MIGRATION :Watch The Mediterranean Sea

von Hagen Kopp, Hanau Welcome to Europe, 03.04.2013, Veröffentlicht in Archipel 213

2012 wurde das Netzwerk Watch The Med gegründet, das Daten sammelt zu in Seenot geratenen Flüchtlingsschiffen auf dem Mittelmeer. Damit sollen die Grenzkontrolleure kontrolliert und der Straflosigkeit auf See ein Ende bereitet werden. Es wird vermutet, dass die europäischen Behörden bewusst Hilfe unterlassen.

«Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung. Wenn für diese Menschen die Reise auf den Kähnen der letzte Funken Hoffnung bedeutet, dann meine ich, dass ihr Tod für Europa eine Schande ist.»
Diese Sätze stammen aus einem beeindruckenden offenen Brief, den Giusi Nicolini, die neue Bürgermeisterin der Insel Lampedusa, im Dezember 2012 an die europäische Öffentlichkeit gerichtet hat. «Ich wurde im Mai 2012 gewählt, und bis zum 3. November wurden mir bereits 21 Leichen von Menschen übergeben, die ertrunken sind, weil sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich und für unsere Insel ein großer Schmerz.»
Stimmen von der anderen Seite des Meeres: Am 12. September 2012 interviewte das tunesische Radio Shems FM protestierende Leute in der Stadt El-Fahs. «Vor sieben Tagen sind viele Angehörige von uns nach Lampedusa aufgebrochen. Das Schiff ging unter. Die Rettungskräfte kamen viel zu spät, obwohl sie SOS gesendet haben. Wir wissen nicht, wer ertrunken ist und wer überlebt hat. Die Überlebenden sind jetzt in Lampedusa im Abschiebeknast. Aber wir bekommen keine Namen. Wir sind auf die Straße gegangen, und die Regierung schickt die Polizei, sie lässt uns verprügeln, sie beschiesst uns mit Tränengasgranaten. Sind wir Tiere? Sind wir Hunde, die man ständig tritt?»

Verweigerung von Rettungsmassnahmen

Unerträglich ist in der Tat, was im Mittelmeer passiert und wiederholt von Überlebenden bezeugt wird: die Verweigerung von Rettungsmaßnahmen gegenüber Schiffbrüchigen. Offensichtlich gehört das «Sterben lassen» zur EU-Abschreckungsstrategie an den maritimen Außengrenzen. Gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen auf See wirksam einzuschreiten, ist das zentrale Motiv des Monitoring-Projektes Watch The Med. Die Recherche-Ergebnisse des mit neuen Technologien arbeitenden Projektes dienen deshalb nicht allein der öffentlichen, sondern auch der juristischen Anklage.
«Watch the Mediterranean Sea» – so die Langfassung – basiert auf einer interaktiven Karte, in der Daten über die unterschiedlichen geographischen Verantwortlichkeitsbereiche zur Seenotrettung sowie Einsatzzonen eingezeichnet und mit weiteren Informationen verknüpfbar sind, beispielsweise: Woher wehte der Wind? Wie verlief die Meeresströmung? In Verbindung mit Satellitenfotos und Notrufaufzeichnungen oder – in Küstennähe – auch Handydaten sowie mit den Zeugenaussagen von überlebenden Flüchtlingen lassen sich Bewegungsbilder von in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten erstellen und somit gegebenenfalls unterlassene Hilfeleistungen nachweisen und vor Gericht bringen.
«Die Grenzkontrolleure zu kontrollieren» und «der Straflosigkeit auf See ein Ende zu bereiten» nennen Charles Heller und Lorenzo Pezzani, die beiden Gründer des Projektes, als vorrangige Ziele von Watch The Med. Dazu werden Informationsmaterialien für MigrantInnen und Flüchtlinge wie auch für Fischer und Seeleute erstellt. In transnationaler Kooperation entsteht somit ein Netzwerk, das sich dem tödlichen Unrecht auf See entschieden entgegenstellt.
Wie sich Watch The Med bereits engagiert:

«Left-to-Die-Boat»

Über 40 Kriegsschiffe und -flugzeuge waren im März 2011 im Rahmen der militärischen Intervention gegen das libysche Regime im zentralen Mittelmeer im Einsatz. Diese am stärksten überwachte Seezone auf der ganzen Erde wurde in der gleichen Zeit dennoch zum Massengrab für Boatpeople. Ein besonders dramatischer Fall, über den auch in der internationalen Presse berichtet wurde, löste breite öffentliche Empörung aus. Am 27. März 2011 waren 72 subsaharische MigrantInnen von Tripolis aus mit einem kleinen Boot Richtung Lampedusa aufgebrochen. Nach der Hälfte der Strecke ging ihnen das Benzin aus, und das Boot driftete hilflos auf offener See. Mit Hilfe eines Satelliten-Telefons benachrichtigten sie die italienische Küstenwache (die später ihre maltesischen Kollegen sowie die Nato informierte) über ihre verzweifelte Situation. Obwohl sich ihnen danach ein Patrouillen-Flugzeug, ein Militärhubschrauber, zwei Fischerboote und ein großes Kriegsschiff näherte, kam es zu keiner Seenotrettung. 14 Tage trieb das Boot im Meer, ohne Wasser und Essen an Bord verloren 63 Menschen ihr Leben. Nur 9 hatten überlebt, als das Boot wieder an der libyschen Küste anlandete.
Um diesen skandalösen Vorfall eingehend zu untersuchen, bildete sich ein Bündnis von Nichtregierungsorganisationen mit dem Ziel, ein juristisches Verfahren anzustrengen, in dem die Verantwortlichen für die Toten zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Zur Unterstützung dieser Initiative wurde eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Universität von London aktiv, die später das Watch The Med Projekt starteten. Sie kombinierten die Angaben der Überlebenden und offizielle Dokumente mit kartographischen Untersuchungen, Strömungsmodellen sowie Satelliten-Fotos, um den Ablauf der Ereignisse so präzise wie möglich zu rekonstruieren sowie die Aufenthaltsorte der in der Nähe befindlichen Militärschiffe zu lokalisieren. Zwar bleiben bis heute viele Fragen offen, doch mit diesen neuen technischen Mitteln war es möglich, die Zeugenaussagen der Überlebenden zu untermauern. Es konnte nachgezeichnet werden, dass sowohl die italienische als auch die maltesische Küstenwache sowie die militärischen Akteure allesamt Rettungsmaßnahmen verweigerten, obwohl sie über die Notlage und Position der Bootsflüchtlinge informiert waren. Entsprechende Strafanzeigen wurden in Frankreich und Italien mittler-weile eingeleitet, in weiteren Ländern werden solche folgen. Damit sind einige der ersten juristischen Verfahren auf den Weg gebracht, in denen es um unterlassene Hilfeleistung für MigrantInnen im Mittelmeer geht.

«Lampione Case»

Am Morgen des 6. September 2012 brachen 135 Harragas – so die nordafrikanische Bezeichnung für Boatpeople - vom Strand Sidi Mansour in Sfax mit einem zehn Meter langen Holz-Kutter nach Süditalien auf. Erstaunlicherweise wurden sie in den tunesischen
Gewässern von der tunesischen Küstenwache («Garde nationale maritime») begleitet, das Patrouillenschiff Alyssa hat sie sogar mehr- mals gefilmt. Die Gendarmen nahmen Kontakt mit den Harragas auf: Sie warnten sie wegen der Überladung des Schiffs und wegen eines heranziehenden Unwetters. Am Ende schalteten sie ihre italienischen Kollegen ein.
Am frühen Abend desselben Tages sank der Kutter 12 Seemeilen vor Lampedusa bei der Felseninsel Lampione. Um 17:20 Uhr hatten die Harragas SOS über GSM gesendet. 56 Personen überlebten die Tragödie. Sie konnten auf die Felseninsel schwimmen; einige wenige wurden in der Nacht aus dem Meer gerettet. Die Überlebenden berichteten, dass der Kutter sehr schnell gesunken ist und viele nicht mehr aus dem Unterdeck herausgekommen sind. Sechs Tote wurden in den folgenden Tagen und Wochen aus dem Wasser geborgen. Die Überlebenden schätzen, dass insgesamt 79 Mitreisende umgekommen sind, unter ihnen auch Frauen und Kinder.
Die Rettungsaktion und die Suche nach Überlebenden soll angeblich sofort begonnen haben. Aber erst am 7. September 2012 um 02:00 Uhr hat ein deutsches Nato-Schiff zwei Menschen aus dem Meer aufgenommen. Und erst kurz vor 04:00 Uhr wurden die Überlebenden von der Felseninsel Lampione geborgen. Die italienische Küstenwache, die Guardia di Finanza, drei Nato-Kriegsschiffe (1 italienisches, 1 türkisches und 1 deutsches) und Flugzeuge (von Frontex?) waren direkt in der Todeszone. Für die 10-stündige Verspätung – nach den Notrufen zwischen 17:20 Uhr am 6. September 2012 – gibt es bis heute keine Erklärung. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer regelrechten Desinformationspolitik der Regierungen in Italien und Tunesien kam es in mehreren tunesischen Städten in jenen Septembertagen zu heftigen Protestaktionen.
Watch The Med untersuchte die Spuren der erfolgten Notrufe, fand die Koordinaten des Schiffsuntergangs und setzte sie mit GSM-, Radar- und Frontex-/Guardia di Finanza-Zonen in Verbindung. Die kartographierten Daten konnten kurzfristig für eine erfolgreiche Pressearbeit in Tunesien wie in Italien genutzt werden, mittelfristig sollen sie als Beweismittel für ein weiteres Strafverfahren eingesetzt werden.

Kontakte für Deutschland:

Boats4People Blick zurück: Vor dem Hintergrund von über 2 000 ertrunkenen und verdursteten Bootsflüchtlingen im Jahr 2011 startete Boats4People als euro-afrikanisches Kooperationsprojekt im Juli 2012 mit ersten Aktionen. Zwischen Sizilien, Tunesien und Lampedusa fanden mittels eines gecharterten Begleitboots sowie auf einer kommerziellen Fähre und in mehreren Hafenstädten eine Serie von Protestaktionen und Pressekonferenzen sowie Versammlungen und Gedenkveranstaltungen statt. Diese eher symbolische Protesttour im Mittelmeer zielte auf Öffentlichkeitsarbeit und auf eine Erweiterung der Kontakte. Dem Monitoringprojekt Watch The Med diente diese Tour als erste Testphase.
Blick nach vorn: Eine Welt ohne Grenzen und Bewegungsfreiheit für Alle sind unsere langfristigen Ziele, die Abschaffung des tödlichen Visaregimes eine entsprechende Forderung. Mit Watch The Med verbinden sich kurz- bis mittelfristig konkrete Handlungsoptionen, die über die Rekonstruktion von Todesfällen und Anklagen gegenüber Verantwortlichen hinausgehen. Denn technisch denkbar sind auch Echtzeitinterventionen, sobald Boatpeople in Seenot geraten, um deren Rettung zu erzwingen. Das setzt nicht nur ein funktionierendes Notrufsystem und eine entsprechende Ausrüstung der betroffenen MigrantInnen voraus, sondern auch ein handlungsfähiges zivilgesellschaftliches Netzwerk auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Watch The Med wird sich weiterhin an verschiedenen Initiativen auf beiden Seiten des Mittelmeeres beteiligen, u.a. an einer für September 2013 geplanten Buskarawane durch mehrere tunesische Städte.