Das Watch The Med Alarmphone existiert nun schon seit fünfeinhalb Jahren. Bis heute konnten über 2’800 in Seenot geratene Boote, überfüllt mit Flüchtenden, gerettet werden. Das Notruftelefon umfasst rund 200 Beteiligte in vielen Städten Europas sowie Nordafrikas. Der Artikel wurde vor dem Corona-Virus geschrieben. Inzwischen haben einige Küstenwachen ihre Arbeit eingestellt oder auf ein Minimum reduziert. Mitte März konnten noch zwei Boote gerettet werden. Man hört die Computer leise summen. Das Zimmer ist überheizt, die Luft verbraucht und dennoch friere ich. Wir warten. Die Stimmung lässt sich am ehesten als angespannte Langeweile beschreiben, die wir uns damit vertreiben, den jungen Kätzchen der Wohngemeinschaft, in der wir uns befinden, bei ihren verrückten Spielchen zuzuschauen. Oder wir suchen auf Twitter nach den neuesten Nachrichten über Erdogans «Öffnung» der Grenzen zu Griechenland und Bulgarien. Diese unglaubliche politische Willkür macht mich sprachlos: Flüchtende werden als politisches Druckmittel eingesetzt, ihr Leid benutzt, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Auch wenn es nichts Neues ist, ich kann es immer wieder nicht fassen. In Libyen und in so vielen anderen Ländern südlich des Mittelmeers ist es nicht anders: An den Flüchtenden wird Geld verdient und Europa bezahlt dafür, dass sie nicht in die Festung eindringen – der Preis ist so oft ihr Leben. In meine finsteren Gedanken hinein klingelt plötzlich das Telefon. Wir schauen uns an, dann greift Betty zu: «Watch the Med - Alarmphone, hello?» Kurzes Schweigen. Dann versucht sie, dem Anrufenden auf Englisch zu erklären, dass wir eine «hotline for people in distress at sea», also ein Telefon für in Seenot geratene Menschen sind und keine Auskünfte geben können über NGO-Rettungsschiffe oder das Wetter der nächsten Tage an der libyschen Küste. Es passiert immer wieder, dass Leute uns das fragen. Sie sind noch in Libyen, in der Hölle des Krieges, der Folter und des Menschenhandels und wollen nur dort weg. Aber ihre Boote sind eine Katastrophe und bereits ein Seenotfall, sobald sie in See stechen. Sie fahren los, wenn die Wellen niedrig sind und der Wind ablandig weht, oder wenn sie von den Schleusern gezwungen werden. Manchmal haben sie ein Satellitentelefon an Bord, manchmal unsere Nummer dazu, manchmal beides nicht. Oft wissen sie nicht, was sich hinter unserer Nummer verbirgt. So wie beim nächsten Anruf, der zehn Minuten später hereinkommt. Dieses Mal nimmt Sol in an. Es ist ein Satellitentelefon. Die Verbindung ist sehr schlecht. Wir versuchen es auf Englisch, sie scheinen zu verstehen, antworten auf Englisch, es ist aber kaum zu verstehen und die Verbindung bricht wieder ab. Wir rufen zurück. Jetzt verstehen wir, dass sie um Hilfe bitten. Sie sagen uns, dass sie bereits seit mehreren Stunden auf dem Wasser und ihre Kräfte aufgebraucht sind und der Motor nicht mehr funktioniert. Sol fragt, wie viele Leute sie an Bord sind, wieviele Frauen und Kinder, welche Farbe das Boot hat und von wo sie losgefahren sind – die Standard-Prozedur. Als sie gerade nach den Koordinaten ihrer Position fragt, bricht die Verbindung wieder ab. Rückruf, fragen nach der Position. Sol notiert den nördlichen Längengrad und wieder bricht die Verbindung ab. Manchmal ist es echt zum Haare raufen! Innerhalb der nächsten Viertelstunde versuchen wir es vergeblich, sie zurück anzurufen. Die Anspannung steigt. In der Zwischenzeit bereiten wir eine Email an die Seenotrettungsleitstellen in Malta, Italien und Libyen vor. Ja, leider auch Libyen. Europas teilweise sehr willkürliche Rechtslage zwingt uns dazu, auch wenn uns die Leute, die von dort fliehen und uns anrufen, anflehen, nicht Libyen Bescheid zu sagen. Wir können nur hoffen, dass ein NGO-Schiff in der Nähe und schneller als diese sogenannte libysche Küstenwache ist. Eigentlich ist diese Küstenwache ein verdorbener Auswuchs des brutalen Krieges. Oft ist sie gar nicht zu erreichen, weder per Telefon noch per Email. Es gibt Wachposten, die sagen, dass sie jetzt nicht herausfahren, um Menschen zu retten, weil gerade schlechtes Wetter ist oder irgendeine Jubiläumsfeier stattfindet. Und solche, die auf Boote mit Geflüchteten schiessen, andere, die besonders wild auf Geflüchtete aus Bangladesch sind, weil diese – einmal zurück an der Küste – sich besonders teuer verkaufen lassen, denn ihre Familienmitglieder zahlen gut für die Überfahrt, insbesonders, wenn sie die Folterbilder zugeschickt bekommen. Dann «dürfen» die Geflüchteten es nochmal probieren, vielleicht kommen sie ja an, vielleicht ertrinken sie auch. Vielleicht werden sie erneut eingesammelt.
Verzweifelte Hoffnung
Das Boot ruft wieder an – endlich! Wir bekommen die zweite Koordinate, die östliche Breite. Wir fügen sie schnell in die Email ein und schicken ab. Was in den nächsten Stunden folgt, ist traurig, aber gewöhnlich: Die Position befindet sich in internationalen Gewässern, Lampedusa und somit Italien ist am nächsten, reagiert aber nicht. Malta sagt, sie hätten Kontakt mit einem Containerschiff in der Nähe aufgenommen und tatsächlich können wir auf dem Bildschirm beobachten, wie es anfängt, Kreise zu ziehen. Wir hoffen auf Rettung, aber der Zahn wird uns schnell gezogen: Das Schiff ist zu gross, es wäre lebensgefährlich für das kleine Boot. Die Leute rufen uns immer wieder an: «Wann kommt Rettung?Wir frieren! Wir können nicht mehr. Frauen sind schwanger, die Kinder sind schwach.» Wir versuchen, sie zu beruhigen, aber sie glauben uns nicht. Langsam werden sie wütend. «Warum lasst ihr uns hier allein? Wir werden sterben. Weil wir schwarz sind, kommt niemand, oder?» Was soll ich sagen? Es stimmt. Verdammt, und ich bin Teil dieser Gesellschaft, ich sitze in diesem Moment in einem beheizten Zimmer, habe vor nicht allzu langer Zeit Abendbrot gegessen und mit meinem Pass könnte ich in Libyen sogar Urlaub machen. Jetzt habe ich nur das Telefon und meinen Laptop als kleine Werkzeuge der Solidarität und ich versuche es wieder bei Malta, frage, wann sie endlich ein Boot losschicken, das zur Rettung geeignet ist. Aber ich werde immer wieder abgespeist, entweder sie sagen «Ja, ja, ein Boot wird kommen!» oder «Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.» Das sagen sie bereits seit Stunden, doch nichts passiert. Wir fragen zum vierten Mal beim Boot nach einer neuen Position und sie fühlen sich langsam verarscht. Der Mann wird sauer. Wir wollen Kontakt halten, zeigen, dass wir noch da sind. Sie haben das Gefühl, hingehalten zu werden. Die Verbindung und die Kommunikation sind leider so prekär, dass es schwierig ist, die Lage zu erklären. Es ist mittlerweile fünf Uhr nachts. Das Containerschiff hat groteske Fahrtmuster auf den Bildschirm gezeichnet. Der Mann auf dem Boot hat wieder angerufen und gesagt, zwei Personen seien über Bord gegangen. Das heisst, sie sind tot. Das Boot ist ein Schlauchboot und mit 78 Personen vollkommen überbesetzt. Unsere Stimmung ist unter dem Nullpunkt – abgespannte, erschöpfte Verzweiflung. Als wir zwei Stunden später die Schicht ans nächste Team übergeben, ist Malta immer noch nicht zur Rettung gekommen. Italien sagt aber, Malta sei zuständig. Ich schleppe mich zum Bett und mein Kopf brummt, aber trotz der bleiernen Müdigkeit finde ich keinen Schlaf. Ich habe ein Bett, in das ich mich legen kann, sie nicht. Sie müssen versuchen, wach zu bleiben, nicht von Bord zu fallen, zu überleben, irgendwie zu überleben. Ich fühle Leere in mir, sie hat die Verzweiflung zurückgedrängt und es sind keine starken Gefühle mehr vorhanden. Irgendetwas in mir schirmt mich davon ab. Ich lasse die Gesprächsfetzen dieser Nacht wieder und wieder Revue passieren, frage mich, ob wir irgendetwas besser hätten machen können und irgendwann falle ich dann doch in einen unruhigen Schlaf. Mittags wache ich verwirrt auf, eine Nachricht auf meinem Handy, es ist Sol: «Sie sind gerettet!!!!!» 20 Stunden, nachdem wir den Notruf an sie weitergeleitet haben, hat sich ein Rettungsboot von Malta in Bewegung gesetzt. Ich bin erleichtert. Aber ich weiss auch, dass da draussen noch so viele andere sind. Dass es ein «Happy-end» ist, das noch lange nicht zu Ende ist und erst recht nicht happy, denn jetzt wartet Europas «Willkommenskultur» auf die Geflüchteten. Wo bleiben die Brücken über die See? Natürlich ist hier Platz für alle, so ein Quatsch. Unsere Kapazitäten werden von unserem Willen und unserem Einfallsreichtum bestimmt. Riace hat es vorgemacht. Ich wünschte, den Menschen würden Flügel wachsen – den einen auf den Booten und den anderen in ihren Köpfen…
Lara, Watch the Med Alarmphone, Bremen, watchthemed.net, alarmphone.org, facebook.com/watchthemed.alarmphone