Wie bereits im Mai berichtet*, reiste ich mit «Graines & Cinéma» (Saatgut & Film) im letzten Frühjahr über Griechenland und die Türkei in den Libanon. Unser Ziel: Saatgut zu den Menschen in den Flüchtlingslagern zu bringen. Hier meine Eindrücke von fünf Monaten im Libanon.
Vom Schiff aus sehe ich schon die Luftverschmutzung, die den Hafen von Tripolis unter einem grauen Schleier versteckt. Die Schifffahrt ab Mersin hat vierzehn Stunden gedauert; ich habe nicht sehr gut geschlafen. Das Schiff aus den 1980-er Jahren ist alt und schmutzig. Ich habe es vorgezogen im Kastenwagen zu schlafen, in Sicherheit vor all diesen kleinen Tierchen, die es überall gibt.
Kaum im Libanon angekommen, werde ich mit der überall präsenten Militarisierung konfrontiert und den Hunderten von Check-Points, die den Zivilverkehr kontrollieren und Stadtteile, Gemeinden, Städte und Regionen voneinander abgrenzen. Das Leben in der Metropole ist chaotisch und angespannt.
Normalerweise sind die Dörfer und Stadtteile mehr oder weniger nach Konfessionen eingeteilt: Maroniten, Drusen, Schiiten, Sunniten oder Christen. Jede der Konfessionen betreibt viel Propaganda. Zum Beispiel sieht man bei den Maroniten auf der Strasse das maronitische Kreuz, grosse Bilder vom heiligen Maron oder Charbel Makhlouf, begleitet von religiösen Parolen. Ebenso sieht man in den schiitischen Dörfern der Hisbollah (schiitische «Partei Gottes») eine Galerie von Märtyrern, die sich für ihr Land oder während des Kriegs in Syrien opferten. Oft fährt man auch an riesigen Plakaten vorbei, geschmückt mit den Anführern der Hisbollahpartei wie Hassan Nasrallah.
Für unsere Aktivitäten fahren wir mit unserem Kastenwagen von Region zu Region, von einem Treffen zum anderen. Im Libanon kennen nur unsere engsten Freund_innen das Projekt Graines & Cinéma und unsere kritische Haltung zum Krieg. Wir arbeiten mit den hiesigen Bäuerinnen und Bauern zusammen und unterstützen Syrier_innen in den Flüchtlingslagern mit dem Anlegen von kleinen Gemüsegärten.
Über den Krieg in Syrien und vor allem über die Beteiligung der Hisbollah zu sprechen, ist praktisch tabu. Die Medien im Libanon schreiben darüber mit viel Takt und Zurückhaltung; die öffentliche Meinung ist sehr gespalten. Die Anhänger des Westens und Saudiarabiens und die Gegner von Assad kritisieren diese Haltung «die Wahl der Hisbollah, einen Diktator und Henker seines Volkes zu unterstützen, bringt die Sicherheit des Landes in Gefahr». Worauf die Anführer der Partei antworten: «Die Hisbollah kämpft nicht für Assad in Syrien. Sie kämpft für den Libanon und die Stabilität der gesamten Region, von welcher der Libanon direkt abhängig ist.»
Angesichts der Komplexität dieser Situation, und auch um uns zu schützen, sind wir nur selten auf das Thema eingegangen.
Ein Netzwerk für Saatgut
Mit dem Verein «Soils Permaculture» können wir ein Dutzend libanesische Bäuerinnen und Bauern dazu gewinnen, sich für den Aufbau eines Netzwerks für die Produktion und Vermehrung von bäuerlichem Saatgut einzusetzen. Sie wählen verschiedenes Saatgut aus, vor allem Tomaten, Kürbisse, Salat, Bohnen…, je nach Lust und Möglichkeit, wissend, dass sie auf die Grundregeln der Bestäubung achten müssen, um unerwünschte Kreuzungen zu vermeiden. Das produzierte Saatgut soll zu einem Teil den Landwirt_innen selbst zugute kommen, zu einem weiteren Teil dem solidarischen Netzwerk für die syrischen Geflüchteten im Libanon. Der letzte Teil ist für die Gemüsegärten in Syrien bestimmt.
Während unserer Besuchstournee werden wir oft auf der Strasse angehalten. «Woher kommt ihr? Was macht ihr im Libanon?» Mit der libanesischen Armee läuft das ganz glimpflich ab, mit Hamal und Hisbollah ziehen sich die Befragungen oft in die Länge, und manchmal müssen wir uns auch in ein Kommissariat begeben.
In Saida, der Bananenfarm unseres Freundes Hassan, legen wir unsere ersten Pflanzenparzellen an. Ein Teil unseres Saatguts bleibt bei Hassan, den Rest bringen wir nach Taanayel zu einem Bauernhof, auf dem wir einen Monat später unseren pädagogischen und experimentellen Garten für Saatgutproduktion anlegen.
Wahlen in Beirut
Samstag, 15. Mai: an diesem Wochenende gibt es Wahlen und ich nehme in Beirut an einem Treffen der Bewegung «Beirut Madinati» teil.
Im Libanon fanden seit sechs Jahren keine Wahlen mehr statt, seit zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten und seit 2009 kein Parlament mehr. Die Wahlbüros öffnen um sieben Uhr morgens. Am 22. Mai wird im Südlibanon und in Nabatiyé, am 29. Mai im Nordlibanon und Akkar gewählt. Die Bewegung «Beirut Madinati» wurde nach der Krise der Müllentsorgung gegründet. Sie hat hauptsächlich ökologische Probleme auf ihre Fahnen geschrieben, aber – wenn auch mit grosser Vorsicht – denunziert sie den Mangel an Transparenz und die riesige Lobby des libanesischen Staates.
Zur allgemeinen Überraschung vermochte diese neue Partei 40 Prozent der Bürger_innen Beiruts zu begeistern. Aber die Koalition «Front der Zukunft», mehrheitlich von den Sunniten unterstützt, konnte sich zum Leid Beiruts trotzdem an der Macht halten.
Im Bekaa-Tal
Zurück in die Felder von Bekaa. Wir befinden uns auf dem Jesuitengut von Taanayel. Das Thermometer zeigt 40 Grad an. Wir müssen die landwirtschaftliche Behörde etwas unter Druck setzen, damit sie die Vorbereitungsarbeiten auf der Parzelle anpackt. Wir sind im Rückstand in der Jahreszeit; es ist schon Mitte Juli. Wolken sind in dieser Zeit selten. Es ist trocken und die Sonne brennend heiss. Während der glühendsten Hitze suchen wir einen schattigen Platz, um uns auszuruhen; sobald die Hitze leicht abnimmt, machen wir uns wieder an die Arbeit. Seit anderthalb Monaten, von morgens bis abends, bearbeiten wir den Boden, pflanzen Tomaten, Auberginen, Bohnen, Salate, Zucchini, Melonen und Gurken. Nach und nach nimmt dieser Raum Form an. Er soll landwirtschaftlich, gastfreundlich, pädagogisch und poetisch sein. Er soll lange währen und er beinhaltet auch die Ausbildung von Landarbeiter_innen in ökologischer Landwirtschaft. Das an Ort und Stelle produzierte Saatgut ist mehrheitlich für die Konfliktzonen in Syrien vorgesehen. Die angebauten Sorten entsprechen den Anfragen der Leute, die das Saatgut erhalten. Ein Teil ist auch für die Gärten in den Flüchtlingslagern und für das Netzwerk von libanesischen Saatgutproduzent_innen vorgesehen.
Bei den weissen Wellen, die ich im Horizont sehe, wie eine Düne am Strand, handelt es sich in Wirklichkeit um Flüchtlingslager, die sich auf das Bekaatal verteilen. Das Bild dieser Flüchtlingslager weckt in mir ein Gefühl der Angst und Ohnmacht. Ich weiss, was hinter diesen Plastikflächen des UNHCR (Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen) steckt. Laut den Angaben des HCR gibt es heute ungefähr 21,3 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. 54 Prozent von ihnen stammen aus drei Ländern: Somalia, Afghanistan und Syrien. Im Libanon gibt es laut offiziellen Angaben 1,2 Millionen Flüchtlinge, die NGOs vor Ort zählen jedoch bereits 1,7 bis 2 Millionen allein aus Syrien Geflüchtete.
Garten im Flüchtlingslager
Mit den Vereinen «Syrian Eyes» und «Soils Permaculture» beginnen wir in den Lagern ein Gemüsegartenprojekt, sowohl für die Nahrungsmittel- als auch für die Saatgutproduktion. Saatgut für die Lager, in denen keine Ernährungssouveränität existiert. Eine vom libanesischen Staat auferlegte Regelung verbietet jegliche Bearbeitung des Bodens! Es ist also verboten, auch nur einen Schimmer von Autonomie zu erschaffen! Um diese staatliche Strategie zu umgehen, beschaffen wir Gefässe und bauen Strukturen mit Behältern auf, sodass die Pflanzen nicht direkt mit dem Boden in Berührung kommen. Das funktioniert auch.
Es ist keineswegs einfach, sich in den Flüchtlingslagern aufzuhalten. Die Kinder sind oft lästig und anstrengend. Sie begutachten uns mit ihrem pfiffigen Lächeln. Die Älteren hingegen sind sehr freundlich und respektvoll, sie laden uns oft zu ihrem berühmten syrischen Tschai ein, der aus drei Viertel Zucker besteht, eine richtige Kalorienbombe für den ganzen Tag.
Die Flüchtlinge im Libanon verfügen über einen äussert geringen juristischen Freiraum, der Libanon hat die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nie ratifiziert. Das vergrössert die Verletzlichkeit der Flüchtlinge bezüglich ihrer Ausbeutung in der Landwirtschaft in der Bekaaebene. In Bar Elias machte ich Bekanntschaft mit einer Dokumentarfilmemacherin, Brigitte Auger, die eine Reportage über die Kinderarbeit in den Feldern der Bekaa machte. Sie versucht eine Realität zu anzuprangern , die sie folgendermassen erklärt: «Erwachsene Flüchtlinge mit ihrer eingeschränkten Handlungsfreiheit müssen oft die Kinder an ihrer Stelle zur Arbeit schicken, weil diese weniger Gefahr laufen, verhaftet zu werden. Als Konsequenz können diese Kinder nicht in die Schule gehen und leiden noch mehr unter Missbrauch und Ausbeutung.»
August: Der Garten von Taanayel bringt die ersten Ernten hervor. Wallid, ein Syrer, verwaltet mit uns den Gemüsegarten. In den Flüchtlingslagern füllen sich Blechkübel und kleine Paletten mit grünem Gemüse und erste Erzeugnisse zeigen uns ihre Schönheit.
Nach fünf Monaten Aufenthalt im Libanon liegt mir eine einzige Sache am Herzen, und zwar: der sofortige Stopp der Bombardierungen in Syrien! Die Syrerinnen und Syrer, denen ich begegnen durfte, wollen alle nach Hause zurückkehren. Doch nach vierzig Jahren Diktatur und durch den von verschiedenen Seiten geschürten Krieg sind die syrischen Menschen tagtäglich mit Gewalt, Terror und Verzweiflung konfrontiert. Die Völkergemeinschaft gibt sich hilflos, eingeklemmt zwischen geopolitischen Fragen und absurden ökonomischen Interessen.
* Fortsetzung des Artikels «Ein neuer Frühling», Archipel Nr. 248, Mai 2016