LANDWIRTSCHAFT: Elektronische Kennzeichnung von Tieren

von Xavier Noulhianne Züchter in Lot-et-Garonne, 25.06.2012, Veröffentlicht in Archipel 205

Rückschau auf die Geschichte der Industrialisierung und Bürokratisierung der Viehzucht
Seit dem 1. Juli 2010 ist die elektronische Kennzeichnung von Tieren obligatorisch für jedes neugeborene Lamm und jedes neugeborene Zicklein. Dieser neue Vorstoß rückte sofort das Thema „Industrialisierung der Viehzucht“ ins Blickfeld. Deswegen wird hier auf deren jüngere Geschichte näher einzugehen sein ebenso wie auf die Ursprünge einer die Industrialisierung begünstigenden Politik und deren Funktionsweise, wovon die elektronische Kennzeichnung nur einer von vielen Aspekten ist. 1. Teil

Industrialisierung als weltweite historische Bewegung nimmt je nach Bereich, Land und Periode verschiedene Formen und Entwicklungsweisen an. Besonderheiten weist die Industrialisierung der Viehzucht in Frankreich auf, sie ist sehr … französisch. Der erste Anstoß wurde Mitte der 1960er Jahre vom Staat gegeben und manifestierte sich in einer „Gesetz zur Viehzucht“1 überschriebenen Paragraphensammlung, die unter De Gaulle von Edgar Faure verkündet wurde. Dieses Gesetz war als Ergebnis erster Anwendungen wissenschaftlicher Methoden und bürokratischer Mechanismen bei der Tierproduktion dazu geeignet, für deren Ausbreitung im ganzen Lande den Weg zu ebnen. Um zu verstehen, was das Besondere der gleichzeitigen Wirkung von Wissenschaft und Bürokratie beim Hervorbringen einer „modernen“, also industriellen Viehzucht unter heutigen staatlichen Verhältnissen ist, kann ein Rückblick auf das Großbritannien des 19. Jahrhunderts von einigem Interesse sein. Dabei wird erkennbar, gegen was sich moderne Viehzucht als Alternative anbot, oder – anders gesagt – was mit ihr verschwinden sollte.

Die Doktrin der Tierselektion

Mitte des 19. Jahrhunderts sollte ein gewisser Robert Bakewell auf seiner abgeschotteten Farm in Leicester erste Methoden zur Selektion von Vieh entwickeln, um damit Verbesserungen bei Futterpflanzen zu erreichen und daraus Gewinn zu ziehen. Sein erstes Ziel war, das Schlachtgewicht der lokalen Rasse zu erhöhen. Durch enge Blutsverwandtschaft legte er Merkmale wie geringere Knochendicke, Kompaktheit der Formen, Wachstumsgeschwindigkeit und frühzeitige Reife fest. Anschließend verkaufte er die zur Fortpflanzung ausgesuchten Tiere und beobachtete deren Nachkommenschaft bei seinen Kunden, um wiederum die besten Zuchttiere zurückzuholen und die Selektion fortzusetzen. Sein „neues Leicester“ wurde umgehend zum rentabelsten Schaf von England. Was Bakewell ins Werk setzte, war schlicht und einfach die Doktrin der Tierselektion, welche im Großen und Ganzen bis heute bei den Züchtern, die nicht mit genetischen Methoden arbeiten, Anwendung findet.

Unleugbar ist, dass diese Agrarrevolution sich im Rahmen neuartiger Rationalisierungstendenzen in allen Bereichen sowie im Kontext der industriellen Revolution - also grundlegender Veränderungen im Wirtschaftsleben - vollzog. Diese neuartigen Methoden der Landwirtschaft wurden damals im Vergleich zu denen, die sie ersetzten, als intensiv und rationell bezeichnet. Auf diese Methoden bezieht man sich jedoch heutzutage, wenn man von „traditionellen Zuchtmethoden“ spricht, denen man jetzt eine „industrielle und intensive Landwirtschaft“ gegenüberstellt. In der Tat ist es auch so, denn aus der Nähe betrachtet ist die Doktrin der Tierselektion gar nicht rationell im Sinne von kalkulierbar: Sie ist und bleibt sehr empirisch.
Dies sind die fünf Punkte der Tierselektion:

  • Das Hauptziel ist die Züchtung von Tieren für die Fleischproduktion in einem als intensiv bezeichneten System, das heißt schnell wachsende Tiere, gute Futterverwerter (wenig oder kein Getreide verzehrend) mit hohem Ertrag an Fleisch und Deckfett.
  • Übereinstimmung des morphologischen Modells und Vorrang des männlichen Tieres sind Hauptprinzipien, morphologische Abweichungen werden jedoch nicht gemessen, es wird lediglich die äußere „Gestaltung“ visuell „beurteilt“, jeder Züchter kreiert schrittweise seine eigene „Marke“. Zudem werden die individuellen Leistungen der Tiere nicht berücksichtigt (weder Einwaage noch quantitative Bestimmung der Milchproduktion), obwohl das technisch möglich ist.
  • Viele Halter glauben an die Erblichkeit von Rassemerkmalen und haben deshalb ein großes Interesse an der Registrierung der Abstammungen von bemerkenswerten Tieren, selbst von entfernten Vorfahren.
  • Das Generationenkonzept wird auch auf die Herde angewandt: Eine Gruppe von Tieren lässt man sich gern auch untereinander fortpflanzen, wenn sie gute Leistungsmerkmale haben.
  • Die Kontrolle der Nachkommenschaft bildet das zentrale Interesse der Züchter. Sie beobachten die Herden ihrer Kunden und behalten sich ein Recht auf die männlichen Tiere vor.
    Auf den britischen Inseln sollte sich die Anwendung dieser Selektionsmethode schnell über das ganze Territorium und auf andere Spezies, besonders auf Rinder, ausdehnen.

Und in Frankreich?

In derselben Zeit war die französische Agrarwirtschaft durch eine hohe auf regionalen Besonderheiten beruhende Vielfalt der Systeme gekennzeichnet. Es gab sehr starke Unterschiede selbst zwischen Nachbarregionen, wo sich die Rassen und landwirtschaftlichen Praktiken abhängig von sehr ausgeprägten lokalen Bedürfnissen entwickelten. Dies verhinderte das Auftauchen einer landeseinheitlichen Zuchtmethode mit dem ausschließlichen Ziel der Fleischproduktion2. Es gab in Frankreich also keine „Agrarrevolution“. Und selbst wenn von den britischen Neuerungen unleugbar der Impuls zur Evolution der Zuchtpraktiken in Frankreich ausging, so sollten sie sich nur sehr langsam im Verlauf des folgenden Jahrhunderts ausbreiten. Nicht einer der „Modernisierungsanläufe“ bei der Zucht, ob für Rassen, die auf Milchproduktion oder für Rassen, die auf Fleischproduktion spezialisiert werden sollten, war in diesem Zeitraum erfolgreich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte diese Phase der langsamen Veränderungen aufhören. Die 1950er Jahre waren gekennzeichnet durch das Eindringen der Wissenschaft in die Landwirtschaft, vor allem in die Zucht. Das war eine Auswirkung der fortschreitenden Rationalisierung der Viehzucht jenseits des Atlantiks, ausgehend von den Zentren für künstliche Besamung, gegründet in den USA der dreißiger Jahre.
In Frankreich waren es zunächst der Norden und das Pariser Becken, in denen sich die Anstrengungen zur Modernisierung der Landwirtschaft konzentrierten. Die Intensivierung der Milchproduktion vollzog sich in drei Phasen: Entwicklung der Beherrschbarkeit der Futterrationierung, dank der Forschungen zum Energiegehalt des Tierfutters, die in die Aufstellung von Nährwerttabellen und eine Einteilung der Rationen mündeten3. Stützpunkte zur Milchkontrolle wurden eingerichtet, gefolgt von denen für künstliche Besamungstechnik, welche mit frischem Samen aus Rambouillet beliefert wurden.
Just zu dieser Zeit keimte eine Tendenz hin zu mehr Austausch und Kooperation auf, welche sich insbesondere in den CETA (Centre d’Etudes Techniques Agricoles) und der JAC (Jeunesses Agricoles Catholiques) manifestierte, beide, mit mehr oder weniger Engagement, der Action Catholique verbunden. Diese Bewegung stand von Beginn an für technischen Fortschrittsglauben (die JAC hat damals ohne Zögern erklärt, dass „Barmherzigkeit in der Technik ihren Ausdruck finde“!). Damals sollte diese dem Fortschritt ergebene Randgruppe im Bereich der Landwirtschaft weit und breit die einzige bleiben, die die eben erwähnten, schwer anwendbaren Forschungsarbeiten unterstützte, ja selbst daran teilnahm. Diese jungen, auf Fortschritt ausgerichteten Landwirte der CETA und der JAC glaubten an die Schaffung einer modernen Landwirtschaft, die aus dem Vormarsch der Wissenschaft Nutzen ziehen könne. Sie erkannten nicht, dass Bauern in einer solchen Landwirtschaft gar nicht mehr den Platz hätten, den sie selber für sich erträumten.
Eine solche Kooperation sollte der Forschung auf dem Gebiet der Tiernahrung in den 1950er Jahren jedenfalls zu einem beispiellosen Sprung nach vorn verhelfen - dank sich eröffnender Möglichkeiten, bei der Fruchtfolge unzählige Versuche unter Praxisbedingungen durchzuführen. Zu den Futterspezialisten gesellten sich alsbald Technologen, die die Grundlagen zur Bestimmung der Fleisch- und Milchproduktion lieferten, Physiologen der Reproduktion, die Besamungstechniker ausbildeten und schließlich Genetiker, die gezwungenermaßen eng mit den Viehhaltern zusammenwirkten und zu Züchtern auf Erbeigenschaften werden sollten.
Es begann sich also, parallel zur Arbeit der Züchter, ein Sektor der wissenschaftlichen Zucht zu etablieren. Dieser musste mit absoluter Gründlichkeit auf die Beine gestellt werden, sich also von Beginn an eine eigene Datenbasis schaffen (in Konkurrenz zu den Abstammungsbüchern der Züchter). Die Gewinnung erster wissenschaftlicher Daten erfolgte unabhängig von den ursprünglichen Entstehungsstätten der Rassen (z. B. sollten die Rassen Limousin, Charolaise und Blonde d’Aquitaine im Tarn und im Aveyron studiert werden). Dafür wurde ein Instrumentarium für spezifische, der Statistik entlehnte Analysen entwickelt. Wie wertvoll das Genmaterial eines Bullen ist, wurde also statistisch ermittelt, der „Gen-Index“ wurde eingeführt. Mit diesem wurde der Wert eines Bullen auf Grundlage statistischer Berechnungen festgelegt. Es waren französische Wissenschaftler, die als erste ein computergestütztes statistisches Instrumentarium zur Verarbeitung von Daten schufen, um die Entwicklung bei der Besamung und einer genetischen Ausrichtung der Zucht voranzutreiben.
Gegen Ende der 50er Jahre drängten die Pioniere der Populationsgenetik nach noch weiter reichender akademischer Anerkennung. So bildete sich ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern unterschiedlicher Ausrichtung. Forscher der INRA, des INSERM und des INED4 verbanden ihre Arbeiten, indem sie sie auf einen gemeinsamen Nenner brachten, der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik hieß. Die quantitative Genetik war geboren, und seitdem werden Bullen nach dem „Erwartungswert ihres additiven Geneffekts (Wirkung der Gene als Mittelwert) für die Milch- oder Fleischproduktion“ klassifiziert. So wundert es heutzutage niemanden unter den Milchproduzenten mehr, wenn bei Zuchtbullen die „Eiweiß-Quote“ oder „Butter-Quote“ einer Milch angepriesen wird, die diese niemals produzieren werden, und das aus gutem Grund!
Jedoch angesichts der Widerstände, die von der Berufsgruppe der Halter und Züchter ausging, hätten sämtliche Forschungsergebnisse Platz in wissenschaftlichen Archiven finden können und die Anwendung wäre ausgeblieben, hätte da nicht zugleich noch die Politik mitgemischt, mit ihrem Streben nach einem gemeinsamen Markt und der vermeintlichen Notwendigkeit, Frankreich an das „Leistungsniveau“ seiner zukünftigen Partner aus Nordeuropa „anzugleichen“. Die Debatte zur Ernährungssouveränität aus den Nachkriegsjahren, sowieso nur ein Vorwand, hat also zu nichts geführt. Die Absichtserklärung à la française nahm so Form eines Gesetzesprojektes an. Mit diesem Gesetz sollte der gesamte Berufszweig, Haltung und Züchtung, durchstrukturiert werden, jeder Berufsgruppe wurde damit ihr Platz zugewiesen.
Auf die Unterstützung der traditionell störrischen Bauern konnte der Staat jedoch nicht setzen. So stützte er sich auf die jungen Landwirte der CETA. Es ging darum, in dem Berufszweig reaktionsschnellere Selektionsmethoden durchzusetzen, mit denen man eher zu Ergebnissen kam als mit der „schleppenden“ Zucht à la Bakewell. Diese rationellen Methoden sind jedoch vor allem wie dazu geschaffen, den gesamten Prozess administrativ zu lenken und zu kontrollieren. Die Ziele werden dabei vom Staat gesetzt und nicht mehr allein von den Züchtern - ihre Ziele treten in den Hintergrund.
Um dies im Namen eines Allgemeininteresses durchzusetzen, war der legislative Weg nicht weniger wirksam, als die angelsächsische Idee vom freien Spiel der Marktkräfte.
Nach zehn Jahren Forschung, sieben Jahre nach der Einführung eines an Produktivität und Gewinn orientierten Gesetzes hätten weitere sieben Jahre gereicht, um den Markt mit dem enormen Produktionsausstoß völlig zu sättigen. Heute gestehen die Forscher von damals ein, in ihren systematischen Analysen nicht daran gedacht zu haben, dass der Markt zur Aufnahme unendlicher Mengen Milch vielleicht gar nicht in der Lage sein könnte. Aber wie katastrophal die Auswirkungen dieser ersten Schritte einer Politik der Modernisierung der Viehhaltung auch immer waren – der Wasserkopf von Verwaltung und Bürokratie wird überleben. Und er wird noch mit der Beseitigung der Folgen dieses ersten Fiaskos – und derer die folgen – beauftragt werden, Maßnahmen, deren Wirksamkeit sich an den der Landwirtschaft zugefügten Deformationen messen wird.

  1. Gesetz Nr. 66-105 vom 28. Dezember 1966
  2. Die neuen englischen Rinderrassen, wie die Durham eigens für ein hohes Schlachtgewicht entwickelt, lassen sich in Frankreich nur schwer oder gar nicht einführen, weil nach speziellen ökonomischen Kriterien entwickelt, die den Bedürfnissen der französischen Bauern nicht entsprechen, für die die Kuh bis ins 20. Jahrhundert einen vielfältigeren Nutzwert hatte (Milch, Traktion, Fleisch, Mist).
  3. Das INRA (siehe Anm. 4) steht für den Beginn einer weltweit einmaligen wissenschaftlichen Methode zur genauen Berechnung der Futterrationen, diese hat in keinem anderen Land der Welt Schule gemacht. Sämtliche Futterarten (Strohfutter, Getreide, Abfallprodukte der Lebensmittelindustrie etc.) in allen ihren Formen wurden analysiert, um einen Nährwert entsprechend der Futterverwertung einer bestimmten Tierart und für ein vorausgesetztes Endprodukt zu ermitteln. So kann ein Stalltechniker mit Hilfe einer Software leicht die Zusammensetzung der Ration für eine Ziege bestimmen, die vier Liter Milch am Tag produzieren soll. Mit der Anwendung dieser Methode erschien das Soja als ein für bestimmte Leistungsparameter quasi unumgängliches Futtermittel in den Nährwerttabellen, wodurch es nun in allen Bereichen der Viehhaltung zum Einsatz kommt.
  4. INRA - Institut National de la Recherche Agronomique (Staatliches Institut für landwirtschaftliche Forschung), INSERM - Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (Staatliches Institut für Gesundheit und medizinische Forschung), INED - Institut National d’Etudes Démographiques (Staatliches Institut für demographische Studien).