MIGRATION / KANARISCHE INSELN: Ein Freiluftgefängnis für Geflüchtete

von Marian Henn, 13.07.2021, Veröffentlicht in Archipel 305

Seit Anfang letzten Jahres erreichten fast 30.000 Menschen per Boot die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln. Die sogenannten „cayucos“, häufig ausgediente Fischerboote, legen dabei meistens von der Westküste Marokkos, der Westsahara, Mauretanien oder dem Senegal ab und sind mitunter tage- bis wochenlang unterwegs.

Für viele Menschen endet die Überfahrt tödlich. Aktuell fordert die europäische Politik des Sterbenlassens im Durchschnitt jeden Tag ein Todesopfer auf der „Kanarenroute“. Gleichzeitig erwartet die boat people, denen es gelingt, europäischen Boden zu betreten, ein repressives Lagersystem, in denen die Menschen unter unwürdigen Lebensbedingungen festgehalten werden. Viele verharren in einem dauerhaften Zustand des Wartens und der Ungewissheit.

Immobilisierung durch Lager: der „Plan Canarias“

Ein Ort, der exemplarisch für das Aufnahmeregime auf den Kanaren steht und immer wieder in das Zentrum medialer Berichterstattung rückt, ist der Kai im Hafen Arguineguín auf Gran Canaria. Dort haben Behörden ein provisorisches Camp aufgebaut, das aufgrund der miserablen Lebensbedingungen auch immer wieder als „Kai der Schande“ betitelt wurde. Übergangsweise wurden viele geflüchtete Menschen anschliessend in den durch die Pandemie ohnehin leerstehenden Hotelkomplexen des Ferien-Archipels untergebracht. Die mächtige Tourismuslobby pochte allerdings mit dem Sinken der Inzidenzen und bevorstehender Öffnungen darauf, alle Hotels schnellstmöglich in den „Normalbetrieb“ zurückzuführen. Doch anstatt dem Wunsch der Menschen zu entsprechen und einen Transfer auf das spanische Festland zu organisieren, stampfte der spanische Staat im Zuge des sogenannten „Plan Canarias“ – mit finanzieller Unterstützung der EU – ein improvisiertes Lagersystem für bis zu 7000 Menschen aus dem Boden. Verteilt auf die Inseln Teneriffa, Gran Canaria und Fuerteventura entstanden in kürzester Zeit sieben sogenannter „Macro-Campamentos“, hinzu kommen kleinere Lager, in denen Frauen, Familien und Minderjährige untergebracht sind. Als Gelände dienen häufig umfunktionierte Militärkasernen oder Gefängnisse. Viele Geflüchtete organisieren sich auf eigene Faust ein Flug- oder Fährticket, um ihre Reise auf die iberische Halbinsel fortzusetzen, werden bei den Ausreisekontrollen allerdings häufig Zielscheibe rassistischer Polizeiwillkür und dürfen trotz Vorlage aller notwendigen Dokumente die Kanarischen Inseln nicht verlassen. Die Inseln fungieren demnach zunehmend als vorverlagerter Grenzraum. Im Sinne eines Freiluftgefängnisses wird dort die selbstbestimmte Mobilität der Menschen blockiert und biopolitisch geordnet.

Alarmierende Zustände

Die Auslagerung der Migrationskontrolle geschieht auf den Kanaren dabei nicht nur räumlich, indem die Menschen bereits weit vor den europäischen Zentren immobilisiert werden, sondern auch, indem die Verwaltung der Lager zunehmend auf private Akteure übertragen wird. Neben supra-nationalen Organisationen wie der „International Organization for Migration“ (IOM) sind es in erster Linie NGOs wie das Rote Kreuz oder die ACCEM(1), welche die Lager nach ökonomisch rationalisiertem Kalkül führen. Feldbett an Feldbett teilen sich meist über 20 Personen ein Schlafzelt. Dieses Unterbringungssystem raubt den Menschen nicht nur jede Form von Privatsphäre und setzt sie den extremen Temperaturschwankungen des Inselklimas aus. Es legt auch den ganzen Zynismus des politischen Diskurses offen, schliesslich wird die Blockadepraxis auf den Kanaren unter anderem als Notwendigkeit zur Eindämmung der Corona-Pandemie begründet. Die Schilderungen der Bewohner·innen über die herrschenden Zustände in den Lagern sind alarmierend. Zum einen ist die medizinische Grundversorgung absolut ungenügend. Es gibt kaum Ärztinnen und Ärzte, geschweige denn psychologische Fachkräfte. Eng verknüpft mit der fehlenden medizinischen Versorgungslage ist die unwürdige Ernährungssituation, welche sich insbesondere während des Fastenmonats Ramadan zuspitzte und zu Protesten der Camp-Bewohner·innen führte. Der dauerhafte Zustand des Wartens verstärkt sich zudem über den systematisch verweigerten Zugang zu einer angemessenen rechtlichen Beratung. In dem „Macro-Campamento“ von Las Raíces, in dem bis zu 2000 Menschen festgehalten werden, darunter – obwohl gesetzeswidrig – zahlreiche Minderjährige, berichten Bewohner·innen, dass sie seit Monaten ihren Anwalt nicht gesehen haben. In anderen Fällen wird die Ungewissheit der Geflüchteten systematisch ausgenutzt, indem sie ohne juristische Begleitung oder Zugang zu Übersetzer·innen dazu angehalten werden, ihr Einverständnis zur „freiwilligen Rückkehr“ zu unterschreiben.

Jenseits der Lager

Die unwürdigen Lagerbedingungen sind zudem eng verknüpft mit der permanenten Angst vor Abschiebungen. Um sich dem Zugriff durch die Kontrollapparate zu entziehen, haben viele Migrant·inn·en ihre Internierung in Lagern verweigert und leben auf den Strassen der Städte Las Palmas und Santa Cruz oder verstecken sich in entlegenen Küstenregionen wie El Fraile im Süden Teneriffas. Auf Teneriffa gibt es zudem eine Gruppe von 50 Personen, die aus Protest gegen die Unterbringungsbedingungen ein selbstorganisiertes Lager unmittelbar vor dem Eingang des Lagers von Las Raíces errichtete. Hinzu kommt ein nicht unbeträchtlicher Teil von Menschen, die aufgrund von „Verstössen gegen die Camp-Ordnung“ auf die Strasse gesetzt wurden. Dass es sich dabei vor allem um Personen handelt, die in Proteste gegen die Internierungsbedingungen involviert sind, unterstreicht den zusätzlich autoritären und disziplinierenden Charakter des Lagersystems. Auch queere(2) Geflüchtete sind auf den Kanarischen Inseln in erhöhtem Mass von Obdachlosigkeit bedroht. Aus Angst vor Diskriminierung halten sie sich von den Lagern fern. Was viele nicht wissen: Nach viertägiger Abwesenheit verwirken sie ihr Recht auf weitere soziale Unterstützung und sind auf den Strassen abhängig von karitativen Praktiken zivilgesellschaftlicher Initiativen oder werden in informelle Ökonomien, Drogenhandel und Prostitution gedrängt.

Die Rolle solidarischer Netzwerke

Viele der lokalen Unterstützer·innen-Netzwerke wie das Netzwerk „Somos Red“ oder die „Asamblea de Apoyo a Migrantes Tenerife“ sind zwar erst in den letzten Monaten aus der Spontanität heraus entstanden, greifen allerdings auf langjährige Vernetzungen im Kontext anderer sozialer Kämpfe zurück. In der Hauptstadt Las Palmas de Gran Canaria etwa gehen aktuelle Initiativen aus den zahlreichen Stadtteilkomitees hervor, die sich in den letzten Jahren zur Abfederung der neoliberalen Austeritätspolitiken gründeten. Sie organisieren die Ausgabe von Nahrungsmittel- und Kleiderspenden, leisten medizinische Erstversorgung, schaffen selbstverwaltete Bildungsräume und bieten kostenlose Rechtsberatungen für „people on the move“ an. In ihrer Arbeit befinden sich die lokalen Unterstützer·innen-Netzwerke und Aktivisti·inn·en dabei in dem Dilemma, eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Hilfe zu leisten, ohne zu einer Entpolitisierung des Grenzgeschehens beizutragen. Denn einerseits übernehmen sie dabei die notwendige Aufgabe, grundlegende soziale Leerstellen zu füllen, die aufgrund staatlichen Versagens entstehen. Auf der anderen Seite tragen ihre Aktivitäten häufig selbst zur Funktionalität des auf Entrechtung und Prekarisierung basierenden „Plan Canarias“ bei.

„Wir sind nicht zum Essen und Schlafen hier“ – dieser Satz ist ein wiederkehrendes Narrativ der Lagerbewohner·innen. Damit fordern sie uns auf, in unserer politischen Praxis nicht zu vergessen, dass es nicht das Ziel sein sollte, das Lagersystem auf den Kanarischen Inseln zu optimieren oder die Internierungen „erträglicher“ zu gestalten. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, für eine Gesellschaft mit gleichen Bewegungs- und Teilhaberechten für Alle einzustehen – eine Welt ohne Lager, Abschiebeknäste und tausende Ermordete im Mittelmeer und dem Atlantischen Ozean.

Marian Henn*

*Die Recherchereise im April 2021 fand gemeinsam mit den Fotojournalisten Stefan Borghardt und Houmer Hedayat statt und wurde vom EBF unterstützt. Detaillierte Profile der Geflüchteten, Stimmen aus den Lagern und O-Töne des Widerstands werden aktuell als Multimedia-Webseite verarbeitet. Erste Eindrücke finden sich auf dem Twitter-Kanal @CanaryBorders.

  1. Asociación Comisión Católica Española de Migraciones
  2. Queer: Sammelbegriff für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der heteronormativen Norm entspricht.