MEXIKO: Ständig auf Achse, zum Festival der Widerstände

von Cédric und Johann von Radio Zinzine (F), 27.04.2015, Veröffentlicht in Archipel 236

Zum Jahresende 2014 hatte die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee EZLN das erste weltweite Festival der Widerstände und Rebellionen gegen den Kapitalismus organisiert. Diese Initiative ist ein erneuter Versuch der Zapatist_innen sich für nicht indigene Kreise zu öffnen.

Gleichzeitig betonen sie mit Entschiedenheit das notwendige Zusammenwirken der indigenen Kräfte, die im CNI (Nationalkongress der Indigenen) vertreten sind. Die Modernisierung des Kapitalismus zu einem Extraktionskapitalismus bewirkt, dass auf der ganzen Welt enorme Infrastrukturprojekte gebaut werden, so auch in Mexiko. Auch das Land der Indigenen ist durch diese Projekte bedroht. Wie können die Kräfte vereint werden? Wie sich organisieren? Wie der brutalen und willkürlichen Repression standhalten? Welche Solidaritäten müssen geschaffen werden? Das sind einige der Fragen, die gleich zu Beginn dieses Festivals erörtert wurden, noch bevor die Toten und verschwundenen Studenten von Ayotzinapa Inhalt und Form des Festivals prägten.

Eine vereinigte indigene Front
Zum allgemeinen Verständnis muss vor dem Bericht über das Festival die aktuelle Situation der Zapatist_inen, aber auch die von Mexiko zusammengefasst werden. Im Frühjahr 2014 greifen Paramilitärs die Zapatist_innen in der autonomen Gemeinde La Realidad an und Companero Galeano kommt dabei um. Die EZLN „zerstört“ daraufhin ihre medienwirksame Ikone, den aufständischen Subcomandante Marcos. Über die Symbolik dieser Zerstörung des offiziellen Wortführers der EZLN hinaus, bedeutet das Ersetzen von Marcos, dem stark mediatisierten Mestizen, durch den aufständischen Subcomandante Moises, eine Herauskristallisierung der indigenen Identität innerhalb der zapatistischen Führung. Auch während der Woche der Comparticiòn (Treffen und Austausch) im August 2014, die zwischen den Zapatist_innen und dem Nationalkongress der Indigenen (CNI) stattgefunden haben, war zu sehen, welche zentrale Rolle die indigene Identität einnimmt. Der CNI ist ein mehr oder weniger formeller politischer Raum, den die Zapatist_innen zur Zeit der Verhandlungen mit der Regierung schufen. Das Verhandlungsergebnis waren die Verträge von San Andrès de Larrainzar über die Rechte und die Respektierung der Kulturen von den indigenen Völkern. Die im Jahr 1996 unterzeichneten Verträge wurden bisher von keiner der Regierungen in die Verfassung aufgenommen. Im CNI sind fast alle verschiedenen Ethnien eingebunden, die gegen den Kapitalismus und seine Wegbereiter kämpfen: das heisst gegen politische Parteien oder Drogenkartelle, die oft äusserst eng miteinander verflochten sind. Es ist ein politisch unabhängiger Raum, der sich von allen Parteien abgrenzt und auch von der ELZN. Er versucht, die verschiedenen Kämpfe miteinander zu verbinden und diejenigen Menschen zu verteidigen, die bei den Auseinandersetzungen ins Gefängnis geworfen werden. Die Art, wie gekämpft wird, basiert meistens auf den Sitten und Gebräuchen (usos y costumbres) der indigenen Völker. Ihre Organisationsform in den indigenen Comunidades ist theoretisch durch die mexikanische Verfassung anerkannt, wird aber vom Staat sehr oft missachtet.

Suche nach weltweiter Solidarität
Die Zapatist_innen wissen sehr gut, dass eine vereinigte indigene Front, so nötig sie ist, nicht genügt. Aus diesem Grund kam nach den Treffen im August die Einladung zum ersten weltweiten Festival der Widerstände und Rebellionen gegen den Kapitalismus vom 21. Dezember 2014 bis 3. Januar 2015 in Umlauf. Die gemeinsame Einladung der ELZN und des CNI richtete sich an die nationalen und internationalen politischen Weggefährt_innen der «Sechsten Erklärung aus dem Lakadonischen Urwald». Die Sexta, wie sie Eingeweihte nennen, war der x-te Versuch gewesen, den die Zapatist_innen im Jahr 2006 unternahmen, um sich für die nicht-indigene Gesellschaft und für internationale Kreise zu öffnen, die gegen den Kapitalismus «unten und links» kämpfen. Eine Besonderheit der Sexta ist der Wille, die politische Tagesordnung der Mächtigen zu verlassen und dem Parteiensystem und Wahlen als Strategie für eine soziale Veränderung den Rücken zu kehren. Dadurch verlor die zapatistische Bewegung eine Zeit lang die mögliche Unterstützung von der politischen Linken, die immer noch an einen Wandel durch Wahlen glaubte.
Aber das Jahr 2006 ist weit entfernt und die Situation in Mexiko hat sich seit dieser Initiative sehr verändert. Die Absage an die Parteien, die alle auf der einen oder anderen Ebene mit den Drogenkartellen verquickt sind, wird in den Organisationen, Kollektiven und politischen Auseinandersetzungen viel breiter vertreten und ebenso in der ganzen mexikanischen Gesellschaft. Die seit Jahren fast verstummte nationale Sexta ist für die Organisation des Festivals neu aktiv geworden. Zur selben Zeit fand die Mobilisierung für Ayotzinapa statt.

Die verschwundenen Studenten
Am 26. September 2014 wurden im Bundesstaat von Guerrero sechs Personen darunter drei Studenten getötet und 43 Schüler der Escuela Normale Rurale Raùl Isidro Burgos (1) in Ayotzinapa entführt. Sie sind bis heute verschwunden. Die ersten offiziellen Stellungsnahmen zu diesen Geschehen geben den Gemeindepolizisten die Hauptverantwortung dafür. Diese hätten die Studenten an das Kartell «Vereinigte Krieger» ausgeliefert. Alle hätten auf Befehl des Bürgermeisters von Iguala gehandelt, welcher der sogenannt «linken» PRD angehört (2). Die Abscheulichkeit dieser Taten und die Würde und politische Klarheit der Familien und Freund_innen der Verschwundenen hat die mexikanische Gesellschaft wach gerüttelt. Das Erwachen ist brutal: Jede(r) kennt die Bedeutung der Kartelle und des Drogenhandels, aber Ayotzinape ist der Beweis, dass sich Mexiko in einen Drogenhändlerstaat verwandelt hat und mit ihm alle Institutionen und Parteien. Oft wird davon ausgegangen, dass die Drogenhändler_innen sich auf den Drogenhandel beschränken. Aber diese haben ihre Hände auch beim Handel mit Waffen, Organen, Migranten_innen und Prostituierten im Spiel. Die Kartelle sind mit ihrer Politik des Terrors auch die Stosstruppen für die kapitalistische Modernisierung. Sie zwingen die Menschen zur Flucht und dazu, ihr Land den grossen Infrastrukturprojekten zu überlassen. Anscheinend braucht der Kapitalismus für seine Entwicklung keinen sozialen Frieden mehr. Er schafft das Chaos, um das Terrain besetzen zu können. Eine Woche vor Beginn des Festivals kündigte die EZLN an, dass die Zapatist_innen nicht als Zapatist_innen am Festival teilnehmen würden. Sie zögen es vor, den Angehörigen und Freund_innen der verschwundenen Studenten den Ehrenplatz zu geben.

Das Festival
Die Einladung zum Festival bewegte uns sehr. Denn wir spürten, dass uns die Stärke der mexikanischen Bewegungen inspirieren und bereichern könnte. Dabei haben wir nicht vergessen, dass die multinationalen Konzerne mit ihren Infrastrukturprojekten oft aus unserer westeuropäischen Welt kommen. Vor dem Beginn des Festivals mussten sich die Teilnehmer_innen anmelden. Die Anmeldung war mit einigem bürokratischen Aufwand verbunden, der uns jedoch verständlich erschien in Betracht der Grösse und der Ausdehnung des Anlasses. Wir hatten uns per Internet angekündigt: Name?- Vorname?-...-Welche Strecke möchten wir reisen? Vier rutas standen zur Wahl, vier Strecken quer durch den Süden des Landes. Zweimal sollte im Konvoi gereist werden. Wir suchten die zwei längsten Strecken aus, um die meisten Orte zu entdecken und viele Menschen zu treffen.
Bei unserer Ankunft im Hauptstadtdistrikt von Mexiko-Stadt und seinen Vorstädten, wurden wir eingeladen, im Rincòn Zapatista vorbei zu kommen. Dabei handelt es sich um einen Ort für politische und kulturelle Veranstaltungen. Hier werden Produkte verkauft und Dokumentationen verteilt. Der Erlös kommt der EZLN zu Gute. Hier wurden wir von C., der Organisatorin der Festival-Karawane und auch früherer Karawanen, in Gegenwart von Compañeros und Compañeras mit unverdeckten Gesichtern erwartet. Unseren Anmeldungen für die zwei Reisestrecken fügten wir zwei Photokopien unserer Pässe bei. Im Fall einer Kontrolle durch Staatsbeamte oder die Armee sollte dies für eine schnellere Abwicklung sorgen. Denn die ausgewählten Orte für die Etappen unserer Karawane befinden sich in einer direkten Konfrontation mit dem Staat und kämpfen gegen diverse grosse Unternehmen und ihre Handlanger.

Ankunft in Amilcingo
Ein Teil von uns musste in den Bus nach Amilcingo steigen. Die Busse mussten über die ganze Dauer des Festivals im gemeinsamen Konvoi reisen. Dies sorgte für unsere Sicherheit und gleichzeitig für unendliche Pausen. Einerseits bedauerten wir, Xochicuautla mit seinen Menschen und ihrem Kampf nur oberflächlich kennengelernt zu haben, andererseits liessen wir die Kälte gerne hinter uns, um uns auf den Weg in den Bundesstaat von Morelos im Süden Mexikos zu machen. Sechs Stunden später... ein Feuer, mitten auf der Strasse, bringt die Karawane zum Stehen. Es ist der Ortsrand von Amilcingo, den ein paar junge Bemützte kontrollieren. Glück gehabt. Dieses Empfangskomitee bringt uns in Stimmung. Das angenehme Klima, die bemützten Dorfbewohner_innen, die uns ihr Lächeln schenken: die einen mit den Augen, die anderen mit dem Mund. In fünf ordentlichen Schlangen stellen wir uns bei den verschiedenen Tischen an: Anmeldung, freie Medien und zuletzt Unterbringung. Alles war organisiert, um 3.500 Menschen empfangen zu können. Wir, die 500 Ankömmlinge per Bus, bekommen jede(r) die Nummer von einem Schlafsaal oder einem Platz zum Zeltaufstellen. Nach dem gemeinsamen Aufstehen erwarten uns Kaffee, Bohnen, Reis und Tortillas. Die Veranstaltung beginnt mit einer Zeremonie der Nahua. Erhobene Hände, die, Gott weiss, welchen Gott beschwören, Trommeln, Weihrauch und Tänze laden uns dazu ein, den Kult zu respektieren. Uns drängen sich Fragen über den Zusammenhang zwischen Kämpfen und Religionen auf, über die Entwicklung von Traditionen und über eingefleischte Normen. Die hingebungsvolle Stimme des „Priesters“, der sich nacheinander in alle vier Himmelrichtungen wendet, übertönt mit nur wenigen Unterbrechungen die Rhythmen und heiligen Tänze. Dann beginnen die Comparticiónes, verschiedene Berichte, die vorgetragen werden. Die Angehörigen der Verschwundenen ergreifen das Wort, bevor der Kampf von Amilcingo vorgestellt wird. Diese Gemeinde ist eine von 82, die, auf die drei Bundesstaaten Morelos, Tlaxcala und Puebla verteilt, von einem Megaprojekt betroffen sind, dem Projet Intégral Morelos (P.I.M.). Es geht um den Bau eines Wärmekraftwerks, eines Aquädukts und einer Gas-Pipeline, damit in Zukunft ein Industriekorridor entstehen kann. Wir befinden uns etwa 40 Kilometer vom Vulkan Popocatepetl entfernt, der immer noch aktiv ist, und die Erde rundherum bebt regelmässig. Hier eine Gas-Pipeline zu bauen, ist nicht nur gefährlich, sondern völlig unsinnig. Der Bau des Aquädukts und des Wärmekraftwerks nimmt den indigenen Comunidades einen Grossteil des Wassers weg, das sie benötigen. Die Verödung des Bodens ist bereits zu sehen. Das Ganze findet unter maximaler Ausblendung der Bevölkerung statt. Die Menschen wurden weder konsultiert noch informiert, und die Arbeiten begannen ohne Baubewilligung. Um sich dagegen zu wehren, wurden Strassenblockaden errichtet und korrupte Notabeln festgehalten. Auf die Zusammenstösse mit Bundespolizisten folgte natürlich die Repression. Um diesen Kampf zu unterstützen, entstand 2013 Radio Comunal Amilcingo. weiter geht es mit den Comparticiónes der anderen Mitglieder des CNI, der nationalen und schliesslich der internationalen Sexta. In fast genau dieser Reihenfolge ereignen sich die Comparticiónes an den anderen Etappen.

Kampf gegen Grossprojekte
Zwei Tage lang, während jeweils acht Stunden, stellen die verschiedenen Redner_innen innerhalb von fünf bis fünfzehn Minuten ihren Kampf, ihre Erfolge oder Niederlagen vor und bringen ihre Unterstützung und Solidarität mit den anderen Kämpfen zum Ausdruck. Die Hunderte von Interventionen der formellen Vertreter_innen der indigenen Gemeinschaften oder Gruppen lassen sich unterscheiden zwischen denen des CNI und denen der Sexta. Die Angehörigen des CNI beschrieben fast immer ein ähnliches Bild wie in Amilcingo: Eine indigene Gemeinschaft ist mit einem grossen Infrastrukturprojekt konfrontiert, das versucht, sich den kommunalen Boden und die natürlichen Ressourcen unter den Nagel zu reissen. Die Menschen organisieren und wehren sich. Die Repression schlägt zu. Zu den Grossprojekten gehören unter anderem Flughäfen, Autobahnen, Tourismuszonen, riesige Windkraftanlagen, Ausbeutung von Schiefergas und die Ausbreitung von genveränderten Pflanzen. Die Mitglieder der Sexta leben meist im städtischen Raum und haben keine Dorfgemeinschaft hinter sich. Ihre Themen waren deshalb unterschiedlicher: Migration, politische Gefangene, Land- und Hausbesetzungen, kollektive Projekte, freie Medien... Aber alle sprachen von Solidarität mit den anderen. Das geduldige, aufmerksame Zuhören beeindruckte uns. Die Reaktionen schafften das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Denn jeder Compañero und jede Compañera beendete die Intervention mit einem oder mehreren Slogans, denen sich das Publikum im Sprechchor anschloss und denen noch zahlreiche andere hinzufügt wurden. Das ergab einen lebendigen Eindruck von kollektiver Stärke.

Vielfältige Kommissionen
In wenigen Monaten hatte Amilcingo mit etwa 60 anderen indigenen Comunidades den Empfang des Festivals vorbereitet. In zahlreichen kleinen und grossen Versammlungen bildeten sich zehn Kommissionen: weniger sichtbare und dennoch wichtige, die sich um die Anmeldung der Teilnehmer_innen, die Tonaufnahmen und die Unterbringung kümmerten. Eine Kommission übernahm die Aufgabe, jede einzelne Vorstellung der verschiedenen Kämpfe schriftlich wiederzugeben. Die Kommission „freie Medien“ forderte förmlich auf, nicht zu filmen und Panoramafotos nur während den kulturellen Momenten zu schiessen. Tonaufnahmen konnten ohne Problem gemacht werden.
Die Kulturkommission hatte mit den Kindern gearbeitet, die uns ihre Masken, Gedichte und Musik zu Ende der comparticiónes vorstellten. Die Kommissionen für Küche, Toiletten und Gesundheit waren ebenso effizient wie die vorher genannten. Die Frauen (wie auch woanders) haben uns wohlschmeckendes Essen in einer fröhlichen und entspannenden Atmosphäre zubereitet. Unglücklicherweise ist eine Konfusion zwischen diesen drei Kommissionen entstanden. Hatten wir die erste genossen, so standen wir in der Nacht schweigsam Schlange vor der zweiten und hielten uns den Bauch, im Morgengrauen traf man/frau sich wieder bei der dritten und kehrte zur zweiten zurück... Am zweiten Tage waren unsere Eingeweide wieder in Ordnung. Der Kommission für Wachsamkeit gehörte ein Grossteil der Männer (wie auch woanders) an. Maskiert oder unmaskiert sah man/frau sie Tag und Nacht in beeindruckender Anzahl auf Wachposten im Dorf und in seiner Umgebung oder unterwegs auf dem Fahrrad. Dieses Mal hatten wir die Gelegenheit, den Dorfbewohner_innen und anderen Festivalteilnehmer_innen persönlicher zu begegnen. Es ergaben sich spannende Diskussionen. Wir hatten das Gefühl, eine gemeinsame Basis zu haben, und die gegenseitige Neugierde beschleunigte das Kennenlernen. Doch schon mussten wir in den Bus zurück in Richtung Mexiko-Stadt klettern.

Lienzo Charro
Als nächstes empfängt uns die FPFVI - UNOPI (Unabhängige Volksfront Francisco Villa - Nationale Union der politischen linken Organisationen) an einem ihrer Orte, dem Lienzo Charro.
Diese Volksfront, kurz die Panchos genannt, hat in den armen Vierteln in Mexiko-Stadt neun Orte besetzt. Zu ihnen kommen Menschen, die Wohnraum brauchen und mit denen sie Besetzungen von grossen Bauobjekten organisieren. Ihr politischer Hintergrund ist kommunistisch, aber sie versuchen eine selbstverwaltete Organisation aufzubauen, die ohne Polizei auskommt; ihre Funktionsweise erscheint strikt. In der grössten Gemeinschaft wohnen 800 Familien zusammen, in anderen 100, 500 oder 600 Familien. Unter Lienzo Charro versteht man in Mexiko eine Manege, in der Pferde dressiert werden und Darbietungen mit Pferden stattfinden. Reiten als Hobby ist eine Aktivität der Reichen, die Panchos machen sie der armen Bevölkerung des Viertels zugänglich. In der „Manege“ finden auch grosse Veranstaltungen wie dieses Festival statt. Ein beeindruckendes Aufgebot von 200 Personen, davon 70 Prozent Frauen, kümmert sich um den Empfang des CNI (Nationalkongress der Indigenen) und den Schutz der Festivalteilnehmer. Sie tragen die Fahnen mit dem Emblem der Front. Die Stöcke an denen sie befestigt sind erinnern mehr an den Stiel eines Vorschlaghammers. Im Rahmen des Festivals wurde an diesem Ort ein kulturelles Programm mit Konzerten während drei Tagen und dem Verkauf von Produkten, die aus den zapatistischen Comunidades stammen, organisiert.

Monclava
Am vierten Tag, dem 27. Dezember 2014, warten wir vier Stunden auf den Bus, um nach Monclava im Bundesstaat von Campeche aufzubrechen. Der Ort liegt an der Grenze zu Guatemala in etwa 1000 km Entfernung von Mexiko-Stadt. Die Reise ist ein kleines Abenteuer. Wer Glück hat, kommt nach 21 Stunden an; die letzten schaffen die Reise erst nach 38 Stunden. Polizei und der Kontrolldienst für Migrant_innen halten uns, wie üblich auf den mexikanischen Strassen, mehrere Male an. Zu unserer Sicherheit begleitet uns die Bundespolizei im Schneckentempo über einige Kilometer. Wir halten unsere Sicherheit dadurch eher für beeinträchtigt, aber die Eskorte dauerte nur ein, zwei Stunden. In Monclava überraschen uns die üppige Natur und ein tropisches Klima. Die Mücken ärgern uns und die Alligatoren hindern uns daran, nachts in dem wunderbaren Fluss zu baden. Das Leben und die Comparticiónes, die Berichte, ähneln denen in Amilcingo sehr, nur dass sie regelmässig von Regenfällen begleitet sind. In dem Dorf kämpfen die Frauen und Männer der „Bewegung des zivilen Widerstandes und der nicht bezahlten Elektrizität“ seit 2006 für das Recht auf einen ausreichenden Stromanschluss und für einen gerechten Strompreis.
Die zwei dort verbrachten Tage erscheinen uns wieder als zu schnell vorüber gegangen, als wir Richtung Chiapas aufbrechen, dem Zentrum des Kampfes der Zapatist_innen.

Oventic
Am 31. Dezember brechen wir am frühen Nachmittag von San Cristobal de las Casas zum Caracol Oventic auf. Hier soll ein Fest der Widerstände stattfinden, aber auch das 20jährige Jubiläum des zapatistischen Aufstands gefeiert werden. Für jemanden der noch nie das zapatistische Territorium betreten hat, ist die Ankunft in Oventic beeindruckend, noch dazu im Rahmen eines Festivals inmitten einer Masse von zapatistischen und anderen Teilnehmer_innen. Alle Zapatisten, von den Grossmüttern bis zu den Kindern, tragen entweder Mützen, die nur die Augen aussparen, oder das „paliacate“ ein rotes Halstuch, um ihr Gesicht zu verdecken. Das Organisationsniveau überrascht ebenso: auf einer riesigen Bühne sind drei Orte für Konzerte hergerichtet, Schulen sind in Schlafsäale umgewandelt, es gibt einen diskreten aber sichtbaren Sicherheitsdienst, zapatistische Ambulanzfahrzeuge und anderes mehr.
Am Ende des Nachmittags beginnen die Konzerte und die Besucher_innen strömen unaufhörlich herbei. Nieselregen setzt ein, der sich mit richtigem Regen abwechselt. Wir sind eben auf dem Hochplateau von Chiapas. Dekoriert ist die Bühne mit einer Fahne der EZLN (zapatistische nationale Befreiungsarmee), Banderolen des Festivals oder für die Befreiung der politischen Gefangenen und einer mexikanischen Fahne, die zwei oder dreimal so gross ist, wie jede andere Banderole... Die ersten Konzerte variieren zwischen Rap und Reggae. Die Mützen- und Halstuchträger_innen beobachten mehr, als dass sie tanzen. Das ändert sich völlig, als corridos (5) und andere typisch mexikanische Musik zu hören sind.
Gegen 22 Uhr nach mexikanischer Zeit, also um 23 Uhr nach zapatistischer Zeit (die gleiche Zeitzone wie Kuba), beginnt der „zivile Akt“. Die Musik verstummt, alle setzen sich zu Boden. Auch die Stände, die Essen und Kunsthandwerk verkaufen, werden geschlossen. Auf der Bühne erscheint die Delegation der Familien und Freund_innen der verschwundenen Studenten und hinter ihnen eine Delegation der zapatistischen Führung und einige Personen des Nationalen Kongress der Indigenen (CNI).
Bevor das Wort ergriffen wird, ertönt die mexikanische Hymne und Soldaten der zapatistischen Armee defilieren ohne Waffen, aber mit zwei Fahnen: die Fahne der EZLN und zwangsläufig die mexikanische. Die Familien und Freund_innen der Toten und Verschwundenen von Ayotzinape beginnen zu sprechen. Es ist emotionell immer noch sehr bewegend, was sie sagen und manchen in der Versammlung kommen die Tränen. Natürlich bedanken sich die Familien bei der EZLN für den Platz, der ihnen beim Festival eingeräumt wurde. Sie betonten die Notwendigkeit einer tief greifenden sozialen und anti-kapitalistischen Veränderung. Das politische und wirtschaftliche System hat ihre Angehörigen ermordet und verschleppt, deshalb muss es zu Fall gebracht werden.
Danach prangert der Sprecher des CNI mit ebenso kraftvollen und entschiedenen Worten den immer brutaleren Kapitalismus an. Die Situation der Indigenen ist sehr schwierig, zwischen den Grossprojekten, durch die ihnen ihr Land weggenommen wird und der Repression gegen die darauf folgenden Widerstandsbewegungen. Ganz zu schweigen vom strukturellen Rassismus, den die mexikanische Gesellschaft ihnen gegenüber zeigt. Um eine Veränderungsmöglichkeit zu entwickeln, muss man sich links unten organisieren.
Zum Schluss spricht der aufständische Subcomandante Moises Worte voll Ehrerbietung für die Getöteten und Verschwundenen von Ayotzinapa und ihre Familien und Freund_innen. Er unterbricht seine Rede, um jede_n Einzelne_n der Delegation in die Arme zu nehmen. Beim Ausrufen der 46 Namen steigen 46 Zapatisten auf die Bühne, um die Angehörigen und Freund_innen zu umarmen. Bei jedem Namen antwortet die Menge „presente!“. Moises beendet seine Rede damit, wie wichtig es ist, weiterhin das kritische Denken und die Theorie, zu pflegen. Auch in den schwierigsten Momenten ist es notwendig Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ansonsten verlieren wir den Bezug zur Realität.
Mit der zapatistischen Hymne endet der politische Teil des Programms, der von Emotionen erfüllt war, bevor ein Feuerwerk losgeht und die Feuerwerkskörper aufs Geratewohl herunter fallen und auch die Zelte auf dem Campingplatz nicht verschonen.
Die Musik gewinnt sprichwörtlich wieder Oberwasser, denn es regnet und dauert trotzdem bis in die frühen Morgenstunden. Trocken bleiben nur die Kehlen, denn bei den Zapatist_innen ist Alkohol verpönt.

Abschluss und Fragen
Bei der Abschlussveranstaltung am 3. und 4. Januar im CIDECI (4) von San Cristobal de las Casas herrscht Massenandrang. Der erste Tag verläuft aus organisatorischen Gründen etwas chaotisch. Inhaltlich ist es für uns eine Wiederholung, da wir während den vorangegangenen Etappen an den „comparticiònes“ teilgenommen hatten.
Die Menschenmenge schafft eine Atmosphäre, die uns etwas verunsichert, vor allem weil sie eine grosse Distanz zwischen dem CNI und den Vertreter_innen der nationalen und internationalen Sexta schafft. Die Mitglieder des CNI sind nun gänzlich unansprechbar geworden. Ausserdem plaziert sie eine Spezialbehandlung in eine gehobene Stellung. Sicherlich braucht der CNI dies, um sein Selbstverständnis zu stärken. Für uns jedoch ist diese Trennung brutal, nach all den gemeinsam verlebten Tagen in Amilcingo und Campeche. Diese Trennung war übrigens schon während der Busreisen spürbar. Die Mitglieder des CNI hatten eigene Busse. Auch wenn wir die Gründe dafür begreifen, ist es etwas schade. Die vielen im Bus verbrachten Stunden hätten mehr Begegnungen zwischen den Menschen des CNI und der Sexta ergeben und mehr Nähe geschaffen.
In den Gassen des CIDECI herrscht wieder die Atmosphäre eines alternativen Markts, wie wir sie in Mexiko-Stadt erlebt haben. An einer grossen Anzahl von kleinen Ständen werden Gegenstände angeboten, denen ein revolutionärer Wert anhaftet. Damit versuchen Gruppen, Kollektive und Einzelpersonen, ihre Reisekosten zu decken. In Anbetracht der wirtschaftlichen Lage in Mexiko ist verständlich, dass alle Gelegenheiten wahrgenommen werden, um den mageren Geldbeutel zu füllen, aber diese Jahrmarktstimmung irritiert uns.
Von unserer Reise sind wir mit einigen Fragen zurückgekehrt. Eine wichtige betrifft die Ereignisse während der Etappe im Lienzo Charro in Mexiko-Stadt, oder besser gesagt das was nicht stattgefunden hat. Das Kulturfestival wurde mit den Berichten der Angehörigen und Freund_innen der Verschwundenen von Ayotzinapa eröffnet und ging danach mit Konzerten weiter. Warum passierte inhaltlich im Lienzo Charro nichts anderes, obwohl an diesem 26. Dezember, vor genau drei Monaten, die Verschleppung stattgefunden hat? Im Stadtzentrum hingegen fand im Andenken an die Geschehnisse eine Demonstration statt.
Etwas anderes: Wir können uns zum Beispiel kein antikapitalistisches Treffen in Frankreich vorstellen, bei dem die französische Fahne gehisst wird. Auch wenn sich Frankreichs Geschichte als Kolonialmacht sehr von der Geschichte des eroberten Mexikos unterscheidet und es nicht einfach ist, neben den USA zu bestehen, war es für uns eine Überraschung, dass der mexikanische Nationalismus sehr präsent war.
Die Konzepte von Recht, Justiz und Demokratie beinhalten unserer Meinung nach auch ziemlich problematische Seiten. Findet die Rechtssprechung im Rahmen einer Volksversammlung statt und in welcher Weise geht sie vor sich? Oder ist damit das Entstehen irgendeiner Institution verbunden? Das Konzept von Demokratie wurde ebenfalls oft zitiert, ohne klar und deutlich auszudrücken, ob eine direkte Demokratie auf Versammlungsbasis gemeint ist oder ein anderes Konzept. Ein weiterer Punkt, der uns Mühe bereitete, war die Form der Treffen selbst. Die Bürokratie nahm viel Platz ein, war aber sicher notwendig, um das Infiltrationsrisiko zu verringern, und um gewisse materielle Angelegenheiten im Griff zu haben. Der starke Formalismus und die straffe Organisationsstruktur während der Treffen schufen eine Distanz, enthoben uns ziemlich jeglicher Verantwortung und liessen keinen Platz für Mitgestaltung. Überraschend fanden wir auch, dass es keine Fragen oder Diskussionen gab, wenn ein Kampf oder eine Gruppe vorgestellt wurde. Aus unserer Sicht wurde für Diskussionen und Gedankenaustausch in den Versammlungen zu wenig Platz gelassen. Ebenso fehlte es an Diskussionen in kleinen oder grösseren Gruppen. Zum Glück gab es den informellen Austausch. Er hätte noch grösser sein können, wenn wir an der kollektiven Organisation mitbeteiligt gewesen wären, zum Beispiel bei der Zubereitung des Essens und beim Aufräumen der gemeinschaftlich genutzten Orte.
Manches an diesem Festival war für uns ein Kulturschock. Wir treten dafür ein, dass die Demokratie, die mit gewählten Stellvertretern funktionniert. Die gerechtfertigte Kritik an der schlechten Regierung lässt die Schlussfolgerung zu, dass es eine gute Regierung gibt. Aber was für eine? Wer oder was steht dahinter? In welcher Grössenordnung ist sie durchführbar?
Die Kritik dieser paar Punkte ist nicht leichtfertig dahergesagt und jedenfalls kein Grund für einen Bruch. Wir wissen sehr genau, wie schwierig es ist, eine horizontale, vielfältige Bewegung aufzubauen, in der sich keine Vormachtstellung herausbildet. Niemand ist im Besitz der Wahrheit und nichts ist jemals perfekt. Auch wenn unsere Sichtweise eine von weissen Europäern ist, haben uns diese Treffen begeistert.

Zukunft
Zum Schluss wurde ein vom CNI geschriebenes „pronunciament final“(5) vorgelesen. Darin wurde zusammengefasst, was während der Treffen über die verschiedenen Kämpfe berichtet worden war und rief dazu auf die antikapitalistischen Kämpfe von linksunten zu verstärken. Dieser Text beinhaltet keine grossen Entscheidungen, Übereinkünfte oder Projekte und vielleicht ist es auch besser so. Denn wem steht es zu, solche Entscheidungen zu treffen? Zu oft haben wir gesehen, dass grosse Entscheidungen gefasst und niemals ausgeführt wurden, oder von oben nach unten aufgezwungen werden. Der schrittweise Weg, um „dort, wo die von oben zerstören, die von unten aufbauen“ ist nur möglich, wenn man sich die Zeit nimmt zur Begegnung und zum Kennenlernen. In dieser Weise umschifft man die Gefahr, dass eine Gruppe oder eine Denkweise die Vormachtstellung einnimmt. Es gibt einer Vielfalt von Menschen Handlungsfreiheit und die Möglichkeit, je nach dem lokalen Kontext vielfältige Strategien anzuwenden.
Eine Idee wuchs im Kreis der Vertreter_innen der internationalen Sexta: die Familien und Freund_innen der Verschwundenen von Ayotzinapa zu einer Tournee in Europa einzuladen. Viele Fragen über die Zielsetzung und die Organisationform einer derartigen Tournee bleiben offen. Für die Situation in Mexiko und in Anbetracht der Tatsache, dass die Solidaritätsbewegung mit Ayotzinapa die Armee im Visier hat, kann sich der Druck aus internationalen Kreisen auf die Regierung nur positiv auswirken.
Bis bald, beim nächsten Festival?
Tuttle und Batchi, Frankreich

  1. Diese Schulen zur Ausbildung von Lehrer_innen wurden vom Präsident Lazaro Cardenas in den 1930er Jahren eingeführt. Ihr Ziel ist es, die ausschliesslich indigenen Schüler_innen zu Lehrer_innen auszubilden, damit diese ihr Wissen wiederum in die Gemeinschaften einbringen. Meist sind diese Schüler_innen sehr arm, aber höchst politisiert und aktiv. Sie sind treibende Kräfte für die Entwicklung in ihren Gemeinschaften. Die Besonderheit dieser
    Schulen ist, theoretisches und praktisches Lernen zu verbinden, vor allem im landwirtschaftlichen Bereich. Es gibt getrennte Schulen für Frauen und Männer.
  2. Diese Version der Geschehnisse wird von den Gruppen und Personen, die sich mit den Verschwundenen solidarisieren, nicht geteilt. Sie geben der Armee und damit dem Staat die Verantwortung für die Untat. In der offiziellen Version der Regierung und der grossen Medien wird jegliche Verantwortung auf den drei staatlichen Ebenen von Gemeinde, Staat und Bundesstaat bestritten.
  3. Corridos sind typische mexikanische Volkslieder, die vom alltäglichen Leben und den Kämpfen erzählen. Sie sind ein Teil der Geschichtsschreibung der Volksbewegungen.
  4. CIDECI bedeutet Centro Indígena de Capacitación Integral-Universidad de la Tierra (CIDECI-Unitierra) und ist ein Schulungszentrum für die indigenen Gemeinschaften. In den neun Jahren seiner Existenz wurden auf seinem Gelände eine beachtliche Anzahl an Infrastrukturen, Gebäuden, Werkstätten, etc. gebaut. Alles ist phantasievoll und farbenfreudig dekoriert. Eine der Besonderheiten des CIDECI besteht darin Bereiche, die bei uns nur zu oft getrennt sind gleichwertig zu lehren. Das heisst Kunst, Praxis (Landwirtschaft oder Schreinerei z.B.) und Analytik innerhalb allwöchentlicher Seminare, bei denen die lokalen, nationalen und internationalen aktuellen Ereignisse analysiert und debattiert werden, sind gleich gewichtet.
  5. Abschlusskundgebung auf: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2015/01/13/erklaerung-nach-dem-ersten-weltfestival-des-widerstandes-und-der-rebellionen-gegen-den-kapitalismus/