Laboratorium des sozialen Elends

von Hannes Reiser ( EBF Schweiz), 17.09.2003, Veröffentlicht in Archipel 108

Die Verelendung, Entwurzelung und Landflucht im England des 18. und 19. Jahrhunderts und die anschließende Erniedrigung in den Arbeitshäusern zeigen viele Parallelen zur heutigen Situation in den Armutsgebieten der globalen Wirtschaft, in denen die große Mehrheit der Weltbevölkerung beheimatet ist. Bis damals lebten in England die meisten Menschen noch auf dem Dorf als Kleinbauern, Pächter, Gewerbetreibende oder selbständige Handwerker, die mit dem Ertrag ihres kleinen Hofes, mit ihrem Können, durch Pflege ihres Gartens oder Ackers und mit Heimarbeit relativ gut auskamen. Eine ganz wichtige Rolle spielte dabei das meist kollektiv verwaltete Gemeindeland.

Durch geschickte Gesetzesänderungen gelang es dem Landadel, den Dorfleuten das Gemeindeland über ihre Köpfe hinweg zu enteignen. Durch die berühmt-berüchtigten "Einfriedungen zugunsten der Schafzucht" und die Schaffung großflächiger "Farms" verschwanden landesweit Felder, Gärten, Gemeindeland und Weiderechte. Die Menschen verloren ihre Einkommensgrundlage, wurden armenrechtsgenössig oder verließen in großer Zahl das Dorf. In diesem Umfeld von Massenarmut und Landflucht wurden die Grundlagen des heutigen Wirtschaftsliberalismus entwickelt. Er geht davon aus, dass die wirtschaftliche Produktion den Kriterien des Kaufmanns, der einkauft und verkauft, unterstellt sein muss und dass also sowohl die Arbeitskraft (der entwurzelte Mensch), wie auch die Natur (der Boden und seine Schätze) eine Ware und jederzeit käuflich sein müssen. Doch schon damals haben sich die Betroffenen gegen diese Erniedrigungen und Zwänge zur Wehr gesetzt.

Die Wirtschaftsform, die im Laboratorium des sozialen Elends in England vor 200 Jahren, entwickelt wurde, stellt sich heute weltweit als "allein seligmachend" dar. Und so hat auch die Geschichte des aktiven Widerstandes gegen die erstmalige Errichtung dieses Systems vor zwei Jahrhunderten weltweite Bedeutung. Der Artikel über den Kampf der Ludditen in England (Gerhard Hauptmann hat das Pendant dieser Bewegung im deutschsprachigen Gebiet in seinem Drama "Die Weber" und Heinrich Heine mit seinem Gedicht "Die schlesischen Weber" bekannt gemacht) stammt von Bertrand Louart. Der Autor ist von Beruf Wanderschreiner und Historiker, weiss also, was nicht-entfremdete Arbeit ist, und setzt sich in seinen Publikationen mit den Fragen der Wiederaneignung der Produktionsmittel durch den Menschen auseinander.