MIGRATION: Jagdszenen in Ungarn

von Szonja Kravinszkaja und Krisztina Virányi, 12.12.2017, Veröffentlicht in Archipel 265

Am 23. Oktober 2017, einem Nationalfeiertag Ungarns, verkündete Präsident Victor Orban stolz, dass sein Land eine der letzten migrantenfreien Zonen sei, und dass er gedenke, dies so zu belassen. Demzufolge werden nun alle Praktiken und Richtlinien auf Abschreckung von Immigrant·innen und Asylsuchenden konzipiert und eine Atmosphäre der Angst in der ungarischen Gesellschaft geschaffen.

Dies geht einher mit vermehrter Repression gegen Unterstützer·in-nen und NGOs, die mit Geflüchteten arbeiten. Es wurde angekündigt, dass alle Menschen, die mit solchen Gruppen zusammenarbeiten, wie Kriegsverbrecher, Saboteure und Vaterlandsverräter behandelt würden.
Legale Einreise ins Nichts
Nun gibt es zwei Wege nach Ungarn einzureisen, den legalen und den illegalen Weg. Der legale Weg führt durch die Transitzonen an der ungarisch-serbischen Grenze. Davon gibt es vier, aber nur zwei sind aktiv: die Röszke- und die Tompa-Transitzone. Hierüber können wöchentlich 25 Menschen einreisen. Da Tausende von Menschen in Serbien feststecken, müssen sie bis zu zehn Monate warten, bevor sie in die Transitzonen dürfen. Und der härteste Teil beginnt dann erst. Am 7. März 2017 wurde im Parlament das Gesetz zur Inhaftierung von Asylsuchenden verabschiedet; seitdem werden alle ins Land kommenden Asylsuchenden – Erwachsene wie Kinder (theoretisch ausgenommen unbegleitete Minderjährige unter 14 Jahren) – in den Transitzonen in Containercamps eingesperrt. Dieses Gesetz konnte verabschiedet werden, da sich Ungarn – bis heute – nach eigenem Ermessen in einer «Notfallsituation aufgrund von Masseneinwanderung» befindet. Beim Eintritt in die Transitzone müssen sich die Geflüchteten einer Prozedur unterziehen, in der sie zuerst von der Polizei kontrolliert werden, dann von einem Arzt, und anschliessend müssen sie ihre Fingerabdrücke abgeben. Das Ganze kann bis zu zehn Stunden dauern, ohne jegliche Wasser- oder Essensversorgung. Danach werden sie auf Container verteilt, wo sie endlose Monate lang in «Asylhaft» auf die Entscheidung in ihrem Asylfall warten. Die meisten Anträge werden abgelehnt mit der Begründung, Serbien habe ein «funktionierendes Asylsystem» und gelte als sicheres Land für Geflüchtete. Die ungarische Regierung sagt, niemand werde in Ungarn eingesperrt, alle könnten ja jederzeit wieder gehen – zurück nach Serbien.
Containercamps
Die Bedingungen in diesen Containercamps sind unmenschlich. Sie liegen irgendwo im Niemandsland, umgeben von vier Meter hohen Stacheldrahtzäunen, mit Kameras, Polizei und Armee überall. In manchen Containern leben zwei Familien zusammen. Die Menschen bekommen schlechtes, nährstoffarmes Essen: Brot mit Konserven zum Frühstück und Abendessen, Nudeln mit etwas Hühnerfleisch zum Mittag, jeden Tag. Es gibt nie Gemüse oder Obst, nicht einmal für Schwangere. Kleinkinder müssen hungern, sie erhalten vier Löffel Babynahrung pro Tag. Es gibt keine Schule oder Aktivitäten für Kinder über 14, und den Erwachsenen bleibt nur das Herumsitzen und Warten. Ausserhalb der Container gibt es einen 10x10 Meter grossen Hof, nicht gross genug zum Laufen; Schatten ist kaum vorhanden – im Sommer heizen die Container stark in der Sonne auf, aber die Menschen finden auch draussen keine Zuflucht vor der Hitze.
Alle zwei oder drei Tage finden willkürliche Kontrollen statt, oft morgens um sechs Uhr, um zu überprüfen, ob auch niemand geflüchtet ist. Die medizinische Versorgung ist sehr notdürftig, nur Erste Hilfe, und wenn jemand den Arzt sehen will, wird er oder sie in Handschellen gelegt und von fünf Polizist·innen eskortiert – sogar mit schwangeren Frauen wird so verfahren.
Viele Menschen haben sich entschlossen, nicht auf die Entscheidung ihres Asylgesuches zu warten und zurück nach Serbien zu gehen, weil ein Kind oder ein anderes Familienmitglied krank wurde und sie wegen der schlechten medizinischen Versorgung befürchteten, ihre Nächsten würden sterben. So werden in Ungarn Asylsuchende behandelt, die auf dem legalen Weg einreisen: Sie werden wie Kriminelle festgehalten.1
Brutale Jagd auf «Illegale»
Der andere Weg nach Ungarn ist der illegale Grenzübertritt. Die Regierung hatte am 15. September 2015 einen Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze fertig gestellt. Gleichzeitig trat ein neues Gesetz in Kraft und der ungenehmigte Grenzübertritt wurde zu einem Verbrechen mit einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Die Armee ist vor Ort, ebenso die Polizei und seit Februar 2017 auch eine neue Einheit: die «Grenzjäger». Die Grenzjäger·innen haben die gleichen Rechte wie die Polizei. Die Kandidat·innen bekommen ihre Zulassung offiziell sechs Monate nach Eintritt in das Korps. Jedoch übernehmen sie einen Teil des «Grenzschutzes» schon nach zwei Monaten ihres «Studiums». Sie sind bewaffnet. 2015 und 2016 lancierte die Regierung enorme Kampagnen zur Anwerbung meist junger, teils sogar minderjähriger Rekrut·innen.
Die Werbung war überwältigend. Sie wurde jede halbe Stunde im Fernsehen ausgestrahlt, überall hingen Poster, Anwerber·innen «informierten» Leute auf der Strasse, in Einkaufszentren und in den Schulen – sogar vor Grundschulen standen sie. Kürzlich schauten wir uns die Facebook-Seite der Grenzjäger·innen an. Das Erschreckendste war nicht nur deren Existenz, sondern die Menge an positiven Kommentaren von Bürger·in-nen. Sie kommentierten stolz die Fotos von Grenzjäger·innen, die bei der «Verteidigung des Landes» im Dunkeln mit Masken und Waffen agieren. Offiziell hat das Korps nicht den Auftrag zum Jagen, sondern nur zur Verteidigung. Zeuginnen und Zeugen berichten jedoch, dass diese Einheiten besonders brutal sind: Wenn sie geflüchtete Menschen erwischen, schlagen sie hart und unaufhörlich mit Stöcken auf sie ein und treten zu, bis Knochen brechen, bis die Geschlagenen Blut erbrechen, während ihre Peiniger·innen sie auslachen und demütigen. Die Uniformierten rufen «Muslime sind Tiere» und hetzen Hunde auf sie. Bei minus 15°C nehmen sie den Unglücklichen die Jacken, Mützen, Hosen, Socken weg, übergiessen sie mit kaltem Wasser und zwingen sie in diesem Zustand stundenlang draussen zu stehen. Sie stehlen den Geflüchteten offen ihr Geld, zerstören ihre Telefone und SIM-Karten, halten ihnen Gewehre an den Kopf und bedrohen ihr Leben. Sie machen dies auch mit Minderjährigen und alten Leuten – ohne Unterschied. Nach ein paar Stunden Folter schieben sie die Schutzsuchenden zurück nach Serbien. Auf der Webseite der Polizei ist die Rede von zehn bis dreissig Rückschiebungen täglich in den vergangenen Monaten.2
Schauprozesse
Zur Unterstreichung ihrer Hasskampagne gegen Immigrant·innen hat die ungarische Regierung einige Gerichtsverfahren eingeleitet. Das vielleicht bekannteste ist das der Röszke-Elf. Im Sommer 2015 reisten Tausende von Menschen über Ungarn, um in Europa Sicherheit zu finden. Die ungarische Regierung organisierte sogar Busse, um sie von der serbischen zur österreichischen Grenze zu bringen. Von einem Tag auf den anderen wurde dann die Südgrenze geschlossen, und Tausende sassen auf der anderen Seite des Zaunes von Röszke fest. Sie begannen zu protestieren und baten um Durchlass. Am dritten Tag explodierte die Spannung und es kam zu einem Zusammenstoss mit der ungarischen Polizei. Von der einen Seite wurden Steine geworfen und von der anderen kamen Tränengas und Wasserwerfer – obwohl sich Kinder in der Menge befanden. Einige Stunden später beruhigte sich die Situation wieder, die Polizei zog vom Zaun ab und die Leute dachten, sie dürften nun hinein. Sie feierten und sangen «Danke, Ungarn!». Nach ein paar hundert Metern wurden sie von einer nicht gekennzeichneten Anti-Terror-Einheit angegriffen. Viele Leute wurden festgenommen und gegen elf Personen wurden Prozesse eingeleitet. Sie blieben während neun Monaten in Haft, oft ohne ihre Familien kontaktieren zu können – zehn wurden wegen illegalem Grenzübertritt während eines Massenkrawalls angeklagt, darunter ein Mann im Rollstuhl und eine alte, halbblinde, zuckerkranke Frau. Neun von ihnen bekamen zwölf bis vierzehn Monate Zuchthaus plus Ausweisung aus Ungarn. Einer von ihnen erhielt zwei Jahre Gefängnis, weil er während der Proteste in ein Megaphon sprach. Die Gerichtsverhandlungen waren sehr unfair. Es gab limitierte Plätze für Presse und Öffentlichkeit, die Zeugenaussagen wurden teilweise falsch übersetzt; Videomaterial, das die Unschuld mancher bewies, durfte nicht gezeigt werden, nur Polizist·innen durften aussagen – und nur solche, die gegen die immigrierten Personen aussagten – obwohl viele der bei den Protesten anwesenden Presse-Leute oder freiwilligen Helfer·innen aussagen wollten. Die 11. Person, Ahmed H., wurde als der Anführer der Proteste ausgesondert, da er per Megaphon mit der Menge und der ungarischen Polizei kommunizierte. Er wurde nicht nur des illegalen Grenzübertritts angeklagt (obwohl er mit seiner zypriotischen Frau und den Kindern in Zypern ansässig ist und dadurch legal in Europa reisen darf), sondern zusätzlich wegen Terrorismus und «der Absicht, Ungarn zu etwas zu zwingen, was es nicht wollte – die Grenze zu öffnen». In der ersten Instanz bekam er zehn Jahre Zuchthaus, in der zweiten Instanz wurde das Urteil aufgehoben und eine ordentliche Prüfung der Beweisführung sowie ein neuer Prozess angeordnet. Die darauf folgenden Anhörungen waren im Oktober und November 2017 und werden im Januar 2018 fortgeführt. Dann wird er schon zweieinhalb Jahre in Haft sitzen. All das, weil er seine Eltern auf dem Weg von Syrien nach Deutschland begleitete (wo die Geflüchteten angeblich willkommen waren) und dabei einem Protest beiwohnte.3
Pseudo-Abstimmungen
Die Anti-Einwanderungs-Propaganda ist jetzt überall in Ungarn präsent. Obwohl die meisten Ungar·innen noch nie eine·n Immigrant·in gesehen haben, sind viele davon überzeugt, dass sie alle Terroristen sind und das Land und die Kultur zerstören wollen. Die Propaganda dient dazu, die Leute einzuschüchtern, und sie hilft der Regierung dabei, ihre Macht zu verstärken und die Gesellschaft von ihren eigentlichen Problemen abzulenken: die schlechte Gesundheitsversorgung, demütigende Arbeitslöhne, Obdachlosigkeit, obskure Verwendung von Steuergeldern etc.
Die Regierung arbeitet mit Fernsehen, Zeitungen, Postern. Die Propaganda kann nicht einmal im Internet umgangen werden, da sich ständig neue Werbefenster dazu öffnen. Wir werden einer permanenten Gehirnwäsche unterzogen.
2015 gab es die erste nationale Umfrage zur Einwanderung. Nationale Umfrage heisst: ein Fragebogen an alle volljährigen ungarischen Bürger·innen. (Diese Methode wird seit 2010, dem Beginn des Orban-Regimes, als ein «demokratisches Instrument» eingesetzt. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um eine andere Form der Manipulation und diese kostet ausserdem eine Menge Steuergelder.) Der Titel der Umfrage 2015 lautete: «Einwanderung und Terrorismus». Es gab verschiedene Fragen, wie zum Beispiel: «Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, dass es wichtiger ist, ungarische Familien und Kinder anstatt Einwanderer zu unterstützen?»
8 Millionen Fragebögen wurden versandt, mit einem Rücklauf von 1 Million. Daraus konnte die Regierung schlussfolgern, was sie wollte. Viele von uns begannen daraufhin, die nationalen Umfragen zu boykottieren. 2016 gab es eine Abstimmung, den Immigrationsquotenvorschlag von Brüssel zu stoppen. Die Frage lautete: «Wollen Sie, dass das Europäische Parlament ohne Absprache mit der ungarischen Regierung entscheiden darf, dass Nicht-Ungar·innen sich in Ungarn niederlassen dürfen?» Die ungarische Regierung lancierte vor der «Wahl» wieder eine grosse Propaganda-Kampagne mit Postern und Werbespots. Es gab dabei einige Varianten von Postern, die mit «Wussten Sie...?» anfingen. Zum Beispiel: «Wussten Sie, dass der Anschlag in Paris von Immigranten verübt wurde?» – «Wussten Sie, dass seit der Einwanderungswelle die Gewalt gegen Frauen dramatisch angestiegen ist?»4
Gegensteuer
Zu diesem Zeitpunkt begann aber auch der Widerstand gegen diese Methoden drastisch zu wachsen. Demonstrationen begannen und sie halten an. Im Frühjahr 2016 gab es fast täglich mehrere Demonstrationen, vor allem in der Hauptstadt. Es gab fast genauso viele Gegen-Poster in Budapest wie solche der Regierung (nur dass die Gegen-Poster von uns direkt und nicht durch unsere Steuergelder finanziert wurden). Im gleichen «Wussten Sie...?»-Stil hiess es bei uns «Wussten Sie, dass in Syrien Krieg herrscht?», «Wussten Sie, dass, wenn Sie die Augen schliessen, all diese Poster verschwinden?» Schlussendlich lag die Beteiligung an der Umfrage bei etwa 40 Prozent und Viele sabotierten sie, indem sie doppelte Antworten gaben, Origami bastelten oder auf das Papier malten. Trotzdem interpretierte die Regierung das Ergebnis, wie sie es wollte, obwohl die «Wahl» aufgrund der geringen Beteiligung nicht einmal legal war. Sie sagte, dass 98 Prozent der Bevölkerung keine Einwanderer wollten. Und die nationalen Umfragen hören nicht auf und die Propaganda hört nicht auf und wir wollen das alles nicht mehr sehen. 2017 gab es eine «Stop Brüssel»-Kampagne, mit der wir überall konfrontiert waren, doch sie wurde sie von einer Gegen-Kampagne «Let’s stop Orban» begleitet. Es gab nur 100‘000 Leute, die an der nationalen Umfrage teilnahmen. Aktuell läuft eine neue zum «Plan von Soros», die auf der Verschwörungstheorie basiert, dass der US-Milliardär mit ungarischen Wurzeln George Soros für die «Masseneinwanderung» verantwortlich sei und Brüssel seinem Plan folge. Obwohl sowohl Soros als auch Brüssel so einen Plan dementieren, präsentiert die Regierung ihre abstruse Hypothese als eine Tatsache und fragt uns höflich nach unserer Meinung dazu. Dies geschieht natürlich rein zufällig direkt vor den anstehenden Wahlen.

  1. Migszol hat auch Zeugenaussagen von Rückschiebungen gesammelt.
  2. Solidaritätskampagne für Ahmed H. siehe unter: https://cantevictsolidarity.noblogs.org
  3. Die Anschläge von Paris wurden von Franzosen mit Migrationshintergrund verübt und fast alle Gewalttaten gegen Frauen in den letzten Jahren in Ungarn wurden bewiesenermassen von ungarischen Männern verübt.