KOMMENTAR: Homophober Moslem,aufgeklärter Westen?

von Georg Klauda*, 21.03.2011, Veröffentlicht in Archipel 191

Im Jahr 2005 legte die baden-württembergische Landesregierung den so genannten Muslim-Test auf, einen Gesprächsleitfaden für die Einbürgerung, der sich gezielt an Einwanderer aus islamischen Ländern richtete. Ein Teil dieses Fragebogens zielte darauf ab zu überprüfen, ob der Bewerber willens sei, homosexuellen Lebensweisen die nötige Toleranz entgegenzubringen. 2.Teil

Darin schwang die doppelte Unterstellung mit, dass, erstens, die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe ein fester Bestandteil der deutschen Leitkultur wäre und, zweitens, dass muslimische Einwanderer diese Leitkultur potentiell bedrohten.

Dichtung und Religion

Das Verhältnis des traditionellen Islam zum Inhalt dieser Dichtung lässt sich vielleicht symptomatisch an einem Literaturbeispiel aus dem 11. Jahrhundert illustrieren: der Liebesgeschichte zwischen dem 17-jährigen Al-Mu’tamid, dem späteren Emir von Sevilla, und dem neun Jahre älteren Dichter Ibn’Ammar. Die Geschichte begann, als Al-Mu’tamid nach einem festlichen Tag des Weintrinkens und der poetischen Rezitation zu seinem Freund sagte: «Heute Abend wirst du mit mir auf dem selben Kissen schlafen.» Später schreibt Ibn’Ammar über diesen Abend an den Vater von Al-Mu’tamid:
«Während der Nacht der Vereinigung wehte mir
In seinen Liebkosungen das Parfum der Dämmerung entgegen,
Meine Tränen strömten über die schönen Gärten
Seiner Wangen, um seine Myrten und Lilien zu bewässern.»1
Es ist dies ein Gedicht voller Bitterkeit und Wehklage; denn Ibn’Ammar lebt zu dieser Zeit bereits in seinem Exil in Saragossa, hatte der Vater Al-Mu’tamids es doch für nötig befunden, nach der Heirat seines Sohnes die Freundschaft der beiden Männer zu zer-trennen und den Dichter aus Sevilla zu verbannen. Doch als Al-Mu’tamid zehn Jahre später selbst zum Emir aufsteigt, sorgt er umgehend für die Rückkehr seines Freundes an den Hof und bedeckt ihn mit den höchsten Ämtern. Die Freundschaft zerbricht aller-dings nach weiteren zwölf Jahren an der politischen Rivalität der beiden Männer und Ibn’Ammar dichtet über seinen einstigen Geliebten (der ihn später in einem Wutanfall erschlagen sollte):
«Erinnerst du dich der Tage unserer frühen Jugend,
Als du der Mondsichel am Himmel glichst?
Ich pflegte deinen Körper zu umarmen, der frisch war,
Und ebenso saugte ich von deinen Lippen reines Wasser,
Mich damit begnügend, dich zu lieben, kurz vor haram,
Als du schwurest, dass das, was ich tat, halal war!»2
Haram und halal sind die arabischen Bezeichnungen für die vom Islam entweder als verboten oder als erlaubt eingestufte Handlungen. Man kann daran sehr schön die Rolle der Religion ablesen: Wenn jemand heute sagt, der Islam verbiete Homosexualität, dann ist das eine relativ unsinnige Aussage, weil sich die Verbote der Schari’a allein auf spezifische Akte richten, wie z.B. den Analverkehr zwischen Männern. Damit ist aber nie und nimmer gesagt, dass der klassische Islam über gleichgeschlechtliche Liebe den Stab gebrochen hätte.
Ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür ist auch die Argumentation von Ibn Hazm (gest. 1064 n.u.Z.), einer der bekanntesten Geistesgrößen des andalusischen Islam. In seinem Werk Das Halsband der Taube – einer Abhandlung über die Liebe – finden sich sowohl Erzählungen und Gedichte, welche die Romanzen zwischen Männern und Frauen, wie auch solche, die die leidenschaftliche Liebe zwischen zwei männlichen Personen behandeln. Auf der abstrakten Ebene ist bei ihm, wie bei allen vormodernen arabischen Autoren, freilich stets von dem Liebenden und dem Geliebten die Rede, d.h. beides wird in die maskuline Form gesetzt, so als handle es sich bei zwischenmännlicher Liebe um das unmarkierte Grundmodell, das man im Kopf hat, wenn man an kein bestimmtes, kein konkretes Liebespaar denkt.
Die Begründung, warum die Religion keine Form der Liebe als solche verurteilt, schickt Ibn Hazm seinem Werk sogleich voraus: «Die Frömmigkeit verdammt die Liebe nicht, und das Gesetz verbietet sie nicht, stehen doch die Herzen in Gottes, des Mächtigen und Erhabenen, Hand.»3 Später führt er dies genauer aus, wenn er schreibt: «Es genügt, wenn sich der Muslim dessen enthält, was Gott, der Mächtige und Erhabene, zwar verboten hat, was er aber an und für sich nach seinem Willen tun kann und dann am Jüngsten Tag verantworten muss. Das Gefallen am Schönen und die Herrschaft der Liebe aber ist etwas Natürliches, das weder befohlen noch verboten ist.»4
Deswegen verwundert es auch nicht, wenn selbst die religiösen Rechtsgelehrten sich am Genre der sogenannten männlichen Liebespoesie (ghazal al-mudhakkar) ohne Zögern beteiligten, wie etwa Imam Asch-Schafi’i, Begründer der unter arabischen Muslimen bedeutendsten Rechtsschule des Islam: der Schafi’iten. So heißt es in einem seiner Gedichte:
«Haltet jene Gazelle verantwortlich für den Verlust meines Lebens,
Denn er erschoss mich mit den Pfeilen seiner Augen und mit Absicht.
Aber tötet ihn nicht, denn ich bin sein Sklave,
Und gemäß meiner Schule wird ein freier Mann nicht hingerichtet wegen eines Sklaven!»5
Man sieht hier endlich den Unterschied zwischen dem Islam in seiner traditionalistischen Gestalt, der natürlich einen restriktiven Zugang zu gleich-, aber auch gegengeschlechtlichen Formen der Sexualität hatte, und dem modernen, in einem europäischen Kontext entstandenen System der Homophobie, das überhaupt nicht darauf angewiesen ist, bestimmte Handlungen zu verbieten, sondern seine Machtwirkungen allein dadurch entfaltet, dass es auf der Grundlage von Begehrensdifferenzen Menschen in normale und anormale Subjekte einteilt. Dagegen dachten islamische Juristen selbst in ihren repressivsten Momenten nie daran, Menschen als krank oder abnorm zu klassifizieren, weil sie eine Person des gleichen Geschlechts begehrten. Im Gegenteil, ein erzkonservativer Jurist wie der Hanbalit Ibn al-Dschauzi konnte geradezu in Rage geraten, wenn jemand abstritt, je von jungen Männern in Versuchung geführt worden zu sein: «Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet [wenn er schöne Burschen betrachtet], ist ein Lügner, und wenn wir ihm glauben könnten, wäre er ein Tier, nicht ein menschliches Wesen.»6

Schari’a

Wie sahen nun die Schari’a-Strafen für Analverkehr zwischen Männern (arabisch liwat) aus? Aufgrund der Komplexität des Gegenstands kann das hier nur stichpunktartig angedeutet werden, zumal es in der islamischen Geschichte sieben verschiedene Rechtsschulen gab, die in diesem Punkt alle voneinander abwichen.7 Die wichtigste dieser Rechtsschulen waren die Hanafiten, zum einen, weil ihr bis heute etwa die Hälfte der sunnitischen Muslime anhängen, zum anderen weil sie die offizielle Rechtsschule des Osmanischen Reiches war. Die Hanafiten sahen, im Gegensatz zu den meisten anderen Schulen, im liwat zwischen Männern keine Variante des Ehebruchs, weshalb sie lediglich eine Ermessensstrafe dafür festlegten, die nach dem osmanischen qanan in einer Geldstrafe oder einer Auspeitschung mit bis zu 39 Hieben bestand. In besonderen Fällen, d.h. zur Sicherung der öffentlichen Ordnung, konnte der Staat bei Wiederholungstätern auch eine sog. siyasa-Strafe verhängen. Dies geschah beispielsweise 1713 in der nordanatolischen Stadt Cankiri mit einer Gruppe von fünf Männern, die von einem Jungen angezeigt wurden, weil sie ihn zusammengeschlagen und vergewaltigt hatten. Nach einem Geständnis wurden alle fünf zum Tode verurteilt.8
Ansonsten waren Strafen für ungesetzlichen Geschlechtsverkehr ungewöhnlich selten. Obwohl auf Ehebruch zwischen einem Mann und einer Frau die Steinigung stand, ist bislang nur ein Fall in der Geschichte des Osmanischen Reiches bekannt, in dem eine Person für außerehelichen Beischlaf tatsächlich gesteinigt wurde. Es war das Jahr 1680, als die verurteilte Frau im Hippodrom von Istanbul unter Anwesenheit von Sultan Mehmed IV. hingerichtet wurde. Das Ereignis galt immerhin als so bemerkenswert, dass es sogar Eingang in die offiziellen Chroniken fand.9 Der Umstand, dass diese Strafen so außerordentlich rar waren, liegt im Prozessrecht der Schari’a begründet. Die Schari’a lässt für den Nachweis von sog. Hadd-Vergehen, also Gesetzesübertretungen, für die Gott selbst die Strafe festgelegt hat, keine Indizien-beweise zu. In allen Rechtsschulen gilt normaler-weise, dass eine Verurteilung nur dann erfolgen kann, wenn vier männliche und unbescholtene Zeugen die Tat mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Alternativ kann sich der Täter auch selbst belasten, wozu er die Tat viermal vor dem Richter gestehen muss. Im Fall von liwat und Ehebruch werden Anzeige und Geständnis zudem auch normativ missbilligt und die Zeugen laufen Gefahr, wegen Verleumdung zu 80 Peitschenhieben verurteilt zu werden – dann nämlich, wenn sie weniger als vier sind oder sich in wichtigen Details widersprechen.
Dass die prozessrechtlichen Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen liwat oder Ehebruch praktisch nicht zu erfüllen waren, sorgte bei den Juristen nicht für Beunruhigung. Im Gegenteil, sie selbst hoben diesen Umstand immer wieder lobend hervor, wie zum Beispiel der medinesische Gelehrte Ali al Quari al-Harawi (gest. 1605):
«Es ist eine Bedingung, dass die [für eine Verurteilung von Ehebruch erforderlichen] Zeugen vier sind ... und dies ist so, weil Gott der Erhabene es liebte, dass [die Sünden] seiner Untertanen verhüllt bleiben, und dies wird realisiert, indem man vier Zeugen fordert, da es sehr selten ist, dass vier Menschen diese Sünde beobachten.»10

Verfolgung im Iran

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Schari’a-Recht in fast allen islamischen Ländern mit Ausnahme Saudiarabiens wegen seiner Ineffizienz bei der Strafverfolgung abgeschafft und entweder durch englisches oder französisches Recht ersetzt. Ob das eine oder das andere, war allerdings ein Unterschied ums Ganze: Französisches Recht, wie es in Ägypten und der Türkei eingeführt wurde, bedeutete nämlich seit Napoleon: völlige Straffreiheit für einverständlichen Geschlechtsverkehr, während das englische Recht, wie es z.B. in Pakistan implementiert wurde, Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren für Sex zwischen Männern vorsah.
Das Scheitern des panarabischen Nationalismus und der Aufstieg des Islamismus führte seit den 1970er Jahren jedoch zur Wiedereinführung der Schari’a in einer ganzen Reihe von Staaten: zuerst Libyen, dann Pakistan, Iran, Sudan, Afghanistan und schließlich, seit 2000, Nordnigeria. Am verheerendsten haben sich diese Fundamentalisierungsprozesse jedoch ausgerechnet im durch den Schah zwangssäkularisierten Iran ausgewirkt, wo «Homosexualität» von Khomeini schon bald mit dem verhassten Westen gleichgesetzt wurde. Laut Boroumand Foundation, die eine Datenbank darüber eingerichtet hat, erschossen die Revolutionsgerichte in den knapp fünf Jahren zwischen März 1979 und Januar 1984 nicht weniger als 98 Männer aufgrund des Vorwurfs, «homosexuell» zu sein. Nach dem Übergang zu einer regulären Schari’a-Justiz wurden in den nächsten zwanzig Jahren mindestens weitere acht Männer wegen liwat (pers. lavat) hingerichtet.11 Seit dem Aufstieg des Radikalislamisten Mahmud Ahmadinedschad zum Präsidenten des Iran mehren sich die Berichte über solche Exekutionen wieder. Aufgrund der Desinformationspolitik der iranischen Regierung ist es allerdings oft schwierig zu klären, warum jemand getötet wurde, da nicht selten verschiedene Kapitaldelikte wie liwat, Ehebruch, Drogenhandel, Banditentum oder Spionage scheinbar wahllos aneinandergereiht werden. Fakt ist, dass iranische Kadis die hohen Prozess-hürden der Schari’a in der Praxis dadurch umgehen können, dass sie kriminaltechnische Untersuchungen im Rektalbereich anordnen, um Todesurteile auf der Basis von Spermafunden zu fällen. Die besondere schiitische Auslegung der Schari’a, die das Wissen des Richters als eine mögliche Beweisquelle zulässt, bietet dafür sogar eine Art rechtsstaatlicher Grundlage an.12 So zitiert Amir, ein 22-jähriger Flüchtling aus dem Iran, einen Schari’a-Richter mit den Worten: «Wenn wir dich zu einem Arzt schicken, der sich dafür verbürgt, dass dein Rektum in irgendeiner Weise penetriert wurde, wirst du zum Tod verurteilt.»13

Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass sich das Mullah-Regime in seinem Verfolgungs-eifer bereits von einem modernen Konzept von «Homosexualität» leiten lässt. Beispielhaft steht dafür der persische Neologismus hamdschens bazi, welcher «gleichgeschlechtliches Verhalten» bedeutet. Der Unterschied zu einem Begriff wie liwat ist klar: er meint nicht mehr eine spezifische sexuelle Handlung, sondern kann alles umfassen, was mit zwischenweiblicher oder -männlicher Intimität in Verbindung steht, sei es Küssen, Umarmen oder sich in irgendeiner Weise romantisch zu verhalten. Eine begriffliche Konstruktion wie hamdschens bazi funktioniert so als Operator, um «Homosexualität» in einem absolut umfassenden Sinn zu politisieren und aus der Gesellschaft auszugrenzen. Denn das ist ja das wirkliche Problem des Regimes: Gleichgeschlechtliches Verhalten ist nach wie vor ein fester Bestandteil des iranischen Alltags, wie der linke Exiliraner Ali Mahdjoubi ausführlich darzulegen weiß:

«Im Volksmund der Iraner ist es nichts Außergewöhnliches, wenn zwei Männer sich ‚lieben‘ oder ineinander verliebt sind. Das ruft keinen Argwohn oder Verdacht hervor, wird eher mit Verständnis zur Kenntnis genommen. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, alle Begriffe aus dem Wortschatz sowohl der gehobenen als auch der Umgangssprache des Landes zusammenzufassen, die eine mann-männliche Beziehung und die verschiedenen Liebes- und Verliebtheitszustände unter den Männern beschreiben.»14
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die beiden 2005 in Maschhad gehängten Jugendlichen Ayaz Marhoni und Mahmud Asgari, deren Fall erstmals größere inter-nationale Beachtung fand, sich gegenüber dem Gericht verteidigten. Zum einen behaupteten sie, dass sie nicht wussten, dass das, was sie taten, mit dem Tode geahndet würde. Insofern zwischen 1984 und 2004 nur sehr wenige solcher Urteile vollstreckt wurden, kann man das glauben oder auch nicht. Wahrscheinlich war es eine strategische Äußerung, weil nach der Schari’a das Wissen um die Strafe Voraussetzung ist, auch tatsächlich bestraft werden zu können. Zum anderen aber sagten sie, dass alle Jungs in ihrer Nachbarschaft Sex miteinander hätten. Und das ist, wenn man Mahdjoubi glauben will, nun alles andere als unwahrscheinlich:
«In meiner kinderreichen Nachbarschaft und in der Schule, zwölf Jahre lang nur mit männlichen Schülern, gab es meines Wissens niemanden, der ohne homosexuelle Erfahrungen gewesen wäre. [...] Im Grunde genommen war es in der Schule oder der Nachbarschaft kein Geheimnis, wer wann mit wem Sex hatte. Ausgiebig erzählte man untereinander von den eigenen Erlebnissen. [...] Wollte man mit einem Jungen Sex haben, den man persönlich nicht kannte oder den man sich nicht anzusprechen traute, gab es dann immer welche, die eine Zusam-menkunft arrangieren konnten, mit Geschick verkuppelten und sogar die beiden Glücklichen in den Ruinen der alten Burg mitten in der Stadt vor möglichen Störungen schützten.»15)
Wenn die Mullahs die Gesellschaft also wirklich von hamdschens bazi säubern wollen, dann steht ihnen noch eine gewaltige Aufgabe bevor, und zwar eine solche, die sie wider Willen zu Akteuren einer nachholenden Modernisierung macht. Denn das, was bei uns bereits existiert – und übrigens eine nicht weniger brutale Durchsetzungs-geschichte ihr eigen nennt –, muss im Iran überhaupt erst noch hergestellt werden: eine völlig heteronormalisierte Gesellschaft, in der die jetzt als besondere Eigenschaft konstruierte «Homosexualität» nur noch in den subkulturellen Gehegen der Großstadt gelebt werden kann.

Westlicher Fortschrittsmythos

Und damit gelangen wir zurück zum Ausgangspunkt dieses Textes: aufgeklärter Westen vs. mittelalterlicher Islam? Nein, ganz bestimmt nicht, denn es war gerade die Zeit der Aufklärung – das 17. und 18. Jahrhunderten also –, in der sich in Nordwesteuropa, begleitet von Massenverfolgungen ähnlich denen im Iran, die Grundstrukturen einer heteronormativen Welt herausbildeten, wie sie für den Westen auch heute noch charakteristisch ist.16 Um das an ein paar wenigen Zahlen zu veranschaulichen: In Berlin haben sechs von zehn befragten lesbisch-schwulen Jugendlichen schon einmal daran gedacht, ihrem Leben ein Ende zu setzen – Hauptgrund Einsamkeit. 18 Prozent haben bereits einen oder mehrere Selbstmordversuche hinter sich; das sind vier- bis fünfmal so viele wie im Durchschnitt ihrer Altersgruppe17. In einer amerikanischen Schulklimastudie unter homo- und bisexuellen SchülerInnen berichten fast zwei Drittel (64 Prozent) von verbaler und 38 Prozent von physischer Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung18. Der Anteil männlicher Teenager, die in Umfragen angeben, gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben, ist, so eine Längsschnittstudie Hamburger Sexualforscher, allein in den Jahren 1970 bis 1990 von 18 auf zwei Prozent gefallen19. Das sind massive Verschiebungen, die nicht gerade darauf hindeuten, dass es heute einfacher geworden wäre, sich als Jugendlicher in eine Person des gleichen Geschlechts zu verlieben.
Von daher wäre durchaus etwas mehr Selbstreflexion gefragt: Homophobie ist nicht das Relikt einer vormodernen, längst überwundenen Welt, die mit den bösen Moslems wieder nach Deutschland dringt; wir leben mittendrin – in einer Gesellschaft, die ihre heteronormative Gewalt nicht einmal mehr im Strafrecht manifestieren muss, um auf höchst wirksame Weise eine Sortierung zu bewerkstelligen, von der die Mullahs im Iran eigentlich nur träumen können.

*Soziologe, Vortrag vom Mai 2009

  1. Zit. n. Alois R. Nykl, Hispano-Arabic Poetry and Its Relations With the Old Provencal Troubadours (Baltimore: J. H. Furst, 1946), 156. Vgl. auch Louis Crompton, «Male Love and Islamic Law in Arab Spain», in: Stephen O. Murray und Will Roscoe (Hrsg.), Islamic Homosexualities: Culture, History, and Literature (New York: New York University Press, 1997), 142-157
  2. Ebd., 160
  3. Ibn Hazm, Das Halband der Taube: Von der Liebe und den Liebenden, übers. v. Max Weisweiler (Leipzig: Philipp Reclam jun., 1990), 8.
  4. Ebd., 40
  5. Zit. n. Everett K. Rowson, «Two Homoerotic Narratives from Mamluk Literature», in: J. W. Wright Jr. und Everett K. Rowson, Hrsg., Homoeroticism in Classical Arabic Literature (New York: Columbia University Press, 1997), 168.
  6. Zit. n. Joseph N. Bell, Love Theory in Later Hanbalite Islam (Albany: SUNY Press, 1979), 27
  7. Vgl. Arno Schmitt, «liwat im fiqh: Männliche Homosexualität?». Journal of Arabic and Islamic Studies 4 (2001 –2002): 61
  8. Rudolph Peters, Crime and Punishment in Islamic Law (Cambridge: Cambridge University Press, 2005), 85 f.
  9. Ebd., 93
  10. Zit. n. El-Rouayheb, Before Homosexuality, 123
  11. Abdorrahman Boroumand Foundation (ABF), «OMID: A Memorial in Defence of Human Rights», http://www.abfiran.org/english/memorial-search.php, letzter Zugriff: 27. 1. 2007
  12. Peters, Crime and Punishment, 66
  13. Zit. n. Doug Ireland, «Next Time, You’ll Be Executed». Gay City News, 15. 9. 2005
  14. Ali Mahdjoubi, «Homosexualität in islamischen Ländern am Beispiel Iran», in: Michael Bochow und Rainer Marbach, Hrsg., Homosexualität und Islam: Koran – Islamische Länder – Situation in Deutschland (Hamburg: Männerschwarm, 2003), 93
  15. Ebd. 95
  16. Vgl. z.B. David F. Greenberg, The Construction of Homosexuality (Chicago: University of Chicago Press, 1988)
  17. Senatsverwaltung Berlin, Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (Hsrg.), Sie liebt sie. Er liebt ihn: Eine Studie zur psychosozialen Lage junger Lesben, Schwuler und Bisexueller in Berlin (Berlin: GEW, 1999), 66-71 und 83
  18. Joseph G. Kosciw ; Elizabeth M. Diaz, The 2005 National School Climate Survey: The Experience of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Youth in Our Nation’s Schools (New York: GLSEN), xiii.
  19. Gunter Schmidt ; Dietrich Klusmann ; Uta Zeitzschel, «Veränderungen 1970-1990 (BRD)», in: Gunter Schmidt, Hrsg., Jugendsexualität: Sozialer Wandel, Gruppenunterschiede, Konfliktfelder (Stuttgart: Enke, 1993), 35