Marokko: Erfolgreicher Hungerstreik der Arbeiter_innen von Soprofel

von Marc Ollivier (Grenoble, Juni 2012), 08.08.2012, Veröffentlicht in Archipel 206

Nach 38 Tagen Hungerstreik von sechs Landarbeiter_innen anerkennt Soprofel-Idyl, das größte französische Agrobusiness-Unternehmen in Marokko, deren Rechte! Das in der Region von Agadir gelegene Unternehmen ist das Bedeutendste im Souss1, das industrielle Gemüse- und Obstproduktion für den Export betreibt.

Laut Angaben der marokkanischen Landarbeiter_innengewerkschaften beschäftigt es 12'000 Landarbeiter_in-nen zu prekärsten Bedingungen, verwaltet mehr als tausend Hektar in Gemüse- und Obstanbau, besitzt zwei Verpackungsanlagen, die in der Lage sind, pro Jahr 150'000 Tonnen Tomaten nach Europa zu exportieren, ganz zu schweigen von den anderen Produktionen.2
Der Konflikt dauert seit 2007 an. Demonstrationen und Sit-Ins fanden statt, Vertragsprotokolle wurden nicht eingehalten und die lokalen marokkanischen Behörden unterstützten das Verhalten der Unternehmensleitung. Da beschlossen sechs Landarbeiter_innen dieses Unternehmens aus reiner Verzweiflung, ab dem 26. April vor den Bürogebäuden der Gesellschaft ein Plastikzelt aufzuschlagen und darin einen unbegrenzten Hungerstreik zu beginnen.

Eine starke Mobilisierung und ein historischer Sieg

Der 38-tägige Hungerstreik der Arbeiter_innen wurde von einem breiten Unterstützungskomitee getragen und geschützt. Die Antriebskräfte des Komitees, die Marokkanische Union der Arbeit und die Bewegung des 20. Februar, schafften es massenhaft Arbeiter_innen und Landarbeiter_innen der ganzen Region zu mobilisieren, und so nahmen Tausende an Demonstrationen teil. Schließlich musste das Unternehmen nachgeben und unterzeichnete am 2. Juni ein Abkommen von historischer Bedeutung im lokalen Kontext, welches folgendes vorsieht:

  • eine finanzielle Entschädigung von
    je 80‘000 Dirham (etwa 7'300 €) für die ungerechtfertigt entlassenen gewerkschaftlich organisierten Angestellten (sie wollten vor vier Jahren eine Gewerkschaftssektion gründen!).
  • die Zusage, die juristische Verfolgung der Betroffenen einzustellen und die Geldstrafen rückgängig zu machen, zu denen sie die den Unternehmern dienstbare Justiz verurteilt hatte.
  • die Übernahme der Kosten für den notwendigen Krankenhausaufenthalt und die ärztliche Behandlung auf Grund des gesundheitlichen Zustands der Streikenden.
  • die Zusage der lokalen Behörden, die Rückzahlung der Kredite über 70'000 Dirham (6'400€) von zwei von ihnen zu übernehmen.
    Natürlich gilt es nun darüber zu wachen, dass diese Zusagen respektiert werden und dass dieses Abkommen, das durch die ungewöhnliche Mobilisierung erzwungen wurde, nicht nur sechs Arbeiter_innen betrifft. Aber es ist ein wichtiger Sieg, denn die hauptsächlich französischen und europäischen Arbeitgeber des Agrobusiness im Souss haben das Sagen in der Region von Agadir und sogar in ganz Marokko. Sie können mit der Unterstützung des herrschenden Regimes rechnen und sie versuchen um jeden Preis zu verhindern, dass sich die Arbeiter_innen gewerkschaftlich organisieren. Dieser Sieg ist der Entschlossenheit der Hungerstreikenden und auch der sehr breiten Unterstützung zu verdanken, die der Arroganz und Einschüchterungsversuchen der Arbeitgeber und lokaler Behörden gegenüberstanden3.

Ein System extremer Ausbeutung

Ihr Sieg ist deshalb so wichtig, weil die französische Gesellschaft Soprofel-Idyl nicht das einzige europäische Unternehmen ist, das durch prekäre Anstellungen, erpresserische Arbeitsversprechen und ungerechtfertigte Entlassungen von Gewerkschaftsmitgliedern die Arbeitnehmer_innen daran zu hindern versucht, einer Gewerkschaft beizutreten. Dieser Sieg ermutigt also alle Arbeiter und Arbeiterinnen dieses Gebietes, sich gegen diese offenkundige Missachtung der elementarsten Rechte der Arbeit-nehmer_innen zu wehren.
Außerdem rückt der gewalttätige Ablauf des Konflikts, während dem die Arbeitgeber nicht zurück schreckten sich aller ihnen zu Verfügung stehenden Mittel zu bedienen (Bedrohung der Streikenden, Druck durch die lokalen Behörden, Vorladungen bei Gericht, um die Streikenden zu erpressen, etc.), den Ernst der sozialen Krise, in der die Arbeitnehmer_innen der Region Agadir leben, ins Scheinwerferlicht. Deutlich wird auch, zu welchen Verzweifelungsaktionen die Arbeiter_innen gedrängt werden, damit ihr wichtigstes Grundrecht anerkannt wird: das Recht sich zu ihrer Verteidigung zu organisieren. Einer Gewerkschaft beizutreten, ist für sie die Bedingung, Zugang zu allen anderen Rechten zu erreichen. In Erinnerung zu rufen ist, dass der Durchschnittsverdienst dieser Tagelöhner 50 Dirham pro Arbeitstag beträgt (etwa 4,50 €) und sie nicht einmal einen anständigeren Lohn fordern können! In der Regel üben die Vorarbeiter und Chefs der Arbeitseinheiten moralischen Druck aus und drohen mit Arbeitsverbot (und dem Einschreiben auf schwarze Listen). Begleitet wird dieses Betriebsmanagement häufig von sexuellen Belästigungen gegenüber Arbeiterinnen, die oft gezwungen sind, die Phantasien ihrer Chefs zu befriedigen, um ihre Kinder ernähren zu können...

Die Verantwortung der europäischen Unternehmen

Schlussendlich stellt dieser Sieg von einigen entschlossenen Arbeiter_innen die Europäer zur Rede. Tatsächlich zeigt er allen, die gewillt sind, es zu sehen, wie die Männer und Frauen behandelt werden, die das Gemüse und Obst für kapitalistische französische Unternehmen wie Soprofel-Idyl produzieren, welche damit die Supermarktketten in Europa beliefern. Es ist unmöglich, die gesamte Verantwortung auf die marokkanischen Behörden abzuwälzen, auch wenn sie Komplizen des Systems sind. Dieses riesige Unternehmen hat seinen Sitz in der Provence in Marseille (Marché des Arnavaux) und in Chateaurenard. Folglich wird die Betriebspolitik im Bereich des Agro-Business, die in Agadir Anwendung findet und von dem miserablen Lebensstandard und der Arbeitslosigkeit der Bevölkerung profitiert, in Frankreich ausgearbeitet und kontrolliert. Diese Politik hat noch andere bedauerliche Auswirkungen: Neben schweren Umweltproblemen, die das Entstehen dieser industriellen, spekulativen Landwirtschaft mit sich bringt, wie Erschöpfen der Wasservorräte, Vergiftung des Bodens und Schadstoffbelastung der darauf produzierten Lebensmittel, veranschaulicht die inakzeptable Behandlung der Lohnempfänger das soziale Desaster, das dieser Sektor hervorruft. Denn gleichzeitig zerstört er die bäuerliche Landwirtschaft in Marokko, indem er die Brunnen der Familienbetriebe durch übermäßige Wasserentnahme aus dem Grundwasser versiegen lässt, und in Europa überschwemmt er den Markt mit seiner Massenproduktion zu Dumpingpreisen. Das wiederum erschwert den lokalen Landwirten den Absatz. Die Wurzeln dafür liegen in unmenschlichen und obendrein illegalen Arbeitsbeziehungen, die in den agroindustriellen Produktionseinheiten dieses Sektors in Marokko herrschen.

Infragestellung der europäischen Freihandelspolitik

Ebenfalls ist daran zu erinnern, daß ein solches Verhalten natürlich begünstigt wird durch das Freihandelsabkommen4 über landwirtschaftliche Produkte zwischen der Europäischen Union und der marokkanischen Regierung, welche mit den kommerziellen und finanziellen Interessen des neoliberalen Systems gemeinsame Sache macht. Dieses Abkommen privilegiert tatsächlich die Interessen des Handels auf der europäischen Seite des Mittelmeers, das heißt die der Aktionäre des Agro-Business und der Agroindustrie. Die Bauern haben das Nachsehen. Deshalb müssen wir so breit wie möglich die öffentliche Meinung in den europäischen Ländern informieren und die europäischen Abgeordneten, die diesem Abkommen zustimmten, zur Verantwortung ziehen. Fest steht, dass sich die europäischen Konsumenten nicht mit so einem für die Umwelt und die menschliche Ernährung derart schädlichen Produktionssystem zufrieden geben können. Unter diesem Gesichtspunkt ist es besser, agrobiologische Produkte zu bevorzugen, die aus der nahen Umgebung kommen, von höherer Qualität sind und die nicht mit den übermäßigen Transportkosten des internationalen Großhandels belastet sind, welche wiederum unvereinbar sind mit jeder verantwortlichen Verwaltung der Energieressourcen. Aus marokkanischer Sicht profitieren nur einige Privilegierte des Regimes am Export-Agrobusiness.
Versucht man die zahlreichen Interessenverbindungen zu verstehen, die zwischen allen Akteuren existieren, die sich sinnbildlich wie ein Lebensmittelschöpfrad im Süden Europas und seiner Peripherie angesiedelt haben, tauchen erstaunliche Kreisläufe auf: private Kapitalquellen, die in Europa sitzen, gründen Unternehmen, die in Marokko eine Spitzentechnologie einrichten und dafür die Ausrüstung, das Saatgut, den Kunstdünger und die Pestizide aus Europa importieren. Sie liefern all ihre Produkte mittels einer Lastwagenarmada, die in Europa gebaut wurde, an die verschiedenen europäischen Supermarkketten. Und all diese Gesellschaften, die von einander abhängig sind, weisen saftige Gewinne auf, die an die europäischen Aktionäre verteilt werden. Das harmonische Funktionieren dieses Mechanismus beruht auf zwei weiteren Elementen: einerseits auf einer Armee zehntausender marokkanischer Arbeiter und Arbeiterinnen, die für einen zehnmal niedrigeren Lohn als in Europa arbeiten und andererseits auf einem autokratischen Regime, das natürlich etwas am Gewinn dieses Systems mitbeteiligt werden muss, und das fähig ist, den gerechtfertigten Forderungen dieser extrem ausgebeuteten Arbeitskräfte nicht nachzugeben. und dem alle Mittel recht sind: immer prekärer werdende Arbeitsverhältnisse, Repression der gewerkschaftlichen Organisierung, Instrumentalisierung der Justiz und Anwendung polizeilicher Gewalt, die auch Folter und Mord bedeuten kann. Ein Schlüsselelement dieses Mechanismus’ tauchte kürzlich am Firmament auf, als der französische Präsident François Hollande den König von Marokko, Mohamed VI, im Mai in der Elysée empfing. In der amtlichen Mitteilung steht: «Der Staatschef hat den demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformprozess, der auf Initiative Seiner Majestät des Königs Mohammed VI innerhalb des Königsreichs stattfindet, begrüßt. Frankreich steht Marokko auf dem gewählten Weg zu wirtschaftlicher Modernisierung und Ausbau des Rechtsstaates zur Seite.» Man könnte meinen der neue Präsident bereitet sich darauf vor, mit dem König von Marokko den Beispielen von Michèle Alliot-Marie5 mit dem ehemaligen Diktator Ben Ali in Tunesien oder von Nicolas Sarkozy mit Khadafi in Libyen zu folgen.
Im Kontext unsere Beziehungen mit den Völkern des Mittelmeerraums, müssen wir ganz im Gegenteil unsere Solidarität mit den Kämpfen der Lohnarbeiter_innen dieser Länder öffentlich zeigen, die oft extrem durch europäische Kapitalquellen ausgebeutet werden, im Besonderen mit denen der Arbeiter_innen des Agrobuisiness. Und als Konsumenten von Produkten aus diesem Produktionszweig müssen wir zu verstehen geben, daß wir seine zerstörenden Auswirkungen verurteilen.

  1. Siehe Artikel «Die Plastikebene von Marokko», Archipel Nr. 174, 09/2009
  2. Soprofel-Idyl betreibt nicht nur Produktionseinheiten in der Region von Agadir, dem Hauptzentrum des Agrobusiness in Marokko, sondern auch in der Region von Marrakech, von Errachidia und auch Dakhla in der Westsahara
  3. Im Lichte dieses seit vier Jahren dauernden Sozialkonflikts klingt das was das Unternehmen Soprofel-Idyl auf seiner Webseite verkündet, besonders unverschämt: «Wir legen größten Wert darauf, dass unsere Angestellten in einen vorteilhaften Rahmen für Gesundheit, Sicherheit und kulturelle und soziale Entfaltung aufgenommen werden. Berufliche Ausbildung, Alphabetisierung, Betriebsrestaurant, medizinischer Beistand und Wohnungen gehören zu den Grundsätzen bei IDYL».
  4. Nach vier Jahren Verhandlungen und drei Jahren Debatte im Europäischen Parlament wurde dieses Abkommen schlussendlich am 16.2.2012 unterzeichnet. Dies geschah trotz Opposition des betroffenen Referenten José Bové. Es tritt ab dem 1.Juli 2012 in Kraft
  5. Verteidigungsministerin unter der Sarkozy-Regierung