MALI: Mali ist seiner Bevölkerung zurückzugeben

von Aminata D. Traore (Bamako, 3. Mai 2013), 15.06.2013, Veröffentlicht in Archipel 216

Die Autorin dieses Artikels war Studentin in Frankreich. Nach ihrem Doktorat in sozialer Psychologie arbeitete sie für internationale Institutionen und war Ministerin für Kultur und Tourismus in Mali. Im letzten Monat war sie von linken Parteien nach Berlin und Paris eingeladen worden. Auf Betreiben der französischen Regierung hin wurde ihr der Aufenthalt im Schengenraum verboten. Trotzdem konnte sie über Umwege nach Berlin kommen, nicht aber nach Paris. Warum wohl? Der folgende Artikel gibt die Antwort. Teil 1 : Das Scheitern und der Affront.

«Jede imperialistische Gesellschaft sieht im Anderen die Verneinung des Ideals, das zu erreichen sie selbst sich bemüht. Sie versucht, ihn sich untertan zu machen, indem sie ihn in den Anwendungsbereich ihres Ideals hineinlockt und dort auf dem niedrigsten Rang platziert.»
Wolfgang Sachs1

«Wem werden wir die Schlüssel zurückgeben?» lautet bezüglich Mali die Frage, die Pierre Lellouche gestellt hat, Abgeordneter der UMP und Präsident der Sahelgruppe der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten der Französischen Nationalversammlung. Das war am 22. April 2013 während der Parlamentsdebatte, die der Abstimmung über die Verlängerung der «Operation Serval» vorausging. Wie um ihm zu antworten, sagt Hervé Morin, ehemaliger Verteidigungsminister (UMP)2: «Aber es gibt niemanden, an den wir die Verantwortung übergeben können.» Der Verlängerungsantrag ging reibungslos über die Bühne und wurde einstimmig beschlossen. Und was die Präsidentschaftswahlen im Juli 2013 betrifft, ist das offizielle Frankreich sich nicht nur einig, sondern zeigt auch keine Kompromissbereitschaft. Er werde «unerbittlich» sein, hat Staatspräsident François Hollande gewarnt. Dieses Wort ist hier in unser aller Köpfe und hat uns verletzt. Der französische Verteidigungsminister Jean Yves Le Drian meint zu diesem Thema, dass «die Dinge deutlich gesagt werden müssen» (Radio France Internationale). Die Malier, die Staatspräsident François Hollande als Befreier willkommen hießen, dachten, dass die «Operation Serval» ihr Land schnell von der AQMI (Al Qaeda au Maghreb Islamique) und den mit ihnen verbündeten Gruppierungen Ansar Dine und MUJAO (Mouvement pour l’unicité et le djihad en Afrique de l’Ouest) befreien und das Leben wieder wie vorher sein würde. Die militärische Intervention hat die Bedrohung durch die Dschihadisten, indem Hunderte von ihnen getötet und enorme Waffenarsenale und Treibstoffvorräte zerstört worden sind, mit Sicherheit verringert. Die Städte Gao und Timbuktu sind befreit, jedoch nicht ganz, denn dort operieren nach dem offiziellen Sprachgebrauch «versprengte» Einheiten und verüben Anschläge. Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass Kidal sich in den Händen der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) befindet, die der malischen Armee den Zugang untersagt. Aus Angst, in diesem Konflikt stecken zu bleiben, verringert Frankreich seine Truppenstärke, ohne sich jedoch zurückzuziehen. Seine Zusammenarbeit mit der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) bei der Mobilisierung afrikanischer Truppen der Internationalen Unterstützungsmission für Mali (MISMA) ist dabei alles andere als befriedigend. Die UN-Blauhelmmission MINUSMA (Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali) wird im Juli in Aktion treten.
Frankreich wird nicht in seinem militärischen Abenteuer versinken. In was für ein Abenteuer hat es jedoch unser Land, das doch gar nicht darauf vorbereitet war, gestürzt? Und was für ein Mali werden wir den nachfolgenden Generationen überlassen? Ein Mali, in dem der Abzug des letzten französischen Soldaten einer der Höhepunkte seiner Entkolonialisierung war und das heute den Rest seiner Souveränität verliert? In seiner Rolle als Befreier versprach Staatspräsident Hollande uns während seines Aufenthalts in Bamako zuversichtlich eine neue Unabhängigkeit, «nicht in Bezug auf den Kolonialismus, sondern in Bezug auf den Terrorismus.» So als stünde es Frankreich zu, uns aus einer Gefahr zu retten, an deren Schaffung es selber beteiligt ist, blickt man auf seine Intervention in Libyen zurück. Ist der malische Mensch ausreichend in die Geschichte eingetreten?3 Ist er Subjekt seiner eigenen Zukunft, um von seinem Recht Gebrauch zu machen, nein zu sagen zu den Entscheidungen, die sein Schicksal bestimmen? Die Militarisierung als Antwort auf das Scheitern des neoliberalen Modells in meinem Land ist die Entscheidung, gegen die ich protestiere. Während mir der Aufenthalt in den Ländern des Schengenraums untersagt ist, sehe ich mit Bewunderung und Respekt die Mobilisierung und Entschlossenheit der Völker Europas im Kampf gegen dasselbe System, das uns hier in Afrika in aller Seelenruhe zermalmt.4

Zusammenbruch des «siegreichen» malischen Kapitalismus

Mali leidet unter einer humanitären und Sicherheitskrise im Norden nicht wegen der Rebellion und des radikalen Islam, und unter einer politischen und institutionellen Krise im Süden nicht aufgrund des Staatsstreichs vom 22. März 2012. Dieser reduzierte Ansatz ist das Haupt- und das wahre Hemmnis für den Frieden und nationalen Wiederaufbau. Wir haben vor allem dem Zusammenbruch eines angeblich siegreichen malischen Kapitalismus mit sehr hohen sozialen und humanen Kosten beigewohnt. Seit den 80er Jahren sind Strukturanpassung, Massenarbeitslosigkeit, Armut und extreme Armut unser Los. Frankreich und die anderen europäischen Länder trifft es nur 30 Jahre später als Mali und seine Leidensbrüder Afrikas, die seit drei Jahrzehnten der Rosskur des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank unterworfen werden. Der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Bericht 2001) zufolge ist Afrika der Kontinent, in dem Strukturanpassungsmaßnahmen am massivsten, gründlichsten und zerstörerischsten durchgeführt wurden. So in den 80er und 90er Jahren, in denen die internationalen Finanzinstitutionen sich um nichts anderes sorgten als um die Korrektur von makroökonomischen Ungleichgewichten und Marktverzerrungen, und Armutsstrategiepapiere von den Staaten verlangten. Margaret Thatchers Credo «There is no alternative» funktioniert bestens. In wirtschaftlicher Hinsicht heißt es so viel wie «Liberalisiert eure Wirtschaft um jeden Preis», in politischer Hinsicht «Demokratisiert gemäß unseren Normen und unseren Kriterien» und im Falle Malis «Geht im Juli wählen». Zu dieser an sich schon gefährlichen Agenda gesellt sich momentan die die militärische Dimension betreffende Vorgabe «Sichert euer Land unseren Methoden und unseren Interessen gemäß.» Zum einen auf dem Altar des sogenannten freien und konkurrierenden Handels geopfert, der tatsächlich jedoch absolut unfair ist, wie es der Baumwoll- und der Goldsektor veranschaulichen, und zum anderen auf dem Altar der formellen Demokratie, ist Mali nun auch dabei, im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus geopfert zu werden. Die Rebellion der MNLA, der Staatsstreich und die Rekrutierung der jungen und ausgehungerten Arbeitslosen im Norden sowie im Süden des Landes durch die AQMI, Ansar Dine und MUJAO stehen mit einer explosiven nationalen Situation in Zusammenhang. Ende 2011 und Anfang 2012 war es von Protestmärschen gegen die hohen Lebenshaltungskosten, die Arbeitslosigkeit, die Unsicherheit, das Verfassungsreferendum, die Frage der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, die Korruption und das Klima der Straffreiheit geprägt. Von der kleinen Minderheit der Neureichen einmal abgesehen, ist es das malische Volk, das bei der Öffnung der malischen Wirtschaft mit der Brechstange der große Verlierer ist. Abgelenkt wird es durch das verlogene Mantra von der Beispielhaftigkeit unserer Demokratie und unserer wirtschaftlichen Leistungen, die, wie es scheint, die besten der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion gewesen sind. Abweichende Stimmen werden verfemt.

Versagung von Demokratie

Innerhalb seiner eigenen Grenzen demokratisch, wenn man sich den Inhalt und die Lebhaftigkeit der Debatte in der französischen Nationalversammlung und auf den Straßen beispielsweise über die Heirat für alle ansieht, zeigt Frankreich sich in seinen Beziehungen zu Mali unnachgiebig. Es sieht rein gar nichts Schlechtes an seiner Rückkehr zur Gewalt. Man kennt seine Absichten nicht oder tut jeden-falls so. Man singt und tanzt zu seinem Ruhm, wenn man seine Gunst genießen, politisch existieren und sich in Europa frei bewegen will. Sich dem zu verweigern, liefe darauf hinaus, nicht für Frankreich und daher gegen Frankreich zu sein. Man glaubt sich fast am Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center in den USA im Jahr 2001, als US-Präsident George W. Bush erklärte: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns». In meinem Fall sind es die linken Positionen über die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung in Afrika, die staatsgefährdend geworden sind. 2010 hatten sie mir noch eine Einladung von der Sozialistischen Partei auf ihre Sommer-Universität in la Rochelle eingebracht. Um den Sinngehalt meines Diskurses und meines Kampfes zu verwischen, wurde ich zunächst als Befürworterin des Putsches und Gegnerin der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) dargestellt. Als Steigerung bin ich nun unter Hausarrest gestellt worden. Karamoko Bamba von der N´KO-Bewegung verdanke ich den afrikanischen Gedanken, dem ich beipflichte, wonach «derjenige, der das Gewehr hat, sich dessen nicht bedienen sollte, um die Macht zu übernehmen. Und derjenige, der die Macht innehat, möge sie im Interesse des Volkes ausüben und unter dessen Kontrolle.»
Warum sollte ich die gesamte Verantwortung für den Zusammenbruch des Staates den Vernachlässigten einer Armee zuschreiben, die genau wie die anderen Institutionen der Republik verdorben ist durch Korruption, Vetternwirtschaft und ein Klima der Straffreiheit? Es kann doch nicht den Soldaten vorgeworfen werden, ein Land nicht verteidigen zu können, dessen politische und Wirtschaftseliten nicht nur akzeptieren, es unter den schlimmsten Bedingungen für den Markt zu öffnen, sondern die sich dabei auch noch bereichern. Das Scheitern ist in erster Linie ihnen zuzuschreiben, weil sie ein Wirtschaftsmodell gefordert haben, das gleichbedeutend ist mit einem Disengagement und einer Spaltung des Staates, einer Verwahrlosung der Truppen und Massenarbeitslosigkeit. Wenn sie in den 80er Jahren nicht imstande waren, die Verwüstungen durch dieses System zu erkennen, können unsere politischen Führer sie im Hinblick auf die Sackgasse, in die es Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern und ihr Referenzmodell Frankreich geführt hat, nun nicht mehr übergehen.

Von der Ächtung zur Kriminalisierung

Es ist der 12. April, und ich bin dabei, mich aufgrund einer Einladung der Partei «Die Linke» nach Berlin und mit einer Einladung der «Nouveau Parti Anticapitaliste» nach Paris zu begeben, als ich erfahre, dass ich in Europa auf das Betreiben Frankreichs hin zu einer Persona non grata geworden bin. Das Gleiche gilt für Oumar Mariko, den Generalsekretär der Partei SADI (Solidarité Africaine pour la Démocratie et l´Indépendance). Die deutsche Botschaft hat mir ein Visum erteilt, das mir gestattet, über Istanbul anstatt über Amsterdam, wie ursprünglich vorgesehen, nach Berlin zu reisen. Und was die Etappe in Paris anbelangt, ist diese schlicht und einfach abgesagt worden. Erfahren habe ich davon durch die folgende Nachricht, die mir die Rosa-Luxemburg-Stiftung zukommen ließ: «Die deutsche Botschaft in Bamako hat uns heute Morgen darüber informiert, dass Ihr Visum für Deutschland unter der Auflage erteilt wird, nicht durch einen Schengen-Staat zu reisen. Deshalb haben wir ein neues Flugticket gekauft (die Flüge gehen nun über Istanbul), das Sie anliegend finden. Es tut mir leid, dass Sie daher nicht die Möglichkeit haben, drei Tage in Paris zu verbringen. Aber die deutsche Botschaft hat uns darüber informiert, dass Frankreich verhindert hat, dass Sie ein Visum für den Schengenraum bekommen. Wir holen Sie Montag am Berliner Flughafen ab.» Die Organisation «AfricAvenir» hat daraufhin als Mitveranstalterin einer der Veranstaltungen in Berlin protestiert, und ihre Hauptpartner haben ihrerseits ebenfalls reagiert. Allen, die sich mit mir solidarisch gezeigt haben, danke ich, und im Hinblick auf all diejenigen, die meinen, dass Frankreich das Recht hat, meine Bewegungsfreiheit einzuschränken, weil ich mit Paris nicht einverstanden bin, wenn es seine Politik nur an den eigenen Interessen ausrichtet, erinnere ich hier an den Zweck meines Kampfes. Wer kann mir vorwerfen, das zu sagen, was die Verfasser des Informationsberichts des französischen Senats so klar wie folgt ausdrücken: «Frankreich kann sein Interesse für Afrika nicht aufgeben, das seit Jahrzehnten seine strategische Stärke ausmacht, morgen eine größere Bevölkerung als Indien und China haben wird (im Jahr 2050 werden 1,8 Milliarden Menschen in Afrika leben, im Vergleich zu 250 Millionen im Jahre 1950), den Großteil knapp werdender Bodenschätze birgt, und einen zwar ungleichmäßigen aber ungekannten Wirtschaftsaufschwung erlebt, der nicht mehr nur vom
Höhenflug der Rohstoffpreise, sondern auch vom Entstehen einer echten Mittelklasse getragen ist.»5
Wenn die Aussagen zu den demographischen und wirtschaftlichen Aspekten begründet sind, ist der «Wirtschaftsaufschwung», auf den dieser Bericht anspielt, ein ungewisser und Ursache von Konflikten, da er nicht allen zugute kommt, sondern zunächst nur ausländische Unternehmen und ein Teil der politischen und der Wirtschaftselite von ihm profitieren. Bei der gegenwärtigen militärischen Intervention geht es um Wirtschaftsinteressen (Uran, also Kernkraft und eine unabhängige Energieversorgung), Sicherheit (die Gefahr terroristischer Anschläge gegen die Interessen multinationaler Unternehmen, namentlich AREVA, Geiselnahmen und Bandenkriminalität, insbesondere Drogen- und Waffenhandel), Geopolitik (insbesondere die chinesische Konkurrenz) und Migration. Auf was für einen Frieden, was für eine Versöhnung und was für einen Wiederaufbau können wir hoffen, wenn diese Interessen sorgsam vor dem Volk verborgen werden?

Übersetzung: Martina Mielke; übertragbares Recht zur Veröffentlichung: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

  1. Wolfgang Sachs und Gustavo Esteva: Des ruines du développement, Montreal 1996
  2. AdÜ: französische Partei, die die Staatspräsidenten Chirac und Sarkozy stellte.
  3. AdÜ: Anspielung auf die von Frankreichs damaligem Staatspräsidenten Sarkozy im Juli 2007 in Dakar/ Senegal gehaltenen Rede, nach der das Drama Afrikas darin besteht, dass der afrikanische Mensch noch nicht ausreichend in die Geschichte eingetreten sei.
  4. AdÜ: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung weist darauf hin, dass diese E-Mail den Informationsstand vom 12. April 2013 wiedergibt.
  5. Jean-Pierre Chevènement und Gérard Lacher: Mali: comment gagner la paix? Rapport d´information numéro 513 vom 17.4.2013, angefertigt im Auftrag der Commission des affaires étrangères, de la défense et des forces armées.