MIGRATION: Migrationspolitik in Calais und Paris

von Bernard Schmid, Paris, 27.10.2016, Veröffentlicht in Archipel 252

Das gibt es leider nicht nur in Sachsen: In der Nacht zum Dienstag, den 6. September, brannte ein zur Aufnahme von neunzig Geflüchteten bestimmtes Gebäude in Forges-les-Bains im südlichen Pariser Umland nieder.

Am Vorabend hatte eine öffentliche Versammlung über das Flüchtlingsheim in angespannter Stimmung stattgefunden. Die Teilnehmenden hatten sich allerdings gegen 23 Uhr ohne Zwischenfälle zerstreut. Die Polizei ermittelt noch, ob es sich um Brandstiftung handelt und ob ein Zusammenhang zum laut gewordenen Protest der Aufnahmeeinrichtung besteht. Im Leserforum der konservativen Tageszeitung war am Dienstag unter anderem zu lesen : «Bravo! Die Franzosen wollen so etwas nicht.», womit offenkundig die Aufnahme und nicht der Brand gemeint war.
Weitaus zahlreichere Widersacher jedoch zählt das als «jungle» (Dschungel) bezeichnete, grossteils informelle Flüchtlingscamp in der östlichen Umgebung der Stadt Calais am Ärmelkanal, wo Geflüchtete auf Möglichkeiten warten, auf die britischen Inseln überzuschieben. So schieben Kreise örtlicher Geschäftsleute den wirtschaftlichen Abstieg der Region auf «den Imageverlust», den Calais sich mit der Präsenz des Migrantencamps einhandele. Auf ökonomischer und sozialer Ebene ist die Stadt allerdings nicht erst in der Krise, seitdem der «Dschungel» entstand. Im Jahr 2001 kam es hier zu Massenentlassungen beim Lebensmittelkonzern Danone, und auch die früher hier ansässige Textilindustrie wurde zum Grossteil geschlossen. Aber das Camp wurde seitdem zum Aufmerksamkeitsmagneten.
Am Montag, den 5. September, führten LKW-Fahrer Protestaktionen durch, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Flüchtlinge häufig auf den Zufahrtsstrassen zu den Häfen von Calais sowie benachbarter Städte auf Lastwagen aufzusteigen versuchen. Die Fernfahrer befürchten in Wirklichkeit vor allem, bei Entdeckung eventueller « blinder Passagiere » fällige Geldstrafen für «illegalen Personentransport» bezahlen zu müssen. Ihr verbreiteter Unmut richtet sich jedoch gegen die Geflüchteten. In der Innenstadt fand gleichzeitig eine Menschenkette statt. Die Aktion stand unter dem Motto: «Mein Hafen ist schön, meine Stadt ist schön.» Die konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart setzte sich an die Spitze der mehreren hundert Teilnehmenden, die im Anschluss zum Hafen zogen.
Auch die CGT im Hafen von Calais, die stärkste Gewerkschaft dort, rief zur Unterstützung dieses Protests auf. Ihre Erklärung dazu bleibt höchst ambivalent. Neben einer Werbekampagne für den Hafen von Calais und seinem potenziellen Tourismus von der englischen Seite sowie einem Konjunkturprogramm für die wirtschaftlich gebeutelte Stadt fordert sie auch die Schliessung des «Dschungels» – ohne Alternativen vorzuschlagen. Andererseits unterstreicht sie aber auch, sie habe «Verständnis für die Männer und Frauen», die vor unerträglichen Lebensbedingungen fliehen, und «bleibe ihren Grundwerten treu».
Migrantencamps in Paris
Seitdem der Zielort Calais für viele Migrantinnen und Migranten zunehmend abschreckend wirkt, nachdem die Wartezeiten für eine eventuelle Kanalüberquerung stark angestiegen sind, nimmt auch die Zahl der auf Wartestation befindlichen Menschen im Raum Paris erheblich zu.
Seit Juni 2015 fanden dort insgesamt um die dreissig Räumungen von informellen Camps statt, die meist von Geflüchteten bewohnt werden, die nicht ins französische Asylverfahren können – etwa wegen der Anwendung der Dublin-Regeln, nachdem ihre Fingerabdrücke in Griechenland, Italien oder Ungarn aufgenommen wurden – oder nicht wollen.
Das französische Asylsystem hat einen denkbar schlechten Ruf. In jüngster Zeit drängen Migrantinnen und Migranten auch deswegen in informelle Camps auf dem Pariser Stadtgebiet, weil nach den Erfahrungen der letzten Monate die Staatsmacht ihnen dann Angebote für eine Unterbringung zumindest auf Zeit machen muss, wenn diese Camps in den Augen der Öffentlichkeit gar zu sichtbar anschwellen.
Während am 5. September ein weiteres Mal eine solche Räumung im Pariser Norden stattfand, gab die hauptstädtische Bürgermeisterin Anne Hidalgo die Pläne für das erstmals im Mai von ihr erwähnte, künftig durch die Stadt einzurichtende Flüchtlingscamp bekannt. Dieses soll rund 450 bis 600 Plätze bieten und auf einem früheren Bahngelände im 18. Bezirk angesiedelt werden, später soll eine weitere Einrichtung in Ivry südlich von Paris hinzukommen.
Rund um eine aufblasbare PVC-Kugel, die als Empfang dienen soll, sollen kleine Wohneinheiten für je fünfzig Geflüchtete eingerichtet werden. Allerdings werden sich die Kapazitäten wohl schnell als unzureichend herausstellen, auch wenn den Betreffenden nur fünf bis zehn Tage Unterkunft gewährt werden soll und in zwei Jahren wird das Camp einem im Bau befindlichen Hochschulprojekt, dem Campus Condorcet, weichen müssen.
Der «Dschungel» wird geräumt
Die Regierung hat bereits angekündigt, dass der «wilde» Teil des «Dschungels von Calais» zerstört werden soll. Seine «Evakuierung» und sein vollständiger Abbau soll noch vor Jahresende vollzogen werden. Zur Zeit leben hier über 10'000 Menschen, davon über 1'000 unbegleitete Minderjährige. Sie sollen über das gesamte französische Staatsgebiet verteilt werden, auf sogenannte «Empfangs- und Orientierungszentren» (CAO).
Diese Verteilung hat bereits im Herbst 2015 begonnen. Die CAOs wurden als «Erholungszentren» propagiert. In einigen Fällen entpuppte sich das Angebot jedoch als Falle, weil etwa in Südwestfrankreich sudanesischen Flüchtlingen, die zuvor (bei ihrer Einreise in die EU) Fingerabdrücke in Italien hinterlassen hatten, prompt ihre Abschiebung nach Italien verkündet wurde.
Wieviele der Migrant_innen den «Dschungel» freiwillig verlassen werden und wieviele man gewaltsam auseinanderreissen und in Reisebusse Richtung CAO verfrachten wird, ist zurzeit noch ungewiss. Wichtig ist, dass die Flüchtenden nicht nach Calais zurückkehren können. Und sicher ist, dass die Verteilung auf ganz Frankreich schwierig werden wird, da bereits heute die politischen Vertreter_innen einiger Regionen nicht wünschen, dass ihnen Flüchtende aus Calais «aufgezwungen» werden. Viele von ihnen werden über kurz oder lang den Ausreisebefehl, eine «OQTF»1, erhalten.
Unterdessen werden auch die Lebensbedingungen für die Geflüchteten im «Dschungel» immer mehr erschwert. Neben den bereits bestehenden Sperranlagen und Zäunen rund um das Hafengebiet von Calais soll nunmehr bis zum Jahreswechsel 2016/17 zusätzlich eine vier Meter hohe und einen Kilometer lange Mauer errichtet werden, die mit Überwachungskameras und Scheinwerfern ausgestattet sein wird. Sie soll das Betreten der Zufahrtsstraße zum Hafengelände verhindern. Die Kosten in Höhe von 2,7 Millionen Euro werden von Großbritannien übernommen. Ferner wurden seit Jahresbeginn bereits 1'380 Menschen direkt von Calais aus (Flughafen Calais-Dunkerque) von französischem Boden abgeschoben.

  1. OQTF, obligation de quitter le territoire français