LATEINAMERIKA: Soziale Bewegungen 2007

von Raul Zibechi*, 17.02.2007, Veröffentlicht in Archipel 146

Die sozialen Bewegungen in Südamerika sind mit einer noch nie da gewesenen Situation konfrontiert: Die Mehrheit der Regierungen des Kontinents definiert sich als fortschrittlich oder linksgerichtet. Diese Bewegungen haben massgeblich zu dieser Realität beigetragen. Heute aber laufen sie Gefahr, genau wegen dieser Situation in ihrer Entwicklung blockiert zu werden.

Tatsächlich berufen sich sieben von zehn südamerikanischen Regierungen auf die sozialen Bewegungen in ihrem Land. Diese neue Situation hat einen so grossen Einfluss auf die Bewegungen, dass diese nicht mehr so weiter arbeiten können wie bisher.

Es gibt, grob gesagt, zwei wesentliche Unterschiede in Bezug auf die vorhergehende Periode. Einerseits steht der Gegensatz zwischen neoliberalen Regierungen und sozialen Bewegungen nicht mehr im Vordergrund. Die wachsende Polarisierung zwischen den neuen Regierungen und den alten Eliten, die heute neue Themen und Richtlinien haben, verändert die Rolle der Bewegungen. In Venezuela und Bolivien gelingt es der Rechten, einen bedeutenden Teil der Bevölkerung zu mobilisieren und, im Fall Boliviens, autonomistische Vorschläge zu erarbeiten, die sehr effizient zur Homogenisierung der Gesellschaft beitragen. Etwas Ähnliches könnte sich in Equador ereignen, wenn Rafael Correa am 15. Januar sein Amt antritt. In Argentinien schliesst sich die Rechte zusammen, um den Kampf für die Menschenrechte zu behindern. Es ist ihr auch gelungen, einen grossen «Agrarstreik» gegen die Landwirtschaftspolitik von Nestor Kirchner zu organisieren. In Brasilien war die Korruption das Hauptthema der Rechten während der Wahlkam-

pagne.

Neu daran ist, dass es der Rechten gelingt, Teile der Mittelklasse zu mobilisieren und manchmal mit Hunderttausenden Sympathisanten auf die Strassen zu gehen. In diesen Fällen sind die Forderungen der sozialen Bewegungen nicht nur deplaziert, die Bewegungen sehen sich auch gezwungen, Regierungen zu unterstützen, mit denen sie oft nur teilweise auf der gleichen Wellenlänge sind.

Andererseits beginnt sich eine neue Beziehung abzuzeichnen zwischen Kräften der fortschrittlichen und linken Regierungen und Bevölkerungsgruppen, welche die Basis der Sozialbewegungen bilden. Es sind komplexe Beziehungen, die in der Mehrheit der Fälle auf einer früheren Politik zur Bekämpfung der Armut beruhen. Es gibt grob gesagt zwei «Modelle» auf dem Kontinent: das von Ecuador und in gewissem Masse von Bolivien. Es geht hier darum, dass die sozialen Organisationen via PRODEPINE (Projekt für die Entwicklung der indianischen und schwarzen Völker von Ecuador), das in der Mitte der 1990 Jahre lanciert wurde, die Hilfsprogramme selbst erarbeiten und umsetzen. Diese Programme haben die Bewegungen von Grund auf verändert. In Ecuador kam es beinahe zur Spaltung der Konföderation der Indigenen Völker (CONAIE), jedenfalls ging sie sehr geschwächt aus dieser Phase hervor.

In Brasilien, Argentinien und Uruguay gehen die von den Regierungen durchgeführten Massnahmen gegen die Armut einen qualititativen Schritt weiter als die früheren Programme, doch sie werden alle wie in der Vergangenheit von der Weltbank finanziert. Genau genommen kann man nicht mehr von einer «gezielten» Politik sprechen, denn sie betrifft 25 Prozent der Bevölkerung Brasiliens und zwischen 10 und 20 Prozent der Argentinens und Uruguays. In Wirklichkeit geht es hier um eine neue Konfiguration der Beziehungen zwischen den Staaten und den ärmeren Schichten der Bevölkerung, die sich von denen in der Zeit der Wohlfahrtsstaaten stark unterscheiden.

Im Endeffekt beeinträchtigt die aktuelle Politik die Handlungsfähigkeit der Bewegungen, anders gesagt der organisierten Armen. Sie stellen auch die in der neoliberalen Phase erworbene Autonomie in Frage. Zwei Faktoren sind dafür verantwortlich: Die Subventionen führen zu klientelistischen, d.h. vertikalen Beziehungen zwischen den «sozialen» Ministern und den nicht organisierten armen Massen, die sich zur Zeit leicht mobilisieren lassen. Parallel dazu bekleiden zahlreiche Führungskräfte der sozialen Bewegungen Posten innerhalb der fortschrittlichen Regierungen und distanzieren sich von ihren Organisationen oder bringen sie in ein untergeordnetes Verhältnis zu den Regierungen, für die sie arbeiten.

Angesichts dieser neuen Verhältnisse ist es unnötig zu wiederholen, was bisher Erfolge gezeigt hat. Die Veränderungen erkennen ist der erste Schritt, um die derzeitige Schwäche zu bekämpfen. Die kulturelle, politische und materielle Autonomie stärken scheint nötiger denn je, um die derzeitigen Schwierigkeiten zu überwinden. Auf unserem Kontinent haben neben den Zapatisten die landlosen Bauern Brasiliens die klarste Analyse. Sie zögerten nicht, Lula beim zweiten Wahlgang zu unterstützen, um der Rechten den Weg zu versperren. Doch sie haben sofort danach eine Kampagne lanciert weil Lula ohne Druck von unten keinen Finger für die Agrarreform rühren wird. So nötig es oft ist, wird die Präsenz auf der Strasse jedoch nicht alle Probleme lösen. Wie João Pedro Stedile, Koordinator der MST, betont, muss die neue Situation laufend analysiert und besser verstanden werden.

Schliesslich scheint es unumgänglich, neue Beziehungen zwischen den organisierten Bewegungen und den nicht organisierten Teilen der Basis aufzubauen. Sonst wird es nicht möglich sein, neue Initiativen zu ergreifen. Aber wir wissen noch nicht wie, mit wem und wo. Alles deutet darauf hin, dass die Randgebiete der Grossstädte die Schauplätze künftiger Revolten sein werden. Die Landlosen rechnen mit der Hip-Hop-Bewegung, d.h. mit den jungen, schwarzen Armen. In Buenos Aires zeichnen sich Beziehungen ab zwischen Jungen, die sich bei den Piquetes mobilisiert haben, den Jugendlichen aus den Vorstädten und den paraguayanischen und bolivianischen Immigranten. In diesen von den Mächtigen – auch den «fortschrittlichen» - verteufelten Zonen gibt es ein Potential, um neue Bewegungen aufzubauen.

Raul Zibechi*

  1. Januar 2007

*Raul Zibechi ist Uruguayaner, Journalist und Schriftsteller, verantwortlich für die internationale Sektion in der Wochenzeitung Brecha (Montevideo). Er hat mehrere Bücher über die sozialen Bewegungen in Lateinamerika verfasst.