LANDWIRTSCHAFT: Verordnete Einfalt

von Astrid Österreicher und Iga Niznik, Arche Noah, 10.05.2013, Veröffentlicht in Archipel 215

Derzeit wird in Brüssel eine umfassende Überarbeitung der EU-Richtlinien für die Vermarktung von Saat- und Pflanzgut vorbereitet. Der inoffizielle Verordnungsentwurf drängt seltene und traditionelle Sorten vom Markt und würde sogar kleine Land-wirt_innen, die dieses Saatgut austauschen oder weitergeben, mit Verwaltungsstrafen bedrohen. Industrielle Sorten können hingegen ihre Dominanz weiter ausbauen.

Uralte Kirschen, die Tomate aus Omas Garten, seltene Kartoffeln – viele der seltenen und alten Sorten von Obst, Gemüse und Getreide könnten schon bald für immer verschwinden. Die unmittelbare Gefahrenquelle ist aber nicht der anhaltende Artenschwund, der in den vergangenen Jahren auch in der Landwirtschaft zu schlimmen Verlusten geführt hat, sondern die neue EU-Saatgutverordnung. Seit 2008 wird in der Europäischen Union an einer Harmonisierung der EU-Richtlinien für das Inverkehrbringen von Saatgut und Pflanzgut gearbeitet. Aus den bestehenden über 12 EU-Richtlinien soll nun eine einzige EU-Verordnung werden. Zuletzt im November 2012 wurde ein inoffizieller Entwurf für die neue Verordnung publik. EU-weit schlagen nun die NGOs Alarm: Die darin vorgesehenen Regelungen schaden Landwirt_innen, die seltene Sorten anbauen, bevormunden Gärtner_innen, schränken Konsument_innen ein und schädigen die Umwelt. Würde die EU-Verordnung in ihrer jetzigen Fassung angenommen, wäre das für viele der Sortenraritäten, wie sie hauptsächlich von direktvermarktenden Betrieben angebaut werden, das Ende.

Behörden sagen, was Bauern sollen

Das EU-Saatgutverkehrsrecht regelt, technisch gesprochen, das Inverkehrbringen von Vermehrungsmaterial; sprich: wer welches Saatgut oder Knollen oder Edelreiser an andere Menschen weitergeben darf. Herzstück der Richtlinien und auch der neuen Verordnung sind behördliche Zulassungen von Sorten und Untersuchungen des Vermehrungsmaterials, wie sie sonst nur bei Produkten vorgenommen werden, die unmittelbar die menschliche Gesundheit betreffen, wie etwa Medikamente. Damit eine Sorte von Gemüse, Obst oder Getreide auf dem Markt weitergegeben werden darf, muss sie zuvor von Behörden als Sorte zugelassen und ihr Vermehrungsmaterial zertifiziert werden. Alte, traditionelle und seltene Sorten haben bei diesem Zulassungsverfahren keine Chance. Sie werden im Verordnungsentwurf stark diskriminiert.
Eine verpflichtende Sortenzulassung auch für die Weitergabe von seltenen Sorten, so wie derzeit angedacht, würde hohe Gebühren und einen hohen administrativen Aufwand für jene bedeuten, die das Saatgut oder Pflanzgut weitergeben wollen. Das betrifft sowohl das Verkaufen, als auch das Tauschen und Schenken von Saatgut. Geht es nach der EU-Kommission, dürfen Bäuerinnen und Bauern künftig nur noch Saatgut und Pflanzgut von zugelassenen Sorten weitergeben. Zudem müssten sich diese auch selbst bei der Behörde als «Betreiber» registrieren. Kleine bäuerliche Betriebe, die mit seltenen Sorten arbeiten – oft sind das zig verschiedene Sorten einer Art – müssten eine Vollzeitkraft einstellen, allein um die Bürokratie zu bewältigen, von den anfallenden Gebühren ganz zu schweigen. Große Agrarkonzerne, die nur wenige Sorten anbieten und diese im großen Stil vermarkten, haben einen Vorteil.

Diskriminierung seltener Sorten

Doch die eigentliche unüberwindbare Hürde ist der sogenannte DUS-Test. Dieser ist Voraussetzung für die behördliche Zulassung einer Sorte. Dabei wird geprüft, ob eine Sorte die Kriterien der Homogenität, Beständigkeit und Unterscheidbarkeit erfüllt – sprich: ob die Pflanze und ihre Früchte möglichst einheitlich sind. Diese Kriterien orientieren sich an Industriesorten – wir kennen ihre Früchte aus dem Supermarktregal. Sie sind sich annährend identisch. Denn das Paradigma der Produktionssteigerung – nicht aber etwa der Nachhaltigkeit – bestimmt noch immer die EU-Agrarpolitik. Seltene, alte oder bäuerliche Sorten können aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit diesen DUS-Test nicht bestehen. Denn seltene Sorten zeichnen sich durch genetische Breite aus – eben Vielfalt statt Einfalt. Genetische Breite ist aber kein Nachteil, der ausgesondert werden muss. Vielmehr ist die Vielfalt die Grundlage der Evolution bzw. Anpassung an veränderte Bedingungen, wie etwa Klimawandel, Schädlinge und Krankheiten.

Selten soll selten bleiben

Zudem hält die EU-Kommission in ihrem Entwurf an den bereits bestehenden Beschränkungen für seltene Sorten fest. Saatgut und Pflanzgut von seltenen Sorten darf auch künftig nur in einer anzugebenden «Ursprungsregion» der jeweiligen Sorte vermehrt werden und nur in begrenzten Mengen weitergegeben werden. Diese Einschränkungen bewirken, dass Sorten, die sich biologisch entfalten wollen, an politischen Grenzen halten müssen. Diese Beschränkungen wirken somit dem EU-Ziel, die genetische Vielfalt von Kulturpflanzen zu fördern, entgegen. Diese Beschränkungen haben auch nichts mit einer «freien Marktwirtschaft» zu tun, wie sie sonst immer von den Konzernen lauthals verlangt wird. Denn die Herstellung von Saatgut und Pflanzgut von seltenen Sorten ist rein nachfragegesteuert; es gibt keine Überproduktion. Im Gegensatz dazu steht die agrarindustrielle Produktion, die zuerst Tonnen produziert und dann durch Werbung zum Kauf animieren muss.

Noch läuft es in Österreich besser

Die aktuell noch bestehenden EU-Richtlinien wurden von manchen EU-Mitgliedsstaaten vielfaltsfreundlicher, von anderen vielfaltsfeindlicher ausgelegt. In Österreich etwa ist Saatguttausch mit seltenen Sorten ganz von der Marktordnung ausgenommen: Solange in kleinen Mengen getauscht wird. In der Praxis wurde auch der nicht gewinnorientierte Tausch gegen Geld akzeptiert – eine rechtliche Grauzone, in der sich etwa die österreichische Erhaltungsorganisation Arche Noah bewegt. Das ist keine Selbstverständlichkeit: In vielen anderen EU-Ländern ist das schon heute nicht möglich. Mit der neuen EU Verordnung fallen nationale Auslegungsspielräume weg. Kommt eine industriefreundliche Verordnung, so ist die Zukunft der Arche Noah und ihrer 6.500 Sorten ebenso ungewiss wie die aller anderen Organisationen und Privatleute, die alte Sorten erhalten und Saatgut weitergeben. Gewiss ist jedenfalls, dass die geplante Rechtslage Bauern und Bäuerinnen unter Verwaltungsstrafe verbietet, Saatgut von nicht registrierten Sorten weiterzugeben. Sie werden also vom freien Saatguttausch völlig ausgeschlossen. Wenn ein Bauer oder eine Bäuerin künftig Saatgut von einer nicht zugelassenen Sorte mit seinem Nachbarn tauschen will oder es herschenkt, dann droht ihm eine Verwaltungsstrafe. Man könnte sie nur noch illegal weitergeben. «Das wäre für viele seltene Sorten das Ende», sagt Beate Koller, Geschäftsführerin der Arche Noah. «Die Strafandrohung wird dazu führen, dass Saatgut von seltenen Sorten nicht mehr erhältlich sein wird. Seltene Sorten anzubauen, das Saatgut zu kaufen oder die Früchte weiterzugeben bleibt zwar weiterhin erlaubt, wird aber durch den eingeschränkten Zugang zum Saatgut verunmöglicht. Das kommt einer Illegalisierung der seltenen und alten Sorten gleich.»

Entwurf kommt Mitte 2013

Derzeit ist davon auszugehen, dass der offizielle Vorschlag der Kommission Mitte 2013 vorgelegt wird. Daraufhin wird er an das Europäische Parlament und den Europarat übermittelt. Als nächstes müssen die Landwirtschaftsmini-ster_innen der Mitgliedsländer und die EU-Abgeordneten über die Verordnung befinden und können sie auch abändern. Damit die Verordnung in Kraft treten kann, braucht es ihre Zustimmung. Der gesamte Prozess wird mindestens einige Monate dauern – vielleicht auch länger. Die gute Nachricht ist, dass es noch viel Spielraum gibt, um die neue Verordnung wesentlich zu verbessern und das Überleben unserer Sortenraritäten zu sichern. Dies ist eine große Chance, denn rechtliche Rahmenbedingungen können das Verschwinden der Kulturpflanzenvielfalt aufhalten oder weiter forcieren.

Industrie macht «gute» Arbeit

Die Interessen der Agrarindustrie sind in Brüssel stärker vertreten als jene der Kleinbäuer_innen. So beträgt etwa das Budget der wichtigsten Interessensvertretung progressiver Kleinbäuer_innen, Via Campesina, in Brüssel ca. 150.000 Euro im Jahr. Das ist 17-mal weniger als die Lobbyausgaben des Brüsseler Büros von Bayer CropScience, einem der umsatzstärksten Agrarkonzerne (CEO 2012, S.10). Auch die Überarbeitung des EU-Saatgutrechts ist von industriellen Interessen geprägt. Frau Isabelle Clément-Nissou, eine Mitarbeiterin der halbstaatlichen Berufsvertretung der französischen Saatgutfirmen GNIS, leitet die Erarbeitung der Gesetzesvorlage. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Der Harmonisierungsprozess dauert bereits sehr lange – seit 2008. Der Widerstand der Erhaltungsorganisationen und Bio-Bauern und Bäuerinnen kann nicht mehr ignoriert werden. «Bei einem Treffen mit verschiedenen Stakeholdern in Brüssel hatte ich den Eindruck, dass die Saatgutindustrie langsam nervös wird – sie fragen sich, warum die Verordnung nicht schon längst verabschiedet ist», erzählt Arche Noah -Obmann Christian Schrefel.
Die Analyse der Vorschläge der EU-Kommission führt Arche Noah zu dem Schluss, dass eine Marktordnung mitsamt ihrer behördlichen Prüfungen ein Relikt aus der Vergangenheit ist. Die behördlichen Prüfungen haben einen historischen Hintergrund: Als vor rund fünfzig Jahren die Nationalstaaten ihre Märkte für ausländisches Saatgut öffneten, war die Angst vor Betrug groß. Um nicht mit minderwertigem Saatgut vom Nachbarn überschwemmt zu werden, mussten sich Betreiber_innen registrieren und das Vermehrungsmaterial musste geprüft werden. Heute ist das überholt. Bestmögliche Saatgutqualität – und damit Schutz vor Betrug – ist den Landwirt_innen auch ohne behördliche Prüfungen durch Erzeugergarantien gewiss. «Die beste Regulierung, wäre gar keine Regulierung», sagt Beate Koller von Arche Noah. «Das hat sogar die EU-Kommission selbst in ihrem Options and Analysis paper vom Mai 2011 als Option in den Raum gestellt.»

Was tut die Arche Noah, um die Vielfalt zu erhalten?

Der Verein Arche Noah, der sich für die Erhaltung und Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen einsetzt, fordert, dass Tausch und Weitergabe von eigenem Saatgut legal bleiben müssen. Seltene und alte Sorten müssen vom Registrierungsverfahren ausgenommen werden. In der Genbank des Vereins und seiner 10.000 Mitglieder im niederösterreichischen Schiltern werden derzeit rund 6500 Sorten, hauptsächlich von Gemüse, erhalten. Der Verein betreibt dazu einen Vermehrungsgarten für seltene Sorten. Darüber hinaus ist die Sortenerhaltung dezentral organisiert und erfolgt in Gärten und auf Höfen von Mitgliedern. Den immer enger werdenden Zugang zu samenfestem Saatgut hat der Verein zum Anlass genommen, sich verstärkt auf politischer Ebene zu engagieren. Bereits zwei «Offene Briefe», von tausenden Bürger_innen in Europa unterstützt, wurden an Entschei-dungsträger_innen in Brüssel übergeben. Täglich kommen unter www.seedforall.at neue Unterschriften dazu – unterschreiben auch Sie!
Von 19. bis 21. April veranstaltete Arche Noah in Wien einen Workshop mit dem Thema How to protect our seeds?, an dem Erhaltungsorganisationen aus Armenien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Griechenland, Österreich, Kroatien, Lettland, Mazedonien, Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Türkei und Ungarn teilnahmen. Ziel des Treffens war die Vernetzung der Organisationen, die sich in ihren Ländern für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt stark machen. Vielen dieser Organisationen fehlen die Ressourcen, um die neue EU-Saatgut-Verordnung zu analysieren. Die gemeinsame Analyse der vorgeschlagenen EU-Saatgutverordnung war wichtiger Inhalt des Workshops, um gemeinsam auf europäischer Ebene mehr erreichen zu können. Bereits im November 2012 fand der erste Workshop statt, um die europäischen Erhaltungsorganisationen zu aktivieren, sich in ihren Ländern an Politik und Presse zu wenden.

Die Vielfalt schützen

Der Schutz der Kulturpflanzenvielfalt ist mehr als eine Wohltätigkeitsveranstaltung für ein paar «arme Pflanzerl», die sonst aussterben würden. Traditionelle und seltene Sorten sind oft lokal angepasst und bieten daher eine wichtige Grundlage, um in der Landwirtschaft mit weniger Pestiziden, Düngemitteln und Wasser auszukommen. Sie sind daher eine notwendige Ressource für die dringend erforderliche Ökologisierung der Landwirtschaft. Die Vielfalt an Kulturpflanzen ist eine Schatzkammer. Sie sichert, dass unsere Landwirtschaft sich an veränderte Umweltbedingungen - Stichwort Klimawandel, neue Krankheiten oder Schädlinge - anpassen kann. Die Produktivität unserer Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit sind direkt von dieser Vielfalt abhängig. Umso dramatischer sind die Ergebnisse einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO, wonach seit dem Jahr 1900 etwa 75 Prozent aller in der Landwirtschaft genutzten Kulturpflanzensorten ausgestorben sind, weil sie von Hochleistungssorten aus dem Anbau verdrängt wurden. Laut offiziellen Schätzungen wird uns Europäer_innen der Artenschwund im Jahr 2050 die unvorstellbare Summe von mehr als 1,1 Billionen Euro pro Jahr kosten.

Mehr Infos auf:
http://saatgutpolitik.arche-noah.at
Quellen:

  • Corporate Europe Observatory, 2012, Agribusiness CAPturing EU research money? Industrial farming lobby fights shift to more sustainable agriculture.
  • Europäische Kommission, 2011, Options and analysis of possible scenarios for the review of the EU ligislation on the marketing of seed and plant propagating material.