MIGRATION: Abschaffung des Asylrechts?

von Gianfranco Schiavone, 15.11.2021

In diesem Brief der Schande, verfasst von zwölf EU-Ländern, wollen Europas Gendarmen das Recht auf Asyl abschaffen. Sie fordern eine Abriegelung der EU durch den Bau von Mauern, um Migrant·inn·en fernzuhalten. Ihr Schreiben an die Europäische Kommission stellt einen beispiellosen Versuch dar, die Grundprinzipien der europäischen demokratischen Ordnung zu untergraben.*

Am 7. Oktober haben die Innenminister von zwölf EU-Ländern (Österreich, Bulgarien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Griechenland, Ungarn, Litauen, Lettland, Polen, Slowakei – also nicht nur die Visegrad-Länder! – ein Schreiben an die Präsidentin der Europäischen Kommission gerichtet. In dem Schreiben wird die Europäische Kommission aufgefordert, den derzeitigen EU-Rechtsrahmen zu ändern, um Versuchen von Nicht-EU-Staaten entgegenzuwirken, illegale Migration für politische Zwecke zu nutzen. In dem Schreiben werden auch andere, nicht näher definierte „hybride Bedrohungen“ (hybrid treats) erwähnt.

In dem Brief wird ausdrücklich auf den Bericht der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, vom 29. September letzten Jahres verwiesen, in dem sie am Beispiel von Weissrussland auf die Existenz von staatlich gefördertem Menschenschmuggel (state-sponsored migrant smuggling) hinweist. Das bedeutet, dass ein Staat die irreguläre Migration künstlich herbeiführt und erleichtert, während er den Migrationsdruck für seine eigenen politischen Zwecke nutzt. In der oben erwähnten Rede deutet von der Leyen an, dass die EU über eine Art verstärkten Werkzeugkasten verfügen müsste, der die gesamte Bandbreite der ihr zur Verfügung stehenden operativen, rechtlichen, diplomatischen und finanziellen Instrumente zusammenfasst, um dieses neue Phänomen zu bekämpfen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Kommissarin bei ihrer allgemeinen Forderung nach dieser Art von Intervention auch auf die Notwendigkeit hinweist, den Migrant·inn·en, die instrumentalisiert werden, Hilfestellung zu leisten. Die Instrumentalisierung von Migrationskrisen durch Drittländer mit nicht-demokratischen oder explizit autoritären Regimen kann sicherlich nicht als neues Phänomen bezeichnet werden; neu sind vielleicht die Auswirkungen und das Ausmass, das dieses Phänomen in Europa angenommen hat.

Geheime Abkommen

Aber Frau von der Leyen hat in ihrem Bericht nicht die Tatsache beleuchtet, dass es die EU selbst ist, die seit mehreren Jahren Abkommen mit Drittstaaten abschliesst, die zumeist geheim sind oder jedenfalls nicht der demokratischen parlamentarischen Kontrolle unterliegen wie im Fall des „Nicht-Abkommens“ zwischen der EU und der Türkei. Dabei handelt es sich um Absprachen mit dem Ziel, Migrant·inn·en aufzuhalten, aber ohne jede rechtliche Betreuung oder jeden Schutz der betroffenen Menschen in den Ländern, wo ihre Weiterreise verunmöglicht wird. Es ist also die Externalisierung der Asylpolitik und der EU-Grenzen, die zu explosiven Krisensituationen führt, die dann von Drittländern ausgenutzt werden können, welche diese Art von Abkommen unterzeichnet haben und deren Verhalten im Nachhinein beklagt wird.

Ich möchte nicht länger auf die Kohärenz der Analyse von Präsidentin von der Leyen eingehen, sondern auf den Text des oben erwähnten Schreibens der zwölf Minister·innen zurückkommen, in dem sie wesentliche Änderungen am derzeitigen Schengener Grenzkodex, d.h. der Verordnung EU 2016/399, fordern. Ihrer Ansicht nach fehlen in dieser Verordnung klare Leitlinien zu den Massnahmen, welche die Mitgliedstaaten im Falle eines hybriden Angriffs, charakterisiert als ein „durch einen künstlich erzeugten Massenzustrom irregulärer Migranten, der von einem Drittland erleichtert, organisiert und/oder vorangetrieben wird“, ergreifen könnten. Seltsamerweise wird in diesem Papier nicht darauf eingegangen, einen der grundlegenden Begriffe genauer zu definieren oder gar zu klären, ab wann ein Migrationsstrom als „künstlich“ bezeichnet werden kann. Sollte sie als Ankunft von Menschen verstanden werden, die gezwungen sind, das Drittland zu verlassen, dies aber nicht wollen? Oder sollte gar die Entscheidung von Migrant·inn·en, das Land, in dem sie blockiert wurden, zu verlassen, sobald sich aufgrund eines politischen Wandels die Gelegenheit dazu bietet, als künstlich angesehen werden? Und welche Massnahmen sollten ergriffen werden, um diese Art von Krise unter Wahrung der Grundrechte der Betroffenen zu bewältigen, wenn man sich bewusst ist, dass die politische Instrumentalisierung solcher Situationen schwerwiegende Folgen haben kann?

Errichtung von Sperranlagen

Diese Fragen werden in dem Schreiben nicht beantwortet, in dem lediglich beklagt wird, dass das EU-Recht ausser der Grenzüberwachung keine Massnahmen zur Verhinderung illegaler Grenzübertritte vorsieht und dass es keine physischen Barrieren als Massnahme zum Schutz der EU-Aussengrenzen gibt. Dies führt zu dem einzigen Vorschlag in dem Schreiben: die Errichtung von Sperranlagen an allen Aussengrenzen als dauerhafte Massnahme (und nicht als mögliche Extremmassnahme im Falle einer Krise), deren Verwirklichung für die Europäische Union Priorität haben sollte. (Im Text: „Die physische Barriere scheint eine wirksame Grenzschutzmassnahme zu sein, die dem Interesse der gesamten EU dient, nicht nur dem der Erstankunftsländer“).

Im gesamten Text fällt die Verwendung einer militärischen Sprache auf: Hier verlieren die Menschen – von Drittländern als missbrauchte Waffen betrachtet – ihren primären Status als Opfer, und wenn man genau hinsieht, verlieren sie sogar ihren Status als Menschen.

Im Text des Rundschreibens tauchen die Worte Hilfe, Aufnahme, Asyl oder Schutz nie auf, ausser an einer Stelle, wo auf die überlasteten Migrations- und Asylsysteme verwiesen wird, deren Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Diejenigen, die durch die physische Barriere am Eindringen gehindert werden sollen, werden als eine undeutliche Masse von Feinden wahrgenommen.

In dem Dokument wird an keiner Stelle die rechtliche und ethische Frage aufgeworfen, wie ihre Situation im Einzelfall zu prüfen ist oder wie diesen Menschen Zugang zu einem Verfahren zur Prüfung ihres Asylantrags gewährt werden kann, das möglicherweise an der Grenze in einem beschleunigten Verfahren durchgeführt wird. In dem oben genannten Schreiben wird das Recht auf Asyl als Grundrecht nach EU-Recht und insbesondere nach der Richtlinie 2013/32/EU, das Recht, an einer EU-Aussengrenze Schutz zu suchen, schlicht und stillschweigend ausser Kraft gesetzt. Gleichzeitig verschwindet auch das Verbot der Zurückweisung gemäss der Genfer Konvention, da es möglich wird, Menschen an der Grenze zurückzuweisen, ohne ihre individuelle Situation zu prüfen. Kollektive Abschiebungen, die nach europäischem Recht verboten waren, werden damit möglich, wenn nicht sogar zur Regel.

Was bleibt in einem solchen Szenario vom Recht auf Asyl, das als Grundrecht im Herzen der europäischen Rechtszivilisation konzipiert ist? In der Praxis: nichts. Die faktische Abschaffung des Asylrechts und die Errichtung physischer Mauern kann nicht von der straffreien Anwendung von Gewalt gegen die Abgelehnten getrennt werden, denn es gibt keine flexiblen Mauern, aus denen diejenigen, die versuchen einzureisen, nach einem strengen Verfahren mit Regeln und Bedingungen zurückgeschickt würden. Um wirksam zu sein, muss sowohl dem Verbot, die Mauer zu überqueren, strikte Nachachtung verschafft werden als auch die Abschiebung schnell und summarisch erfolgen – beides muss gewaltsam durchgeführt werden, denn Gewalt ist Teil der Abschreckungsmassnahmen. Andernfalls gibt es eine Verschwendung von Zeit und Geld.

Neoautoritarismus statt Demokratie

Aus diesen offensichtlichen und einfachen Gründen weisen alle Versuche, die der Errichtung physischer Barrieren an den Aussengrenzen Europas vorausgingen, in verschiedenen Zusammenhängen dieselben Merkmale systematischer Gewalt und geplanter Verstösse gegen den Schengener Kodex auf, und zwar genau in dem Teil, der „rechtmässige Abschiebungen“ regeln sollte, d. h. nach Kontaktaufnahme mit der Person, Überprüfung ihrer Situation und Durchführung eines begründeten und mitgeteilten Verfahrens, damit sie einer möglichen gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann. Ich beziehe mich auf die Praktiken zwischen Griechenland und der Türkei, zwischen Bulgarien und der Türkei, auf die jahrelangen Praktiken zwischen Kroatien und Bosnien, die gerade durch die erschreckenden Bilder des „Lighthouse Report“(1) aufgedeckt wurden, und schliesslich auf die Gewalt an der Grenze zwischen Polen und Weissrussland, die bereits zum Tod mehrerer Flüchtlinge geführt hat. Der Antrag auf ein gerichtliches Verfahren ist eine dumme und unerreichbare Sache, wenn das Ziel dieses Verfahrens nicht eine rechtmässige Zurückweisung, sondern die Ablehnung des Feindes ist.

Hätten sich die zwölf Unterzeichner·innen des Schreibens damit begnügt, neue ausserordentliche Massnahmen vorzuschlagen, die in die europäische Gesetzgebung integriert werden sollten und nur im Falle eines massiven Zustroms von Migrant_inn_en, die von einem Drittland in die EU geschickt würden, zur Anwendung kommen dürften, so hätte der Vorschlag im Rahmen einer demokratischen Debatte, die sicherlich bitter, aber üblich ist, geprüft, kritisiert, abgelehnt und geändert werden können. Aber was da zu Papier gebracht wurde, war etwas ganz Anderes: ein Versuch, die Grundsätze des demokratischen Systems der Europäischen Union zu untergraben, ein Versuch, der so beispiellos ist, dass er meiner Meinung nach von den Historiker·inne·n unserer Zeit als eines der bedeutendsten ideologischen Manifeste des Neo-Autoritarismus im 21. Jahrhundert bewertet werden wird. Wenn die Antwort auf jede Herausforderung unserer Zeit, sei es die Bewältigung der Pandemie oder der Klimakrise, zeigt, wer wir wirklich sind, dann wird die Bewältigung der Migration, insbesondere der erzwungenen Migration, zum grundlegenden Test für das Überleben der Demokratie in Europa.

Gianfranco Schiavone, Vizepräsident der italienischen Vereinigung für juristische Studien über Migration

*Artikel veröffentlicht in "il Riformista" am 12.10.2021