KOMMENTAR: Homophober Moslem, aufgeklärter Westen

von Georg Klauda*, 11.03.2011, Veröffentlicht in Archipel 190

Im Jahr 2005 legte die baden-württembergische Landesregierung den so genannten Muslim-Test auf, einen Gesprächsleitfaden für die Einbürgerung, der sich speziell an Einwanderer aus islamischen Ländern richtete. Ein Teil dieses Fragebogens zielte darauf ab zu überprüfen, ob der Bewerber willens sei, homosexuellen Lebensweisen die nötige Toleranz entgegenzubringen. Darin schwang die doppelte Unterstellung mit, dass, erstens, die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe ein fester Bestandteil der deutschen Leitkultur wäre und, zweitens, dass muslimische Einwanderer diese Leitkultur potentiell bedrohten.

Um das Groteske dieser Situation auszumalen, kann man gar nicht oft genug darauf hinweisen, dass es ausgerechnet die Autorin dieses Papiers war, die CDU nämlich, die nach dem Zweiten Weltkrieg dafür sorgte, dass der von den Nazis verschärfte Homosexuellenparagraph 175 unverändert erhalten blieb. Allein bis 1969 wurden aufgrund dieses Paragraphen etwa 100.000 Verfahren wegen so genannter «Unzucht zwischen Männern» eröffnet, und bis 1994 konnte sich der Bundestag nicht entschließen, auf dieses antihomosexuelle Verfolgungsinstrument gänzlich zu verzichten.
Doch hat sich die Situation heute nicht längst ins Gegenteil verkehrt? Ein Film, der nur zwei Jahre vor der Ankündigung des Muslim-Fragebogens herauskam, lässt daran ernste Zweifel aufkommen. «Ich kenn keinen» - Allein unter Heteros, eine Dokumentation von Jochen Hicks, die das Außenseiterdasein von Schwulen auf dem baden-württembergischen Land einzufangen versucht, deren erbärmliches Schicksal natürlich nicht von Muslimen, sondern von den WählerInnen und Mitgliedern der CDU bestimmt wird. Sie sind es, die den Schwulen das Leben zur Hölle machen. Aber wer ist der Sündenbock, der von der Regierung dafür abgestraft wird? Muslimische Einwanderer in Deutschland.

Europäische Orientbilder

Sündenbock waren Muslime in der europäischen Geschichte schon immer, wenn es um Sex zwischen Männern ging, nur dass die Vorzeichen bis vor kurzem noch ganz andere waren. Seit der Ära der Kreuzzüge wurden Moslems – damals noch als «Sarazenen» – mit den Attributen von Ausschweifung und widernatürlicher Sexualität belegt. In Wilhelm Adams 1317 erschienenem Werk «De modo Sarracenos extirpandi» (zu deutsch: Wie man die Sarazenen ausmerzt) wirft der Autor Christen vor, sich am Verkauf jugendlicher Glaubensgenossen an die Muslime zu beteiligen und sie mit teurem Essen und delikaten Getränken zu versorgen, um sie «pinker, rosiger und zarter» zu machen:
«Und wenn die lüsternen, verbrecherischen und ruchlosen Männer – die Sarazenen nämlich, die die menschliche Natur pervertieren – jene sehen, entbrennen sie auf der Stelle in wollüstigem Verlangen für sie und hasten wie irrsinnige Hunde, diese Knaben, die sich in der Schlinge des Teufels befinden, für sich zu kaufen, so dass sie mit ihnen ihre Unzucht treiben können.»1
Nicht zuletzt aufgrund dieser Hetze wurde während der Zeit der christlichen Kreuzzüge zwischen 1250 und 1300 in fast ganz Europa die Todesstrafe für Analverkehr zwischen Männern eingeführt. In England, einem der wenigen Nachzügler, richtete das Good Parliament im Jahr 1376 eine Petition an den König mit der Aufforderung, fremde Handwerker und Händler, besonders «Juden und Sarazenen», des Landes zu verweisen, weil sie «das schreckliche Laster, das nicht beim Namen genannt werden darf», auf die Insel eingeschleppt hätten und dieses jetzt drohe, das Reich zu zerstören.2 Während der gesamten Neuzeit war der sexuelle Verkehr zwischen Männern in England auch als «die türkische Sünde» bekannt.
In der Ära des Imperialismus kam es zu einer Aktualisierung dieser Klischees in den europäischen Kolonialmächten, die mit Muslimen erneut in Kontakt traten, diesmal freilich unter der Maßgabe, ihnen westliche Zivilisation und Lebensart beibringen zu wollen. So empört sich Charles Sonnini, ein ehemaliger Ingenieur der französischen Kriegsmarine, in seinem Reisebericht aus dem Jahr 1798 über das von Napoleon im selben Jahr eingenommene Ägypten:
«Die Liebe wider die Natur [...] bildet das Vergnügen, oder sagen wir besser, die Infamie der Ägypter. Nicht für Frauen sind ihre amourösen Lieder komponiert, nicht ihnen spenden sie zärtliche Liebkosungen; es sind andere Objekte, von denen sie sich entflammen lassen. [...] Diese Entsittlichung, die ihnen, zur Schande von zivilisierten Nationen, überhaupt nicht fremd ist, findet sich in Ägypten allgemein verbreitet: die Reichen sind davon ebenso infiziert wie die Armen.»3
Im Schlussessay seiner zehnbändigen Übersetzung von Tausendundeiner Nacht, die nur für Privatsubskribenten zugänglich war, äußert sich der britische Orientalist und Afrikaforscher Richard F. Burton im Jahr 1886 schließlich auf nicht weniger als 50 Seiten über jenes Sujet, das «für die englischen Leser, selbst die am wenigsten prüden, ganz und gar abstoßend ist». Doch die Erörterung sei unerlässlich, «um ein großes und wachsendes Übel, tödlich für die Geburtenrate – die Hauptstütze des nationalen Wohlstands» zu bekämpfen.4
Zur Erklärung der empörenden Verbreitung gleichgeschlechtlicher Liebe in der nicht-westlichen Welt entwickelt Burton eine Art klimatologischer Rassentheorie, in deren Zentrum der schillernde Begriff der «Sotadischen Zone» steht. Dabei handelt es sich um einen fiktiven geographischen Gürtel, der sich vom Mittelmeerraum über Kleinasien, Mesopotamien, Persien, Afghanistan und den muslimischen Teil Indiens bis nach China, Japan und schließlich Mittelamerika ziehe. Das Klima in dieser Zone sorge für eine «Vermischung der maskulinen und femininen Temperamente», so dass der Mann sowohl aktiv als auch passiv sei und die Frau zur «Tribadin» werde. Das, «was unsere Nachbarn ‚Le vice contre nature’ nennen», das Laster wider die Natur also, sei dort «populär und endemisch» und werde «schlimms-tenfalls für ein bloßes ‚Peccadillo’», d.h. eine lässliche Sünde, «gehalten, während die Rassen nördlich und südlich der hier definierten Grenzen es nur vereinzelt unter dem Schimpf ihrer Mitbürger praktizieren». Als Orientalist ist sich Burton freilich sicher, dass der Koran «diese pathologische Liebe» verbietet. Doch «weder Christentum noch Al-Islam konnten eine Veränderung zum Besseren bewirken».5
In seinem mehr als 40-jährigen Kontakt mit der islamischen Welt stellt Burton freilich auch gewisse Verhaltensänderungen fest, die er auf den bessernden sittlichen Einfluss von Leuten wie ihm selbst zurückführt. So schreibt er weiter:
«Im gegenwärtigen Zeitalter hat der ausgedehnte Verkehr mit Europäern nicht eine Reformation, aber eine gewisse Zurückhaltung in den oberen Schichten erzeugt: sie sind so lasterhaft wie eh und je, aber sie sind nicht darauf bedacht, ihre Laster den Augen spottender Fremder vorzuführen.»6

Osmanische Bilder des Westens

Tatsächlich waren sich die osmanischen und persischen Eliten bis zum 19. Jahrhundert gar nicht im Klaren, für wie verabscheuungswürdig man im christlichen Europa die unter Muslimen so verbreitete Liebe zwischen Männern hielt. Deutlich wird diese Ignoranz, wenn man das Werk des 1810 verstorbenen türkischen Dichters Enderunlu Fazil studiert. In seinem prächtig illustrierten Manuskript Hubanname widmet sich Fazil der Frage, «in welcher Nation die schönsten jungen Männer leben», wobei er vorgibt, mit seinem Wissen nur die drängende Neugier eines geliebten Freundes zu befriedigen. Und so schreibt er beispielsweise über die Griechen:
«Sowohl die Männer als auch die Frauen sind von bezaubernder Schönheit. Ihre Körper sind überraschend gut gebaut. O Allah, was für ein Augenschmaus, was für ein bedeutungsvoller Blick. Dieser Elfenbein-Hals und dieses rabenschwarze Haar machen es unmöglich zu widerstehen. [...] Es gibt keinen Flaum Haar selbst auf dem Gesicht des ältesten Jugendlichen. Sie laufen wie Kurtisanen und sie können bei ihrer Arbeit in den Schenken von Galata die besten Männer ver-führen. Du verlierst den Verstand, wenn seine Locken auf seine Wangen fallen und wenn er nachgibt, stirbst du vor Laszivität.»7
Kurz und nüchtern fällt dagegen Fazils Urteil über die Holländer aus, deren geradezu sprichwörtliche kalvinistische Strenge offenbar auch ihm zu Ohren gelangt war:
«Mit ihrer frostigen Haut sind sie weit davon entfernt, attraktiv zu sein, und sehen aus wie crèmefarbene Russen. Sie verbringen ihre meiste Zeit in der Kirche anstatt mit Liebhabern.»8
Fazil konnte freilich nicht ahnen, dass sich in Nordwesteuropa längst eine von der Gesellschaft abgespaltene und vom Staat verfolgte «schwule» Subkultur herausgebildet hatte, deren Mitglieder – just als er diese unbeschwerten Zeilen schrieb – zu Hunderten am Pranger ausgestellt, lebenslänglich in ein finsteres Loch gesperrt, am Galgen gehängt, mit einem Halseisen erdrosselt oder in einem Fass ertränkt wurden.9 Dies völlig missachtend, gibt Fazil hahnenstolz vor, die sexuellen Vorzüge und Nachteile englischer Männer aus eigener Erfahrung bilanzieren zu können.
«Britische Rosen: Sie sind ruhige, aber sehr begehrte Schönheiten, die deinen Verstand durcheinander bringen. Sie leben auf einer stillen Insel. Diese jungen Männer, die durch Natur bartlos sind, haben mittlere Größe und sind so weiß wie die weißesten Seerosen in einem Bach. Die meisten dieser fischgleichen Männer sind Matrosen und haben einen guten sexuellen Apparat; trotzdem kann ich nicht sagen, dass sie große Befriedigung gewähren.»10
Erst in den Jahren nach Fazils Tod, als Napoleons Armeen in Ägypten einmarschierten, wurden sich die Osmanen und Perser allmählich bewusst, wie sehr sie für ihre – mit den Augen des Westens: «widernatürlichen» – Neigungen von den Europäern verachtet wurden. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Scheich Rifa’a at-Tahtawi, der 1826 von Ali Pascha, dem Vizekönig von Ägypten, auf eine fünfjährige Studienmission nach Paris gesandt wird. In seinem Reisetagebuch von 1834 stellt er zunächst fest, dass es «im Französischen als unschicklich [gilt], als Mann zu sagen ‚Ich liebte einen Knaben‘. Das würde als widerlich und anzüglich empfunden. Wenn daher jemand eines unserer Bücher übersetzt, so ändert er die Worte und sagt bei der Übersetzung dieses Satzes etwa ,Ich liebte ein Mädchen‘ – oder ,ein Wesen‘, um darum herumzukommen.»11 Erstaunlicherweise begrüßt At-Tahtawi dieses Denken, das er als moralisch überlegen empfindet, und versucht es seinen Landsmännern schmackhaft zu machen, indem er es ihnen am naturwissenschaftlichen Phänomen des Magnetismus erläutert. «Es ist ein schöner Zug ihrer Sprache und Dichtkunst», schreibt er über die Pariser, «dass sie die gleichgeschlechtliche Erotik ablehnen. [...] Denn sie sehen so etwas als sittliche Zersetzung an – mit Recht übrigens, denn es ist doch so, dass ein Geschlecht für das andere eine gewisse Eigenschaft hat, die es anziehend macht, etwa vergleichbar mit der Eigenart des Magneten in der Anziehungskraft auf Eisen oder der Eigenart des Bernsteins, wenn er (nach Reiben) die Dinge anzieht. Ist nun das Geschlecht ein und dasselbe, so entfällt diese Eigenart, und es tritt ein widernatürlicher Zustand ein.»12
Wie widersprüchlich die Position At-Tahtawis freilich noch war, zeigt sich, als er auf den Rassismus der Franzosen zu sprechen kommt. Dort nämlich, wo er die Frage gleichgeschlechtlicher Liebe nicht bewusst reflektiert, greift er ganz selbstverständlich auf das Liebesgedicht an einen dunkelhäutigen Jungen zurück, um zu demonstrieren, wie fremd ihm der Rassendünkel der Franzosen doch ist:
«[die Pariser] denken nicht einmal, dass die Schwarzen überhaupt irgendwelche Schönheit besitzen könnten, gilt doch vielmehr die schwarze Hautfarbe bei ihnen als ein Merkmal der Hässlichkeit [...] und nach ihrer Ansicht ist gar unschicklich, was ein Dichter von einem schwarzen Knaben sagte:
Dein Antlitz ist, als hätt’ mein Finger es geschrieben
als Wort, das meine Hoffnungen diktierten.
Des vollen Mondes Schönheit ist sein Sinn,
nur hat die Nacht erst ihr Pigment darauf gestäubt.»13
Im Grunde ist damit ein Problem angesprochen, dass sich den arabischen Eliten bis heute stellt: Die klassische arabische Dichtung ist so mit dem Topos gleichgeschlechtlicher Liebe durchsetzt, dass diejenigen, die eine nationalistische Renaissance auf der Basis ihres literarischen Erbes zu errichten versuchen, nicht darum herumkommen, über eben dieses Erbe, das sie für sich reklamieren, ein Unwerturteil auszusprechen, welches sie eigentlich der westlichen Moderne vorbehalten wollten: nämlich dekadent, verkommen und homosexuell zu sein. In Übernahme von Carl Brockelmanns einschlägigen Verdikten, die von arabischen Philologen fleißig rezipiert wurden,14 heißt es so bereits 1925 in einem ägyptischen Schulbuch für die höhere Erziehung, dass die Liebesdichtung an junge Männer «ein Verbrechen gegen die Literatur und eine Schande für die Geschichte der arabischen Poesie» sei.15

*Soziologe, Vortrag vom Mai 2009

  1. Guillelmus Adæ, «De modo Sarracenos
    extirpandi», in: Charles Kohler u.a., Hrsg., Recueil des Historiens des Croisade. Documents Arméniens, Bd. 2: Documents Latins et Français relatifs à l’Arménie (Paris: Imprimerie Nationale, 1906), 525; meine Übersetzung
  2. Rictor Norton, Mother Clap’s Molly House: The Gay Subculture in England 1700 – 1830 (London: GMP, 1992), 15
  3. C. N. S. Sonnini de Manoncourt, Voyage dans la haute et basse Egypte: fait par ordre de l’ancien gouvernement et contenant des observations de tout genre, Bd. 1 (Paris: Buisson, 1798), 277 f.
  4. Richard F. Burton, «Terminal Essay», in: The Book of The Thousand and a Night, übers., komment. u. eingel. v. Richard F. Burton, Bd. 10 (London: ohne Verl., 1886), 204
  5. Ebd., 204, 207 f., 225
  6. Ebd., 225
  7. Zit. n. Sema Nilgün Erdoðan, Sexual Life in Ottoman Society (Ýstanbul: Dönence, 2000), 78
  8. Zit. ebd., 80
  9. Vgl. Kent Gerard; Gert Hekma, The Pursuit of Sodomy: Male Homosexuality in Renaissance and Enlightenment Europe (New York: Harrington Park, 1989)
  10. Zit. n. Erdoðan, Sexual Life, 81
  11. Rifa’a at-Tahtawi, Ein Muslim entdeckt Europa: Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826–1831, übers. v. Karl Stowasser (München: Beck, 1988), 79
  12. Ebd.
  13. Ebd., 81 f. Die Wendung des Übersetzers «die Neger» wurde aufgrund seines potentiell diskriminierenden Gehalts von mir durch «die Schwarzen» ersetzt, zumal die abwertende Konnotation im Arabischen nicht vorhanden ist und die gegen Rassendiskriminierung gerichteten Aussagen von Rifa’a at-Tahtawi zu konterkarieren droht