SCHWEIZ - LESBOS: Evakuieren JETZT!

von Claude Braun, EBF, 12.02.2021, Veröffentlicht in Archipel 300

Obwohl fast dreissig Gemeinden ihre Hilfsbereitschaft für den Empfang von Geflüchteten von den griechischen Inseln anbieten, hat die Schweiz im Jahr 2020 sage und schreibe nur 88 unbegleitete Minderjährige aus Lesbos und Griechenland aufgenommen – eine Schande!

Kurz vor Jahresende hat sich ein Grossteil der Geflüchteten auf Lesbos in einem Weihnachtsbrief an die europäische Öffentlichkeit gewandt. Darin üben sie harsche Kritik an der EU und an den verheerenden Zuständen im neuen Lager Kara Tepe, das nach dem Brand im Lager Moria eiligst aufgebaut wurde. «Selbst Tiere haben in der EU mehr Rechte und bessere Lebensbedingungen als wir. Jeden Tag leben wir in Angst und Not», heisst es in dem Brief. Die Situation sei teilweise noch schlimmer als in Moria. Das Schreiben wurde an Weihnachten der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschickt und von der Hilfsorganisation „Medico international“ veröffentlicht.(1) Aus Schweizer Sicht hätte der Brief auch an die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Sutter, auch kurz KKS genannt, geschickt werden sollen, denn ihr untersteht das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement EJPD, das für die Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen Inseln tätig werden müsste.

Aufnahmebereite Gemeinden

Das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) schloss sich im Frühjahr 2020 dem Bündnis „Evakuieren JETZT“ an, das in einem Oster-Appell eine grosszügige Aufnahme von Geflüchteten aus Lesbos forderte und dafür von 50.000 Menschen und 130 Organisationen aus der Schweiz unterstützt wurde. Der Osterappell wurde von den acht grössten Schweizer Städten mitgetragen, die öffentlich ihre Aufnahmebereitschaft signalisierten. Daraufhin formulierten das EBF, der Freundeskreis Cornelius Koch und das CEDRI eine Gemeinde-Petition, um weitere Städte und Dörfer für dieses Vorgehen zu gewinnen. Mehrere tausend Petitionsbögen wurden in Umlauf gebracht, mehrere hundert solcher dezentraler Unterschriftsaktionen fanden statt. So kam es, dass im Herbst und Winter Dutzende Bekannte uns mitteilten, dass sie in ihrer Wohngemeinde Unterschriften sammeln würden. Die Petition liegt auch jetzt noch einmal diesem Archipel bei, denn ganz offensichtlich genügt der Druck, der damit aufgebaut wurde, noch nicht, um den Bundesrat zu einer menschlichen Handlung zu bewegen. In der Petition fordern die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Gemeinden dazu auf, dass sie sich bereit erklären, Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen und dass sie diesen Beschluss öffentlich kommunizieren und den Bundesrat darüber informieren. Bisher haben sich fünfundzwanzig Städte und Dörfer der Bewegung angeschlossen(2) und wir hoffen, dass es noch mehr werden. Tausende Bürgerinnen und Bürger haben die Petition unterschrieben. Sie kann hier heruntergeladen werden.

Unwillkommene Hilfe

Die Schweiz hat kurz vor Weihnachten 36 minderjährige Geflüchtete aus Lesbos und Griechenland mit einer öffentlichkeitswirksamen Kommunikation in die Schweiz geholt. Aber diese mit den 52 zuvor Aufgenommenen zusammengezählt, ergibt noch immer nicht mehr als eine Schande. Im Kara-Tepe-Lager leben 8 000 Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Gewalt ist an der Tagesordnung. Die Zelte sind nicht wasserdicht; regelmässig werden sie überschwemmt. Für die Installation der ersten 36 Duschen und WCs hat die Lagerleitung drei Monate gebraucht. Als Schwierigkeit kommt dazu, dass die griechischen Behörden den internationalen Nichtregierungs-Organisationen den Zugang zu den Lagern erschweren und teils sogar verunmöglichen. Komplizierte Zulassungs-Reglementierungen sollen die Hilfsbereitschaft unzähliger Freiwilligen verunmöglichen.

Illegale Praxis von Frontex

Und viele Geflüchtete erhalten nicht einmal Zugang zu den Lagern. Denn es wurde mehrfach dokumentiert, dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex und griechische Beamten Geflüchtete illegal wieder ins Meer zurückstossen und so den legalen Zutritt zu europäischem Festland verhindern(3). Bisher ist sich Frontex der bedingungslosen Unterstützung von der EU und der Schweiz sicher. So wird z.B. die Schweiz ihre Beteiligung am Ausbau dieser Abschottungs-Maschinerie in den nächsten Jahren massiv ausbauen(4). Die Beteiligung der Schweiz an Frontex (5) untergräbt daher die Glaubwürdigkeit eines ernsthaften humanitären Engagements. Mit dem Winter und der zweiten Welle des Coronavirus müssten die Schweizer Regierung und die Behörden dringend ihren Verpflichtungen nachkommen und die folgenden Massnahmen treffen:

  • Einstellung der Zahlungen an Frontex und Abzug aller Grenzbeamten bis die Untersuchung der Vorfälle abgeschlossen ist und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sind.
  • Nutzung aller verfügbaren Ressourcen, um mehrere tausend Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen.
  • Hinwirkung auf eine gesamteuropäische Lösung zur Evakuierung der griechischen Flüchtlingscamps, wenn die Schweiz einen grosszügigen Beitrag geleistet hat. Es gibt nur eine praktikable Lösung für die Situation auf Lesbos, Samos und den anderen griechischen Inseln: Evakuieren JETZT. Die Schweiz kann und muss mehr tun!

Claude Braun

  1. https://www.medico.de/moria-brief
  2. Stand der Gemeinden per 11.1.2021 in alphabetischer Reihenfolge: Arlesheim (BL), Baden (AG), Basel-Stadt, Bern, Biel (BE), Burgdorf (BE), Cormoret (BE), Delémont, Freiburg, Genf, Lausanne, Luzern, Neuenburg, Penthalaz (VD), Saignelégier (JU), Sainte-Croix (VD), Sevelen (SG), Solothurn, St. Gallen, Teufen (AR), Vernier (GE), Wil (SG), Winterthur, Wohlen (BE), Zürich. Im Internet: https://seebruecke.ch/ueber-uns/erfolge/
  3. Der Spiegel und das ARD berichten am 28.10.2020 wie griechische Grenzschützer Flüchtende aufs offene Meer zurückstossen. Der folgende Bericht zeigt, wie Frontex in die Operationen verwickelt ist: https://www.spiegel.de/politik/ausland/pushbacks-im-mittelmeer-wie-frontex-in-verbrechen-verstrickt-ist-a-998c58aa-4015-4fd7-a05e-40b850b13d95
  4. Aus der Botschaft des Bundesrates zur Beteiligung der Schweiz an Frontex wird eine massive Steigerung der jährlichen Beiträge von 6,1 Mio im Jahr 2015 auf 83,6 Mio Fr. im Jahr 2027 in Aussicht gestellt. Link zur Botschaft des Bundesrates: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/62529.pdf.
  5. Siehe dazu www.frontexfiles.eu. Der ausgezeichnete ZDF-Beitrag von 18 Minuten dazu ist momentan auf dieser HP.