 2003