MALI: Der weisse Marsch

von Afrique-Europe-Interact Januar 2013, 23.03.2013, Veröffentlicht in Archipel 212

Eine «Bürgerkarawane für den Frieden», die schon vor Monaten von Bürgerinnen und Bürgern in Mali als «weisser Marsch» von Mopti nach Douentza geplant wurde, um die laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Land zu stoppen, kämpft weiter um Dialogmöglichkeit. Die Marschroute wurde vom französischen Militär gesperrt. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Aktivisten_innen bemühen sich, zwischen den islamistischen Milizen und der neokolonialen Intervention, zu verhindern, dass Mali in so einem Zustand endet wie Afghanistan oder Somalia. Sie brauchen unsere Unterstützung!

Die Initiative ist beeindruckend: Ende Januar oder Anfang Februar 2013 sollen bis zu 5 000 Menschen zu einem mehrtägigen Friedensmarsch von Mopti nach Douentza aufbrechen – also von der letzten nicht von islamistischen Milizen gehaltenen Stadt im Norden Malis zur ersten, die unter islamistischer Besatzung steht. Mit dem «Weißen Marsch» (marche blanche), wie ihn die InitiatorInnen von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact nennen, soll der vornehmlich von der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, der EU und Teilen der malischen Regierung forcierten militärischen Intervention gegen die Islamisten eine klare Absage erteilt werden – auch wenn die am 9. Januar gestartete Offensive islamistischer Kräfte Richtung Süden den politischen Druck auf eine derartige Friedensinitiative enorm erhöht hat. Der Marsch wird mindestens 40 000 Euro kosten (jenseits individuell getragener Ausgaben), nicht zuletzt für die aufwändige Logistik in wüstenähnlicher Umgebung sowie Verpflegung und Transport. Mindestens die Hälfte des Geldes dafür muss in Europa aufgebracht werden – deshalb rufen wir zu steuerlich abzugsfähigen Spenden auf, ob in kleinen oder großen Portionen. Denn der Weiße Marsch könnte sich für die malische Bevölkerung als echte Chance entpuppen, würde sie doch von einer kriegerischen Auseinandersetzung noch stärker in Mitleidenschaft gezogen werden, als das heute bereits der Fall ist. Und das Projekt einer dialog-
orientierten Lösung könnte sich nach zahlreichen fehlgeschlagenen Interventionen – insbesondere in Afghanistan und Somalia – als leuchtturmartige Alternative gegenüber dem bis heute insbesondere im «Westen» als alternativlos geltenden «Krieg gegen den Terror» erweisen.

Hintergrund des Konflikts

Seit Ende Juni 2012 wird der gesamte Norden Malis von drei islamistischen Milizen – Ansar Dine, Aqmi (Al Quaida im Maghreb) und MUJAO – beherrscht. Vorausgegangen war eine im Januar 2012 begonnene Rebellion der neu gegründeten Tuareg-Organisation MNLA sowie ein von großen Teilen der malischen Bevölkerung bis heute begrüßter Putsch gegen den langjährigen Präsidenten Amadou Toumani Touré am 22. März 2012. Entsprechend dramatisch sind die Konsequenzen dieser Mehrfachkrise: Erstens mussten seit Beginn der Auseinandersetzungen knapp 500 000 Menschen fliehen, teils in Nachbarländer, teils in den Süden Malis. Zweitens hat sich die ohnehin angespannte Ernährungslage im vergangenen Jahr massiv zugespitzt: Konkret sind derzeit ca. 4,6 Millionen Menschen von Lebensmittelunsicherheit in Mali bedroht, wobei vom Welternährungsprogramm gerade mal 360 000 Menschen im Süden und 148 000 im Norden erreicht werden. Drittens ist seitens der islamistischen Milizen im Norden ein brutales, von der Bevölkerung nahezu einhellig abgelehntes Scharia-Regime errichtet worden – mit katastrophalen Konsequenzen ins-besondere für Mädchen und Frauen. Viertens ist die gesamte Wirtschaft des ökonomisch sowieso extrem armen bzw. arm gemachten Landes negativ betroffen – unter anderem deshalb, weil die reichen Industrieländer im Zuge des Putsches die so genannte Entwicklungshilfe weitgehend zurückgefahren haben: So mussten allein in der Hauptstadt Bamako im vergangenen Jahr 20 Prozent der Fabriken schließen, 60 Prozent haben Entlassungen vorgenommen. Insgesamt haben mehrere zehntausend Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, während gleichzeitig die Preise für Brennstoff, Gas und Güter des täglichen Bedarfs massiv angestiegen sind, zum Teil um hundert Prozent.

Eine dialogorientierte Lösung?

Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte verständlich werden, weshalb die InitiatorInnen des Marsches eine militärische Lösung im Norden strikt ablehnen. Denn Krieg würde lediglich neues Leiden für die Zivilbevölkerung bedeuten, zitiert seien stellvertretend Schätzungen von UN-nahen Hilfsorganisationen, wonach eine militärische Auseinandersetzung im Norden Malis zu weiteren 700 000 Flüchtlingen führen könnte – was im Übrigen auch der Grund ist, weshalb Algerien zynischerweise begonnen hat, mitten in der Wüste entlang der Grenze zu Mali einen 1,5 Milliarden teuren High-Tech-Zaun zu errichten. Hinzu kommt die Sorge vor einem nicht enden wollenden Guerillakrieg – inklusive Terroranschlägen im Süden des Landes, vor allem in der Millionenmetropole Bamako. Mit Blick auf vergleichbare Beispiele wie Afghanistan, Somalia, Irak oder Nigeria spielt in diesen Zusammenhang auch die Erfahrung eine maßgebliche Rolle, dass islamistische Bewegungen häufig gestärkt aus bewaffneten Auseinandersetzungen hervorgegangen sind, und das vor allem deshalb, weil es innerhalb der Bevölkerung zu Polarisierungs- und Solidarisierungseffekten kommt, sobald zivile Opfer zu beklagen sind.
Wenn von dialogorientierter Lösung die Rede ist, dann waren damit ursprünglich die bis Anfang Januar in Burkina Faso und Algerien laufenden Verhandlungen der malischen Regierung mit Ansar Dine sowie der Tuareg-Organisation MNLA gemeint. Denn anders als Aqmi und MUJAO setzt sich Ansar Dine mehrheitlich aus malischen Kämpfern zusammen. Viele von ihnen sind Tuareg, mehr noch: gegründet wurde Ansar Dine von dem früheren (damals noch nicht islamistisch orientierten) Tuareg-Führer Iyad Ag Ghaly, der seit Jahrzehnten eine zentrale Figur des politischen Lebens in Mali ist. Erwartet wurde also, dass es kurz- bis mittelfristig möglich sein müsste, einen Keil zwischen Ansar Dine einerseits und Aqmi und MUJAO andererseits zu treiben und dadurch letztere militärisch und politisch zu isolieren und sie somit – als einem ersten Schritt – wieder in den äußersten Norden des Landes zu jagen, wo sie bereits seit vielen Jahren das Transsahara-Schmuggelgeschäft (u.a. Kokain und Zigaretten) mitbestimmen.

De facto Krieg

Diese von vielen Menschen in Mali geteilte Hoffnung hat sich allerdings am 3. Januar zerschlagen, nachdem Ansar Dine seine zwischenzeitlich in Aussicht gestellte Verhandlungsbereitschaft in einer Art Paukenschlag aufgekündigt und stattdessen zusammen mit Aqmi und MUJAO die bewaffnete Auseinandersetzung mit der malischen Armee an der südlichen Demarkationslinie gesucht hat (inklusive Intervention französischer Soldaten). Es dürfte insofern kaum überraschen, dass sich hierdurch die politische Ausgangslage des Weißen Marsches grundlegend geändert hat – und das nicht nur, weil derzeit de facto Krieg herrscht, sondern auch, weil mittlerweile die Stimmung innerhalb der Bevölkerung zugunsten einer breit verankerten Kriegsbereitschaft spürbar gekippt ist. Und doch machen sich die InitiatorInnen des weißen Marsches weiterhin für eine dialogorientierte Lösung des Konflikts stark. Denn was immer in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird, Fakt ist, dass radikale Islamisten langfristig kaum mit Waffengewalt besiegt werden können – das zeigen nicht zuletzt die bereits zitierten Beispiele aus Somalia oder Afghanistan. Vor diesem Hintergrund sind es insbesondere zwei Ziele, die mit dem Marsch verfolgt werden sollen: einerseits politische und moralische Stärkung des zivilen Widerstands all jener, die im Norden dem islamistischen Terror alltäglich ausgesetzt sind – ob durch (Nackt-)Demonstrationen von Frauen und Mädchen, Massenaufläufe junger Leute oder Stellungnahmen lokaler Honoratioren. Andererseits Anbahnung der ohnehin notwendigen Verhandlungen mit den relativ moderatesten Strömungen aus dem islamistischen Lager (auch jenseits politischer Akteure wie Ansar Dine oder der MNLA), wobei ausdrücklich darauf hingewiesen sei, dass in Mali bereits 1996 auf Initiative zivilgesellschaftlicher Akteure der damalige Bürgerkrieg zwischen malischer Armee und Tuareg-Rebellen im Rahmen der berühmten Waffenverbrennung von Timbuktu, der «flamme de la paix», beendet werden konnte.

Die Forderungen

Nicht minder eindeutig sind unterdessen die inhaltlichen Forderungen des Weißen Marsches – ganz gleich, mit welchen Akteuren der Dialog stattfinden wird: erstens Ablehnung der Scharia ohne jedes Zugeständnis, zweitens Ablehnung der Errichtung neuer Grenzen, was durch die Besetzung des Nordens aktuell der Fall ist und drittens Ablehnung des (neokolonialen) Landgrabbing, den die derzeitige Abtrennung des Nordens de facto darstellt – eine Formulierung, die vor allem darauf verweist, dass der Norden Malis nicht nur staubige Wüste ist, sondern geostrategisch umkämpftes Gelände, auch was Bodenschätze wie Uran, Öl und seltene Erze betrifft. Jenseits dessen wirbt der Weiße Marsch aber auch für eine wirklich nachhaltige Verständigung mit den Tuareg im Norden des Landes – nicht nur, weil die MNLA an den Verhandlungen beteiligt ist, sondern auch weil die islamistischen Tuareg rund um Ansar Dine ein erhebliches Interesse an einem solchen Friedensschluss haben (mehr zum jahrzehntelangen Konflikt zwischen Tuareg-Bevölkerung und malischem Zentralstaat findet sich auf unserer Webseite sowie in der erwähnten taz-Beilage). Schließlich: Anders als in der hiesigen Berichterstattung immer wieder der Eindruck erweckt wird, erfreut sich eine dialogorientierte Lösung durchaus beachtlicher Sympathie seitens der malischen Bevölkerung – auch wenn die Stimmung in den letzten Tagen sich deutlich verschoben hat. Denn das eine ist der fraglos starke Wunsch, dass endlich etwas passieren möge, hierzu gehört auch die allenthalben formulierte Forderung einer militärischen Intervention durch die malische Armee (von der aber alle wissen, dass diese einen solchen Einsatz nicht allein leisten kann). Das andere ist die in großen Teilen der Bevölkerung ebenfalls deutlich präsente Angst vor einer kriegerischen Eskalation und deren Auswirkungen auf das gesamte Land. Des weiteren umtreibt auch viele die Sorge, dass eine Stationierung von ECOWAS-Truppen von Teilen der alten politischen Elite genutzt werden könnte, die seit dem Putsch auf den Weg gebrachten demokratischen Erneuerungen wieder rückgängig zu machen. Diese Ambivalenz wird indessen in der europäischen Berichterstattung nahezu komplett ausgeblendet; zitiert werden fast ausschließlich InterventionsbefürworterInnen, die natürlich überall zu finden sind – heute mehr denn je.

Ein Krieg «im Namen der Frauenrechte»?

In diesem Sinne ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der von der bekannten Globalisierungskritikerin und früheren Kulturministerin Malis Aminata D. Traoré initiierte Aufruf «Frauen in Mali, sagt NEIN zum Stellvertreterkrieg!» hierzulande kaum Resonanz gefunden hat. In dem von zahlreichen Frauenrechtlerinnen mitgetragenen und ebenfalls auf unserer Webseite dokumentierten Aufruf wird nicht zuletzt scharf damit abgerechnet, dass einmal mehr im Namen von Frauenrechten ein Krieg gegen islamistische Terroristen geführt werden soll. Denn in Kriegen seien es stets die Frauen, die in erster Linie die kriegsbedingten Lasten tragen müssten, wie im Aufruf ausführlich dargestellt wird.

Weitere Informationen mit zahlreichen Hintergrundanalysen finden sich unter www.afrique-europe-interact.net, unter anderem in einer Anfang Dezember als taz-Beilage veröffentlichten Massenzeitung von Afrique-Europe-Interact, die in kleiner oder großer Auflage gerne bei uns bestellt werden kann.

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Stichwort: marche blanche

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