LANDWIRTSCHAFT SCHWEIZ: Landarbeit unter Covid-19

von Johanna Herrigel, Sarah Schilliger, Ariane Zangger, Silva Lieberherr, 13.06.2020, Veröffentlicht in Archipel 293

Ende März und Anfang April 2020 wurde der akute Arbeitskräftemangel ausländischer Landarbeiter·innen in der Schweizer Landwirtschaft laut und breit angekündigt. Seither ist es hier bemerkenswert ruhig geworden zu diesem Thema, während in den umliegenden europäischen Ländern die mediale Debatte dazu weiterläuft. Was also ist passiert?

Fehlende ausländische Landarbeiter·innen?

Klagen aus der Landwirtschaft über fehlende Landarbeiter·innen sind nichts Neues. Katrina Ritter, Sprecherin vom Berner Bauern Verband (BEBV) erklärt gegenüber dem Bund: »Das Erstarken der Wirtschaft in Osteuropa hat dazu geführt, dass bereits in den Vorjahren weniger Saisonniers in die Schweiz kamen» (1). Die Covid-19-Krise zeigt die Problematik unseres Wirtschaftssystems auf, in welchem ‚systemrelevante‘ Arbeit in der Landwirtschaft und der Pflege zu Tiefstlöhnen an Pendel-migrant·inn·en ausgelagert wird. Sobald die Wirtschaft in den Herkunftsländern erstarkt, fehlen in den entsprechenden Branchen diese ‘systemrelevanten’ Arbeitskräfte. Zudem versuchen viele Leute, in anderen Ländern und anderen Branchen Arbeit zu finden, weil sich die schlechten Arbeitsbedingungen in der Schweizer Landwirtschaft herumsprechen. Da die Landwirtschaft als systemrelevanter Sektor zählt, war es für die Betriebe auch während des Lockdowns möglich, ausländische Mitarbeitende einzustellen. Die Situation war etwas komplizierter als sonst: Landarbeiter·innen mit Arbeitsvertrag konnten einreisen, mussten aber an der Grenze abgeholt werden, da die Fahrer nicht einreisen dürfen. (2) Christian Schönbächler, Leiter Kommunikation der Fruit-Union Schweiz (FUS), beobachtete »keine grösseren Probleme bei der Rekrutierung von Saisonarbeitern im Ausland oder in der Schweiz» (3). In normalen Jahren kommen rund 30‘000 ausländische ‘familienfremde’ Arbeitskräfte in die Schweiz. Wie viele es dieses Jahr sind, weiss niemand genau, wie auch der Schweizerische Gemüsebauverband bestätigt.(4) Gemäss Swissinfo kamen genug, um rund 80 Prozent des Bedarfs zu decken.(5) Dies zeigt auf, dass auch in der Krisenzeit die in der Landwirtschaft übliche just-in-time-Rekrutierung von Landarbeiter·inne·n funktionierte, die Landwirte und Landwirtinnen nutzen, um flexibel mit starken Schwankungen im Arbeitsaufwand umzugehen. Die verbleibende ‘Bedarfslücke’ an Arbeitskräften haben Personen gefüllt, die in der Schweiz leben und – meist bedingt durch den Covid-19-Lockdown – keine Arbeit hatten oder auf Kurzarbeit waren. Zentral hierfür sind digitale Stellenvermittlungsplattformen wie agrix.ch und agrarjobs.ch. Diese vermitteln gegen Gebühr offene Stellen zwischen Land-wirt·inn·en und Landarbeiter·in-ne·n. Während der Corona-Krise werden Stellen als temporäre Aushilfen kostenlos vermittelt. Angestellt ist die so vermittelte Person direkt bei den Landwirt·inn·en. Bereits Anfangs April vernahm man von Schweizer Landwirt·inn·en, dass sich mehr Personen in Kurzarbeit bei ihnen melden als benötigt.(6) Sie erzählten, dass inzwischen »weniger die fehlenden Hände das Problem [sind] als das fehlende landwirtschaftliche Know-how der Freiwilligen» (7)

Neuer Markt für Personalverleihagenturen?

Neben diesen landwirtschaftsspezifischen Stellenvermittlungsplattformen versuchen mit der aktuellen Krise auch andere Personalverleihagenturen, die Landwirtschaft als neuen Markt zu erschliessen. Anders als die oben erwähnten landwirtschaftlichen Online-Vermittlungen sind die Arbeiter·innen bei Personalverleihagenturen direkt angestellt und werden als temporäre Leiharbeiter·in-nen an Unternehmen vermittelt. Neuerdings verleihen diese Agenturen auch Arbeitskräfte an landwirtschaftliche Betriebe. Ein Paradebeispiel hierfür ist Coople, die europaweit führende Personalverleihplattform mit Sitz in der Schweiz. Sektoren wie Gastronomie, Hotellerie und Events, in welche Coople normalerweise Personal vermittelt, benötigen in der aktuellen Krise drastisch weniger Personal. Daher sind viele Coopler·innen nun ohne Arbeit. Initiiert von Martin Jucker, dem Gründer der Jucker Farm in Zürich Oberland, haben sich Coople, Gastronomie- und Landwirtschaftsverbände zusammengeschlossen (8). Mit dem neuen ‘Kooperationsmodell’ kann Coople Personen, die normalerweise in die Gastronomie vermittelt werden, nun Landwirt·inn·en als temporäre Leiharbeitskraft anbieten, zu einem Preis »ab ca. 17 Franken/Stunde», was »den Bruttolohn, alle Sozialabgaben und den administrativen Aufwand» (9) beinhaltet. Personen, die so eingesetzt werden, erhalten nicht 17 Franken pro Stunde, sondern den bisherigen, oft höheren Lohn und können »bei Aufhebung des Gastroverbots sofort zurück an den ursprünglichen Arbeitsplatz» (10). Die Lohndifferenz, so die Forderung der involvierten Verbände, solle vom Schweizerischen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) unter Berufung auf das Notrecht getragen werden, denn dies biete eine Win-Win-Win-Situation für Staat, Angestellte und Unternehmen (11). Anders ausgedrückt erwarten diese Unternehmen vom Bund, »dass er die notwendigen Massnahmen trifft, um die Löhne in der Landwirtschaft während dieser Ausnahmesituation marktgerecht zu subventionieren» (12). De facto trifft dies bereits zu, da für Personen in Kurzarbeit – auch jene bei Coople – der Zusatzverdienst in der Landwirtschaft nicht von der Kurzarbeitszeitentschädigung abgezogen wird. Laut Coople wurden bisher bei vier Landwirten Arbeitskräfte für rund 3000 Stunden eingestellt, vor allem für die Monate Mai und Juni, und mit etwa 20 bis 30 Landwirt·inn·en werden Einstellungsmöglichkeiten diskutiert (13). Diese niedrigen Zahlen verweisen darauf, dass temporärer Personalverleih in der Landwirtschaft noch in einer Experimentierphase steckt. Wie diese Entwicklung zu verstehen ist, erklärt Coople in erstaunlich expliziter Sprache (14): »das disruptive Coople-Modell zur Personalvermittlung [ist] die passende Antwort auf veränderte Bedürfnisse im Markt. Mit digitalen Lösungen, die Agilität und Flexibilität gewährleisten, kann man rasch auf Veränderungen im Markt reagieren, wie wir das aktuell mit der COVID-19-Krise erleben.» Die aktuelle Krise vorwiegend aus dem Gesichtspunkt der ‘veränderten Bedürfnisse im Markt’ zu betrachten und eine weitere Steigerung der Flexibilisierung von Arbeiter·inne·n mit entsprechend ‘disruptiven’ Arbeitsmodellen zu propagieren – solche Aussagen verheissen nichts Gutes für Arbeiter·innen.

Freiwilligenarbeit – gekoppelt an Systemwandel

In der Covid-19 Krise entstanden in einem rasanten Tempo neue Solidaritätsnetzwerke in verschiedenen Ländern und in unterschiedlichen Bereichen. In der Schweiz hat die Initiative »Landwirtschaft mit Zukunft» ein digitales »Landwirtschafts-Solidaritätsnetzwerk» gestartet, welches als Vermittlungsplattform für Freiwillige operiert. Ziel ist ein Online-Netzwerk, »welches es Bäuerinnen und Bauern erlaubt, den Bedarf an Arbeitskräften zu melden, und auf der anderen Seite jungen Menschen ermöglicht, einfach und rasch auf den Höfen in ihrer Nähe Unterstützung zu leisten» (15). Laut Dominik Waser von »Landwirtschaft mit Zukunft» meldeten sich über verschiedene Kanäle hunderte Freiwillige, die auf dem Feld helfen wollten. »Landwirtschaft mit Zukunft» konnte einige Freiwillige an rund ein halbes Dutzend Höfe vermitteln. Viele Landwirtschaftsbetriebe setzten jedoch längerfristig auf andere Lösungen. Solche Plattformen, die Freiwillige in die Landwirtschaft vermitteln, sind in ihrem Grundprinzip der Solidarität begrüssenswert. Sie ermöglichen ein näheres Zusammenkommen von Produzent·inn·en und Konsument·inn·en und eröffnen neue Perspektiven auf die Lebensmittel-Produktion. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass Freiwilligen-Arbeit häufig aus einer privilegierten gesellschaftlichen Position heraus geschieht; nicht jede Person kann es sich leisten, regelmässig unentgeltlich zu arbeiten, anstatt in jener Zeit einer (unter-)bezahlten Arbeit nachzugehen. Zudem steht Freiwilligenarbeit in einem zwiespältigen Verhältnis zu neoliberaler Politik, durch die gesellschaftliche Verantwortung und Aufgaben weg vom Staat und hin auf die individuelle Ebene von zivilgesellschaftlichem Engagement einzelner Personen, Haushalte und Vereine verlagert. Die Krise wird dabei durch zivilgesellschaftliches Engagement entschärft, ohne dass sich an den Strukturen grundsätzlich etwas ändert – zum Beispiel, dass auf staatlicher Ebene eine bessere Regulierung (z.B. durch verbindliche Normalarbeitsverträge oder Unterstellung der Landwirtschaft unter das Arbeitsgesetz) erfolgt. Freiwilligenarbeit ist daher wichtig, doch nicht per se eine unproblematische Antwort auf ineinander gekoppelte Gesundheits-, Wirtschafts- und Umweltkrisen. Dies heben auch Initiant·inn·en von »Landwirtschaft mit Zukunft» hervor. Dominik Waser zum Beispiel plädiert für möglichst viel Freiwilligenarbeit in der Landwirtschaft (oder anderen ‘systemrelevanten’ Branchen) – aber auf jeden Fall gekoppelt an einen breiteren Systemwandel (16).

Forderungen

Die Schweizer Landwirtschaft scheint in der aktuellen Krise glimpflich davongekommen zu sein und kann grösstenteils weiterhin auf das Reservoir an billigen und flexiblen Arbeitskräften aus osteuropäischen Ländern und Portugal zählen. Die sozialen Kosten für die Arbeiter·innen werden jedoch in der medialen und politischen Debatte kaum thematisiert. So ist die lange Reise aus Ländern wie Rumänien oder Polen in häufig engen Bussen mit einigen Ansteckungsrisiken verbunden. Inwiefern die in der Krise nötigen Schutzmassnahmen auf den Schweizer Höfen eingehalten werden, ist uns nicht bekannt. Hier wären Kontrollen nötig, um zu garantieren, dass sich Landarbeiter·innen an grundlegende Regeln wie die physische Distanz halten können, ein eigenes Zimmer und sanitäre Einrichtungen zur Verfügung haben, ihnen der Zugang zum Schweizer Gesundheitssystem gewährleistet und die Lohnfortzahlung bei Verdacht auf eine Ansteckung mit Covid-19 gesichert ist. Wichtig wäre, eine grundlegende Ursache der prekären Bedingungen stärker in den Fokus zu rücken: Von den Preisen, die Konsument·inn·en in den Supermärkten für die Produkte bezahlen, bleiben die höchsten Margen bei den Supermärkten, dem Handel und der verarbeitenden Industrie. Der Anteil, den die Bäuer·inne·n für sich beanspruchen können, nimmt stetig ab. Sogar von den Direktzahlungen und anderen staatlichen Unterstützungsleistungen für die Landwirtschaft geht ein beträchtlicher Teil an die vor- und nachgelagerte Industrie, also an die Lebensmittelverarbeitung, die Hersteller von Dünger und Pestiziden, von Landmaschinen oder Futtermitteln. Auch wenn die Bereitschaft für höhere Löhne für Arbeiter·innen oft da wäre, ist dies für viele Bäuer·innen kaum zahlbar. Gerade deshalb ist die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen für Landarbeiter·innen wichtig. Aktuell fordern auch gewisse Landwirtschaftsverbände, dass der Staat die Löhne der Landarbeiter·innen ‘marktgerecht’ subventionieren solle (17), doch geht diese Forderung einher mit Unternehmensmodellen, welche Flexibilisierung und disruptive Arbeitsmodelle vorantreiben. Es ist entsprechend wichtig, die Diskussion um Löhne an jene der allgemeinen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft zu koppeln. Bei der Solidarität gegenüber ausländischen Landarbeiter·in-ne·n geht es ganz konkret auch um eine Unterstellung unter das Arbeitsgesetz, um verbindliche Gesamtarbeitsverträge, um bessere Wohnbedingungen und um geregelte Arbeitszeiten.

*Die Autorinnen, die sich auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit Landwirtschaft beschäftigen, waren alle beteiligt bei der Vorbereitung der Konferenz »Widerstand am Tellerrand» vom Februar 2020 in Bern und engagieren sich über die Konferenz hinaus zum Thema Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft: widerstand-am-tellerrand.ch Neue Publikation von Agrisodu zu Landarbeiter und Landarbeiterinnen in Not: agrisodu.ch/index.php?lang=german

  1. zitiert in Der Bund, 1.4.2020: »Hilfe für Berner Bauern: Skilehrer helfen Spargeln stechen» 2., 3., 4. Bauernzeitung (7.5.2020). »Schweizer Landwirte haben in Covid-19-Krise genug Saisonarbeiter».
  2. Swissinfo, 6.5.2020: »Berner Bauern ziehen positive Bilanz zu Schweizer Erntehelfern».
  3. Siehe Zitate von Landwirten in Tagesanzeiger (1.4.2020): »Alle wollen den Bauern helfen»
  4. Aussage vom Verband der Gemüseproduzenten Bern-Freiburg, zitiert in Der Bund, 1.4.2020: »Hilfe für Berner Bauern: Skilehrer helfen Spargeln stechen».
  5. Juckerfarm, 24.3.2020, juckerfarm.ch/farmticker/antworten/und-wer-erntet-jetzt-die-spargeln/
  6. sbv-usp.ch/de/services/arbeitskraeftevermittlung/
    1. Zürichsee-Zeitung, 26.3.2020, »Landwirt Jucker will Gastronomen aufs Feld holen»
  7. Gemeinsame Medienmitteilung, 24.3.2020, »Kooperation von Schweizer Firmen und Landwirtschaftsverbänden zur Sicherung der Ernte 2020»: coople.com/ch/in-the-news/kooperation-von-schweizer-firmen-und-landwirtschaftsverbaenden-zur-sicherung-der-ernte-2020/
  8. Bauernzeitung (7.5.2020). »Schweizer Landwirte haben in Covid-19-Krise genug Saisonarbeiter».
  9. coople.com/ch/in-the-news/coople-erhaelt-auszeichnung-beste-personaldienstleister-fuer-temporaerarbeit-2020/
  10. www.landwirtschaftmitzukunft.ch/
  11. Telefongespräch der Autorinnen mit Dominik Waser, 5.5.2020
  12. Siehe Zürichsee-Zeitung, 26.3.2020, »Landwirt Jucker will Gastronomen aufs Feld holen» und coople.com/ch/in-the-news/kooperation-von-schweizer-firmen-und-landwirtschaftsverbaenden-zur-sicherung-der-ernte-2020/