George Lapierre1 berichtet über die Gemeinschaftlichkeit das Konzept eines sozialen Projekts, das am Entstehen ist und nach Verwirklichung sucht eine Idee die Selbstbestimmung und Autonomie der Völker zu stärken als soziale Alternative zum Liberalismus
Teil zwei
Die Gemeinden, Völker und Nationen, aus denen der Nationale Kongress der Indigenas besteht, befinden sich im sozialen Widerstand; sie sind Zapatisten. Sie sind keine Verfechter eines eigentlichen politischen Projektes, sondern eher von der Idee, genau genommen des Konzepts der Gemeindlichkeit .
Gemeindlichkeit könnte definiert werden als Geisteshaltung innerhalb einer sozialen Ordnung, die auf Beziehungen zwischen Menschen beruht. Sie ist gleichermaßen eine reelle Praxis, die noch der Lebensart der indigenen Gemeinden entspricht, aber auch das Projekt einer ethischen Neukonstruktion der Völker angesichts der Kräfte, die weltweit den sozialen Zerfall bewirken. Die Gemeindlichkeit ist das Konzept eines sozialen Projekts, das am Entstehen ist, und nach Verwirklichung sucht. Eine Idee, die zum Beispiel schon die Pariser Kommune von 1870 bewegte und auch die Kommune von Oaxaca im Jahr 2006. Sie ist gleichzeitig die Realität eines sozialen Lebens und nicht trennbar von dessen Gedankenwelt; oder dieses soziale Leben eignet sich das Denken wieder an, wie im Fall der Kollektivität der englischen Minenarbeiter von Yorkshire und all der Völker auf der Welt, die noch als organisierte Gemeinschaft existieren und Regeln eines gegenseitigen Austausches anerkennen und respektieren. Es handelt sich um ein normatives Recht, dem Gedanken des Rechts, der dem Ursprung des sozialen Lebens zu Grunde liegt. Mit der Vorstellung von Recht in unserer bürgerlichen Gesellschaft hat dies nichts zu tun.
Das Konzept der Gemeindlichkeit tauchte Anfang der 80er Jahre in der Sierra Norte von Oaxaca auf. Seither vertieft es sich im Laufe der Auseinandersetzungen, die heutzutage innerhalb der indianischen Welt stattfinden und präzisiert sich während des Fortgangs der Kämpfe. In diesen Jahren der Wiederbelebung der indianischen Kultur organisierte sich der Widerstand und der Kampf für Autonomie der Chianteken, Mixe, Zapoteken, Mixteken, Triqui.... um dieses Konzept herum. Intellektuelle wie Floriberto Diaz Gomez, Ayuujk der Gemeinschaft von Tlahuitoltepec, und wie Jaime Martinez Lune, Zapoteke der Gemeinschaft von Guelatao, initiierten mit indigenen Partnern und zum Beispiel dem Linguisten Juan José Rendón Monzón, der indigene und mexikanische Wurzeln hat, die Reflexion über die indigene Welt und ihre grundlegenden Werte. Die Gemeindlichkeit definiert die Lebensform und den Lebensinhalt der indigenen Völker. Laut Floriberto Diaz besteht sie aus fünf Grundelementen:
die Erde als Mutter und Territorium;
der Konsens in Versammlungen, um Entscheidungen zu treffen;
die unentgeltliche Mitarbeit als Ausübung von Autorität;
die kollektive Arbeit als erholsame Tätigkeit
die Riten und Zeremonien als Ausdruck des gemeinschaftlichen Gebens.
«Die Idee der Gemeindlichkeit als leitendes Prinzip des indigenen Lebens erscheint und entwickelt sich inmitten der Diskussion, der Aufruhrstimmung und der Mobilisierung. Sie entspricht keiner Kampfideologie, vielmehr einer Ideologie der Identität, die zeigt, dass die indigene Besonderheit darin liegt, sich als Gemeinschaftswesen zu begreifen, das eigene tiefe geschichtliche und kulturelle Wurzeln besitzt. Davon ausgehend sucht man das Leben der Völker als Völker zu orientieren», schreibt Benjamin Maldonado 2. Für diese Theoretiker der indigenen Realität, die sehr vertraut mit der indigenen Gesellschaft sind, ist das Konzept der Gemeindlichkeit das Schlüsselelement für den Widerstand der Völker und ebenso die Quelle für ihre Befreiung; seit ihrem Erscheinen ist diese Idee mit der Idee von Selbstbestimmung und Autonomie verbunden.
Arbeitsgruppen
Seit Anfang der 90er Jahre fanden sich Arbeitsgruppen 3 in den Gemeinschaften zusammen, die darüber nachdachten, was die Realität der indigenen Welt ausmacht. Zuerst ereignete sich das vor allem im Staat von Oaxaca (die erste Arbeitsgruppe entstand in der Ayuujk-Gemeinschaft von Mogoñé Viejo, Guichicovi, Oaxaca) und dehnte sich anschließend auf andere Staaten aus. Sie werden Arbeitsgruppen des kulturellen Dialogs genannt. Momentan nehme ich an einer dieser Arbeitsgruppen in Atlapulco im Staat von Mexiko (Edomex) teil. In diesen Gruppen finden sich die Angehörigen einer Gemeinschaft zusammen, die daran interessiert sind, sich gemeinsam mit ihrer Kultur auseinander zu setzen. Als Kultur zu verstehen ist die Summe der verschiedenen Elemente, die das soziale Leben einer Gemeinschaft oder eines Volkes bildet. Das beinhaltet die politische Organisation, das Organisieren von Austausch und Festen, die Sprache, das Lernen, die Kleidung, das Organisieren von Arbeit und anderen Aktivitäten. In Atlapulco ergriffen junge Leute, die sich um das Gemeinschaftsradio kümmern, die Initiative, die Dorfbevölkerung zu diesen Diskussionen einzuladen. Seit mehr als drei Monaten versammeln sich einmal pro Woche an die zwanzig Personen (je nach Interesse und Verfügbarkeit der Betroffenen, können es auch fünfzehn bis vierzig Personen sein) in der kleinen Bibliothek zu einem gemeinsamen Nachdenken über das Leben ihrer Gemeinschaft und seiner Geschichte.
Diskussionsthemen
Die Diskussionen sind heute längst nicht beendet, aber wir hatten Gelegenheit, über Gesundheit zu sprechen, was von der traditionellen Medizin verloren ging und was davon erhalten blieb, den Anwendungen, die nach und nach unter dem Druck der offiziellen Medizin verschwunden sind, dem Temazcal oder Dampfbad, das von der Schulmedizin als unhygienisch verurteilt wurde. Wir sprachen auch von den Hebammen oder Parteras und wie wichtig das Entstehen einer menschlichen Beziehung ist mit der «zum Lichte Gebende» (dar la luz ), von Heilkräutern und Krankheiten, die der indianischen Welt eigen sind, wie das Mal d�Espanto. Wir sprachen von Heilern oder Curanderos ; von Graniceros oder Ahuizotes � Männern oder Frauen, die vom Blitz getroffen wurden und die deshalb die Gabe erhielten zu heilen und auch die Gabe, Ernten vor dem Hagel zu schützen (das Dorf liegt auf 3000 m Höhe). Wir sprachen auch über die Themen Glauben, Arbeiten und besonders über die gemeinschaftlichen Arbeiten, wie la Faena oder le Tequio und über die Sprache. Es war ein bewegender Moment, als Tia Ofelia ihre Kindheit schilderte. Die Lehrer verboten ihr, in ihrer Muttersprache zu sprechen und machten sich über sie lustig und nannten sie la Guarina oder l�India . In diesem Dorf, das unter dem Einfluss der nahen Hauptstadt steht, sprechen nur noch wenige Otomie oder Ñañu. Aus Mangel an Gesprächspartnern haben die wenigen kaum Gelegenheit, diese Sprachen anzuwenden. Letztes Mal standen das Territorium und seine Grenzen zur Debatte. Die Diskussion war lebhaft, aber leider musste ich nach Mexiko aufbrechen, denn die letzte Fahrgelegenheit war um 8 Uhr abends. Theoretisch wird von 4 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends diskutiert, mit einer Unterbrechung bei Tee und Brötchen (Pan dulce ), aber die Diskussion lässt sich schwer zeitlich begrenzen.
Wir befinden uns in der ersten Reflexionsphase, und es geht darum, die Elemente ihrer Kultur einzuordnen nach ihrer Wichtigkeit, ihrer Stellung und ihrer Funktion im Dorfleben, und wir haben noch längst nicht alle kulturellen Elemente erwähnt, die zur Reproduktion des gemeinschaftlichen Lebens beitragen. Der Diskussionszyklus wird drei Phasen umfassen, und in der zweiten Phase werden wir genaue Betrachtungen anstellen über kulturelle Elemente wie die Versammlung, das Fest, die Arbeit für die Gemeinde, la Milpa (Maisanbau), die Sprache, die Erziehung durch die Familie und durch die Gemeinschaft. Unter welchen Bedingungen blieben diese Elemente erhalten, wie haben sie sich verändert und aus welchen Gründen? Meistens findet die Diagnose spontan im Verlauf der Diskussion statt, sobald ein kulturelles Thema angesprochen wird. Zuerst wurde festgestellt, auf welchen Elementen das Gemeindeleben basiert, welche Elemente helfen, das Gemeindeleben zu erhalten und welche ergänzenden Elemente das gesamte kulturelle System ausmachen. Während der letzten Phase des kulturellen Dialogs wurden von den Arbeitsgruppen Aktionspläne erarbeitet, wie die eigene Kultur geschützt und gestärkt werden kann. Im Fall von Atlapulco wurden schon Aktionspläne erwähnt, wie das Wiederaufgreifen der Tradition des Temazcal , das Bilden von Brutstätten für die Otomie-Sprache, an denen die Ältesten mit sehr Jungen nur in dieser Sprache sprechen, das Einrichten eines gemeinschaftlichen Gartens und der Anbau von Heilkräutern... Aber diese Vorschläge werden erst am Schluss von den Arbeitsgruppen analysiert, kritisiert und entwickelt. Der Plan zur Entwicklung und Stärkung der kulturellen Traditionen hat keine romantischen oder kommerziellen Gründe, «es geht nicht darum die indigenen Völker als Museumstücke für Touristen zu zeigen», vielmehr darum, den Widerstand und die Autonomie der Völker zu stärken. Das Ziel ist eine Befreiung, die sich auf die Charakteristika einer eigenen kulturellen Tradition abstützt, die als soziale Alternative zum Liberalismus wahrgenommen wird.
Die Gemeindlichkeit ruht auf einigen Grundbegriffen wie der Versammlung, der Gemeinschaftsarbeit, Faena oder Tequio , dem Fest, la Guelaguetza oder der Gesamtheit des Austausches, dem Territorium. «Das Territorium ist unser Lebensraum, die Sterne, die wir nachts sehen, die Wärme oder die Kälte, das Wasser, der Sand, der Schotter, der Wald, unsere Art zu sein, zu arbeiten, unsere Musik, unsere Art zu reden. All das ist sehr verschieden von der Erde, es ist der Ort, an dem ein Volk lebt. Das Territorium ist unser Haus, und wir können nicht zulassen, dass fremde Personen kommen und bestimmen, was hier Recht ist und was nicht» , waren die Worte eines Teilnehmers an einer Versammlung des ersten Nationalen Kongress der Indigenen mit der Gemeinde der Nahuatl von Ostula im Juni. Der Kampf der indigenen Völker konzentriert sich seitdem auf die Verteidigung des Bodens und des Territoriums. Die Mitglieder der Organisation der indigenen Völker Me�pha (Tlapanèque), wie auch die der Organisation der Völker Ñuu savi (Mixteken), die Mitglieder der Gemeindepolizei und auch die Menschenrechtsaktivisten von Tlachinolàn zögern nicht, in Bezug auf die allgegenwärtige Armee in Tlapa in den Bergen von Guerrero von einem regelrechten Eroberungskrieg oder Wiedereroberung der indigenen Territorien zu sprechen: «Was kann die Anwesenheit der Armee in unseren Bergen anderes als Krieg bedeuten, mit ihren militärischen Straßensperren, dem Einkreisen der Dörfer, den Hausdurchsuchungen, den Folterungen, den Inhaftierungen, den Morddrohungen, den Ermordungen und Vermissten? Und der Anfang dieses Krieges, wie der aller Kriege, ist die Eroberung eines Territoriums.»
Wie wir bemerken konnten, kommt die Eroberung eines Territoriums der Tatsache gleich, ein Volk zu unterwerfen und sein soziales Leben, das nach seinen eigenen Austauschregeln gestaltet ist, zu zerstören. Wenn wir im Land auf Reisen sind, müssen wir an military check points anhalten. Diese military check points waren bisher dem besetzten Palästina vorbehalten. Nun scheinen sie sich überall auszubreiten. Man könnte glauben, wir lebten nun in besetzten Ländern. Mexiko ist ein besetztes Land, ein Land im Krieg gegen seine Bewohner, im Fall, dass sie sich noch nicht ganz unterworfen haben. Dieser permanente Kriegszustand erklärt die Haftentlassung der Paramilitärs von Acteal 4 als Straffreiheit, welche die Vordenker des Massakers genießen, er erklärt die Durchsuchung der Leute von Ebulà (Campeche) und die Zerstörung ihres Dorfes durch Gehilfen des Geschäftsmanns Escalante, ohne dass diese von der Polizei behelligt wurden. Er erklärt die willkürliche Verhaftung am 22. August von 12 Mitgliedern der Gemeindepolizei von Guerrero in der Gemeinde von Marquelia. Er erklärt die systematische Inhaftierung von allen, die gegen das machthabende System kämpfen, falls sie nicht umgebracht werden. Es sind Kriegshandlungen. Der Kapitalismus ist eine Kriegsmaschine, ein Krieg, der gegen die Menschheit geführt wird, worauf vor einigen Jahren ein gewisser Sous-Commandante Marcos aufmerksam machte.
Lapierre lebt in Mexiko und in Frankreich. Wie haben von ihm bereits eine Artikelreihe mit demselben Titel in den Nummern 115 bis 118 (2004) veröffentlicht.
Wie im Originaltext
Juan José Rendón war mit dem Cmpio (Koalition der indigenen Meister und Förderer von Oaxaca) der Hauptinitiator dieser Arbeitsgruppen und spielte eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung einer partizipativen Methodologie. Es erschien dazu ein Handbuch: wie im Orginaltext
Am 22. Dezember 1997 wurden im Chiapas 45 Tzotzils, vor allem Frauen und Kinder, die der katholischen Organisation Las Abejas angehörten, unter den Augen von Polizei und Militär von Paramilitärs umgebracht. 20 Paramilitärs wurden von den Überlebenden erkannt und trotzdem wieder freigelassen und kürzlich vom Obersten Nationalen Gerichtshof freigesprochen (nachzulesen bei Jean-Pierre Petit-Gras, Mexique: Acteal, Terrorisme d�Etat et d�impunité, vom 15. August 2009)