MIGRATION: Eine Klinik für Menschenrechte

von Interview: Jean Duflot Transkription: Matthieu Espère Beide FCE - Frankreich, 29.11.2017, Veröffentlicht in Archipel 264

Wir haben Giuseppina Cassara in Sizilien getroffen. Sie ist Ärztin an der «Clinica Legale per i Dritti Umani» (CLEDU) in Palermo, wo sie innerhalb eines multidisziplinären Teams für die Begleitung von Geflüchteten arbeitet, das sich an den ethnopsychologischen Methoden Tobie Nathans und an der Gestalttherapie orientiert.

Hintergründe des Leidens
Giuseppina Cassara erklärt uns: Die Idee des Projekts ist es, Forscher·innen und Ärzt·innen zusammen zu bringen, die fähig sind, Behandlungen in die historischen und ethnischen Kontexte einzubinden, denen die Migrant·innen entstammen, und die von den Ereignissen ihres Exils geprägt sind. Das Team besteht aus Ärztinnen, Medizinern, Psychologinnen, Wirtschaftswissenschaftlern, Juristinnen und vor Ort engagierten Aktiven. Wir gehen von dem Prinzip aus, dass Erkrankungen eine komplexe Begleiterscheinung von Gesellschaftsstrukturen sind, vor allem was psychische Erscheinungen anbelangt. Es handelt sich niemals um Probleme ausschliesslich einer Person, sondern betrifft immer eine ganze Gemeinschaft. Von der Arbeit Tobie Nathans angeregt, der seit Jahren Ethnopsychologie und Ethnopsychiatrie in einem postkolonialen Kontext praktiziert, haben wir angefangen, neue Herangehensweisen zu experimentieren, um Migrant·innen zu heilen, die oft komplexe, sehr komplexe Symptome aufweisen.
Was wir bei den Menschen sehen, die nach der Überquerung des Mittelmeers und der Durchquerung der Sahara, des Sudans und Libyens, bei uns ankommen, sind wahrhaftig verzweifelte Reisen, die verzweifelte und abenteuerliche Fluchten zum Ursprung haben. Nicht immer suchen diese Menschen ein besseres Leben; sie versuchen ganz einfach dem Tod zu entkommen.
Diejenigen, denen die Flucht gelingt, sind meist die mit den meisten Ressourcen, nicht nur ökonomisch, sondern vor allem physisch. Es handelt sich überwiegend um junge Menschen, die unvorstellbare Qualen durchlitten haben: Inhaftierungen, Demütigungen, Vergewaltigungen, Folter. Die Misshandlungen können in vielerlei Formen auftreten. Und in den ethnischen Konflikten gibt es auch eine religiöse Komponente. Oft handelt es sich um stammesmässige Umstände, bei denen wir Menschen der westlichen Hemisphäre uns schwer tun, die Begleiterscheinungen zu erfassen. Es kann beispielsweise alles von einer Diktatur abhängen, die diese oder jene Ethnie errichtet, und dementsprechend zahlen die Menschen drauf, die einer anderen Ethnie angehören. Diese werden verfolgt, eingesperrt, umgebracht. Wir haben es dann mit psychisch gebrochenen Wesen zu tun, denen es verunmöglicht wird, in ihrem Land zu leben.
Ambulanz gegen Folter
Vor zehn Jahren habe ich einen kurdischen, transkulturellen Mediator getroffen, der mit einer Gruppe von Mediziner·innen von Amnesty International gegen Folter arbeitet. Ich war entsetzt von seinen Berichten über die psychosomatischen Störungen seiner Landsleute, die gefoltert worden waren, und den Behandlungen, die ihnen die Ärzt·innen verschrieben hatten. Er betonte besonders eine Scham, welche die Opfer daran hindert, über die erlittene Gewalt zu sprechen. Ich habe also angefangen, über die Kranken nachzudenken, die wir in unserem Einsatzgebiet aufnehmen. Die meisten unserer Patient·innen waren Asylbewerber·innen aus Gegenden wie etwa Eritrea, Äthiopien oder dem Sudan, wo sie speziell um 2005 jeder Art von Misshandlungen ausgesetzt waren. Was mich stark beschäftigte und letztendlich meine klinische Methodik ausgerichtet hat: Keine·r von ihnen hat mir jemals etwas von Folter erzählt, niemals. Keine·r dieser Patient·innen, die intensive Kuren und pharmazeutische Behandlungen verschrieben bekamen, hat etwas davon erwähnt. Von Seiten der Ärztinnen und Ärzte hat es niemand für nötig empfunden, hervorzuheben, dass diese Patient·innen Schreckliches erlitten hatten, ihre Unversehrtheit nachhaltig beschädigt worden war. Daher ist mir die Idee gekommen, die von Professor Manfredo unterstützt wurde, innerhalb der Krankenstation zu verschiedenen Uhrzeiten einen Raum zu schaffen, den ich «Ambulanz gegen Folter» nannte. Ich habe diesen Ort in der Polyklinik eingeführt, an der ich mein Doktorat über Diagnostik vorbereitete. Und tatsächlich sind eine nennenswerte Anzahl von Patient·innen gekommen, die sich ihre Gastritis, Kopfschmerzen und jegliche Art von Nervenschmerzen behandeln liessen – eine Ansammlung von charakteristischen Krankheitszeichen, die wir bis dahin mit unserer westlichen Herangehensweise erfasst hatten, die aber eigentlich auf einer in der Vergangenheit erlebten Gewalt beruhen. Mit diesen Symptomen konnten wir nicht nach unseren gewohnten Kriterien umgehen. Kriterien einer traditionellerweise mechanistischen, vor allem physiologischen Medizin. Es handelte sich um Symptome, die in unseren Klassifikationen nicht als Folge erlebter Gewalt enthalten sind, und auch durch kein Röntgenbild zu erfassen sind.
Heilen durch Beziehung
Es tat sich eine komplett neue Welt auf, als uns klar wurde, dass es nötig ist, hin zu schauen, hinschauen zu können, zuhören zu können. Die klinische Sichtweise reichte nicht mehr aus. Uns hatten der Blick und das Gehör gefehlt für zwei Dinge, die man nicht voneinander trennen kann. Ich persönlich sehe mich niemals ausschliesslich als Ärztin oder ausschliesslich als Therapeutin, denn der Mensch hat Geist und Körper. Man muss die Gesamtheit wahrnehmen, von dem was der Körper zum Ausdruck bringt, nachdem die Psyche Schmerzvolles erlebt hat oder diese noch immer Situationen lebt, die nach der Gestalttherapie als «unabgeschlossene Gestalt» bezeichnet werden. Gewisse Gewalterfahrungen sind sehr schwierig zu verarbeiten. Die gesamte Behandlung beruht auf der Beziehung zwischen Patient·in und der behandelnden Person, auf der so genannten «Kontaktgrenze» – auf dem Hier und Jetzt. Wir suchen nicht in der Kindheit, wühlen nicht im Unbewussten, im Unterbewusstsein. Zum Protagonisten wird das Miteinander; alles das, was sich im Moment der Begegnung von Patient·in und der behandelnden Person ereignet. Der Heilungsprozess geschieht durch die Beziehung. Es wird dann geheilt, wenn eine wahrhaftige Begegnung stattfindet, eine wirkliche Anerkennung des jeweils anderen. Das ist unsere therapeutische Praxis. Das habe ich durch die Arbeit mit Menschen gelernt, die aus anderen Welten stammen, in denen die Konzepte von Sexualität, Verhütung, Krankheit, Behandlung und häufig vom Tod ganz anders sind, als jene, die wir in unserer Ausbildung gelernt hatten und die wir in unserer Gesellschaft alltäglich leben.
Anthropologische Alphabetisierung
Wenn man diese Menschen an ihrer Kontaktgrenze, von der ich vorhin gesprochen habe, treffen will, muss man gemeinsam virtuell Situationen rekonstruieren, die weit weg liegen von dem, was wir gelernt haben, als wir Schul-mediziner·innen wurden, und weit ab von dem, was wir in unserer Gesellschaft leben. Wir mussten also eine komplette Revision unserer Kenntnisse vornehmen, uns «anthropologisch alphabetisieren», so wie es Tobie Nathan bezeichnet, aber auch das gesamte andere Wissen umgestalten. Es ist unmöglich, diese Medizin nach der strengen Methodik der Grundsätze unserer Schulmedizin auszuüben, beispielsweise durch die blosse Kenntnis von Pharmazeutika oder die Hilfe von Medikamenten. Denn es existiert kein dementsprechendes Arzneibuch. Wir müssen uns unbedingt auf andere Fachkenntnisse einlassen und auch die Neugier haben, von unseren Patient·innen zu lernen. Ich persönlich höre nicht auf, dazu zu lernen.
Die extreme Situation der Frauen
Archipel:
Frau Cassara, Sie sind mit Traumata konfrontiert, die aufgrund von Gefängnisaufenthalten, schlechten Behandlungen, Folter oder einfach nur durch den Strukturverlust des Exils entstanden sind. Wie gehen Sie vor, damit ihre Patient·innen dieses Erlebte überwinden?
G. C.: Tatsächlich ist es immer sehr schwierig, die Erinnerungen an Folter hervor zu rufen. Den Moment dieser Erfahrungen heraus zu arbeiten und die Patientin oder den Patienten dazu zu bringen, offen darüber zu sprechen, ist am dramatischsten. Denn wir befinden uns im Unsagbaren, in etwas, das nicht erzählt werden kann. Es ist ungefähr wie ein Schrei. Es ist das Grauenvolle einer menschlichen Tat, das man weder begreifen noch erzählen kann. Deswegen weise ich darauf hin, wie wichtig die Fähigkeit des Zuhörens ist. Und auch wie wichtig es ist von Seiten des Opfers, das unter den schrecklichen Erlebnissen leidet, nach und nach zu erfahren, dass sein zuhörendes Gegenüber weiss, was sich hinter seinen Worten verbirgt und was hinter seinem Schweigen.
Die Situation der Frauen ist oft noch viel beunruhigender als die der Männer. Die Gewalt, die sie erfahren haben, die fast immer sexuellen Ursprungs ist, entwürdigt sie und lässt sie sich schuldig fühlen. Viele unter ihnen weigern sich, darüber zu sprechen oder die Täter zu denunzieren. Die Frauen aus Afrika, ob sie nun vor Prostitution, Krieg oder anderen Umständen, die ihr Leben bedrohen, fliehen, beziehen die Eventualität einer Vergewaltigung auf der Flucht in ihre Entscheidung zu fliehen mit ein. Sie wissen vom Hörensagen, dass das eine gängige Praxis ist. Mir haben Frauen erzählt, dass sie ab der Sahara – lang bevor sie in Libyen angekommen waren – Unterwäsche trugen, die mit Tierblut vollgesaugt war. Diese hatten sie noch zu Hause vorbereitet. Dadurch sollten die Schlepper und Wegelagerer glauben, dass sie ihre Regel hatten und somit darauf verzichten, sie zu vergewaltigen. Stellen Sie sich einmal das Ausmass an Furcht von diesen Frauen vor, die mit solcher Wäsche zwischen den Beinen reisen!
Und noch schlimmer: Frauen haben mir von Praktiken in gewissen subsaharischen Gebieten erzählt. Wenn Rebellen kommen, die einer anderen Ethnie angehören, vergewaltigen sie nicht nur die Frauen, sondern schlitzen zudem die Bäuche der schwangeren Frauen auf. Nur wenige Frauen haben die Kraft von diesen abscheulichen Gräueln zu erzählen – vor allem nicht jene, die einen sozial instabilen Status haben. Viele Menschen erleben die entfesselte Gewalt in ihren Ländern als ein unabwendbares Schicksal, deren Opfer sie sind.
Dem Schweigen zuhören
Wie gelingt es Ihnen, die Opfer dazu zu bringen, vom Horror zu erzählen, den sie erlebt haben?
Durch lange und geduldige Umwege, über Blicke, sanfte Annäherungen, mit Empathie für die Schwierigkeiten, die sie überwinden müssen, um ihr Leiden in Worte zu fassen. Durch Zuhören, ihre Geschichte nach verfolgen, ihr Alltagsleben daheim, ihre Gewohnheiten. Durch das Wahrnehmen der nonverbalen Kommunikation ihres Schweigens. Die Männer und Frauen, die in der «Clinica Legale» empfangen werden, bekommen eine Betreuung von mehreren Mediziner·innen, die sich mit unterschiedlichen Kompetenzen und Herangehensweisen um die ein und dieselbe Problematik kümmern. Es gibt einen Bereitschaftsdienst, und diejenigen, die sich an ihn wenden, wissen, dass sie hier sprechen können, weil sie schon von anderen Patient·innen informiert worden sind. In diesem Bereich sind Vereine, private Sozialstationen oder Freiwilligendienste bereits auf einem weit höheren Niveau als die öffentliche Medizinversorgung. Die meisten klassischen Ärztinnen und Ärzte, aber auch Psycholog·in-nen, wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, wo sie ansetzen können. Ihnen fehlt die anthropologische Alphabetisierung, die einen langen Forschungsprozess braucht und Gruppenarbeit voraussetzt. Die Meisten arbeiten einen Grossteil der Zeit allein. Ihre medizinische Arbeit besteht vor allem aus voneinander isolierten Expertisen, welche lediglich den Körper in Einzelteilen examinieren.
TranskulturelleMediation
Wie lösen Sie das Problem der Sprachen und der kulturellen Unterschiede der Menschen, mit denen Sie zu tun haben?
Für das buchstäbliche Übersetzen des Gesagten greifen wir natürlich auf transkulturelle Mediator·innen und Interpret·in-nen zurück. Die Vorgehensweise von Therapeut·innen benötigt schon an sich eine transkulturelle Mediation. Meine These von der Gestalttherapie beinhaltet auch die fundamentale Arbeit einer transkulturellen Mediation, die nicht nur ein Dolmetschen ist, bei dem die Erzählungen oder Aussagen der Migrant·innen übersetzt werden. Die transkulturellen Mediator·in-nen müssen, so gut wie möglich, die kulturellen Umstände der Patient·innen kennen, um einen historischen Zusammenhang herzustellen und so den Worten einen Sinn zu geben, die sie übersetzen. Nehmen wir einfache Beispiele, Situationen, die wir häufig vorfinden. Wenn ich als Medizinerin von Blutarmut spreche und einem Patienten aus einem subsaharischen Gebiet diagnostiziere, dass er daran leidet, kann dieser diese Diagnose als lebensbedrohlich wahrnehmen. Denn Blutarmut kommt in Ländern, in denen Malaria herrscht oder die Kindersterblichkeit sehr hoch ist, in etwa einem Todesurteil gleich. Dasselbe gilt für Aids. Solche Diagnosen haben uns oft beschäftigt. Um einem Patienten mit subsaharischem Ursprung zu verkünden, dass er HIV-positiv ist, braucht es viel Vorsicht; das darf niemals auf brutale Artgeschehen. Denn solche Diagnosen werden mit Todesurteilen gleich gesetzt. Noch dazu geht es um einen beschämenden Tod, wenn man von der Unheilbarkeit dieser Krankheit ausgeht, wie es in vielen Regionen, aus denen die Erkrankten kommen, der Fall ist.
Wir haben auch immigrierte Personen als Mediator·innen, die seit einiger Zeit in Italien sind und die Möglichkeit haben, sich auszubilden. Am aussagekräftigsten sind natürlich jene, die den gleichen Ursprung haben wie die Geflüchteten, deren Äusserungen sie übersetzen. Oder diejenigen,welche die örtliche Kultur so gut kennen, das sie diese vermitteln können. All das ist Teil der ethnopsychologischen Methoden. Tobie Nathan hat übrigens verschiedene Rollen in einer therapeutischen Gruppe vereint. Wir bemühen uns, diese fruchtbare Diversität von Expertisen um ein Individuum herum nach zu bilden. Manchmal beanspruchen wir Anthropolog·innen, welche die Bräuche und Rituale von denjenigen kennen, die wir behandeln. Ich persönlich glaube, dass Therapeut·innen auch ein bisschen anthropologisches Wissen haben sollten. Sie müssen auch geopolitische Kompetenzen haben. Sie müssen wissen, wenn ein Patient oder eine Patientin aus Gambia, dem Sudan oder Nigeria kommt, welches Regime dort herrscht.Und auch eine Kenntnis der internen Konflikte in den jeweiligen Ländern ist notwendig. Das ist eine Ausbildung, deren Stoff ständig zunimmt und die selbstverständlich Zeit braucht, viel Zeit sogar, und verfügbaren Raum.
Was aus der Therapie folgt
Können Sie Erfolge der militanten Therapiemethode in der Clinica Legale konstatieren?
Ich als Ärztin steuere eine klinische Beurteilung bei, welche die Migrant·innen den Asyl-Instanzen vorlegen. Sie hilft dabei, die Jurist·innen im Gericht davon zu überzeugen, den Personen, die wir begleiten, den Asylstatus zu erteilen. Ich muss sagen, dass alle Patient·innen, also wirklich alle, die wir begleitet haben und die dadurch eine Zusage bekommen haben, radikal ihre Existenz veränderten. Sie wurden selbst militant; die meisten arbeiten inzwischen als Mediator·innen in den verschiedenen Instanzen. Sie machen eine Arbeit, die ihr eigenes psychisches Gleichgewicht in Gefahr bringen kann. Denn dieses Engagement kann ihnen ihre eigene Vergangenheit in Erinnerung rufen, die grauenvoll für sie bleibt. Das kann zu starken emotionalen Rückfällen führen. Andere sind anderswo hingegangen, um neue Strukturen aufzubauen. Sie haben alle eine Widerstandsfähigkeit von Überlebenden. Diejenigen, die politisches Asyl bekommen haben, sind zweifach Überlebende. Denn in unserem momentanen Migrationssystem haben sie den Tod riskiert. Ich betrachte sie als Held·innen. Sie sind die wahrhaftigen Held·innen unserer Epoche.
Interview: Jean Duflot
Transkription: Matthieu Espère
Beide FCE - Frankreich