ÖSTERREICH: Rückkehr eines Phänomens

von Armin Thurnher, 12.12.2017, Veröffentlicht in Archipel 265

Am 15. Oktober 2017 hat die österreichische Bevölkerung ihr Parlament gewählt – das Resultat ist zwar nicht überraschend, aber trotzdem beunruhigend. Armin Thurnher, Herausgeber der Wochenzeitung «Falter», schrieb am 17.10.2017 diesen Kommentar, welchen wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier wiedergeben.

Der Neofeschist1 – Das Knaben-wunder des Wunderknaben
Fesch und siegreich – Sebastian Kurz2 hat die Bewegung, die Kraft, den Willen.
Das tiefe Bedürfnis nach Veränderung der österreichischen Bevölkerung wird nun befriedigt. Selten habe ich etwas Dümmeres gehört. Die Österreicher wollen keine Veränderung. Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es immer war, halt ohne Flüchtlinge und andere lästige Begleiterscheinungen der Moderne. Veltliner-Alpen-Donau-Suprematismus! Nur die roten Gfrieser 3 gehören durch blaue Gfrieser ersetzt.
Sebastian Kurz zeigt am Wahlabend deswegen etwas sehr Befriedigendes in seiner Miene. Sein Gesicht sieht besonders ernst und verantwortungsvoll aus, man könnte es schon wieder für Plakate fotografieren. Gewiss, er kann, er wird alles anders machen. Seine Anhänger zerfliessen im Glauben an ihn. Wie fesch er ist. Und wie siegreich! Damit hat Kurz eine der Grundvoraussetzungen von Autoritarismus erfüllt. Er hat eine Gefolgschaft geschaffen, die sich mit ihm identifiziert und erst über ihn mit seinen Zielen. Die Ziele braucht die Gefolgschaft nicht zu kennen, von dem einen Ziel abgesehen, an die Macht zu kommen.
Sebastian Kurz hat aber getan, wovor die meisten bürgerlichen Politiker zurückscheuten. Er hat den Konsens gebrochen, nicht auf dem Rücken von Migrant·innen und Flüchtlingen Politik zu machen. Bisher galt diesbezüglich, Menschenwürde geht vor Wahlerfolg. Kurz spricht vom neuen Stil. Stil ist etwas, das sich auf die Grundfesten der Erkenntnis bezieht. Das wissen wir seit Goethe, und die Erkenntnis des Sebastian Kurz lautete simpel: Mit humanitären Flausen gewinnen wir keinen Blumentopf.
Zweierlei Arten von Menschen
Er hat kalt lächelnd jene rote Linie überschritten, die andere europäische Konservative noch gemeinsam mit ihren politischen Widersachern verteidigen: dass es nicht zweierlei Arten von Menschen geben darf. Er hat, unterstützt von weiten Teilen der verrotteten österreichischen Medien, den inhumanen Konsens nach rechts ausgedehnt – immer mit berechtigten Forderungen: wer ist für den politischen Islam, wer ist für ungeschützte Grenzen? –, er hat einerseits der FPÖ Stimmen abgenommen, deren Kreuzritter-Politik andererseits salonfähig gemacht.
Die Ansage eines neuen Stils in der Politik bleibt vage; was Kurz uns vorgeführt hat, war sein Talent bei der Konzeption und Durchführung eines Plans zur Erlangung der Macht in Partei und Republik. Sein Rivale Christian Kern4 kündigte, wohl auch aus menschlichen Motiven (in der Politik leider fehl am Platz), die Koalition mit Reinhold Mitterlehner5 nicht auf, als die Umfragen es ihm nahelegten. So spielte er Kurz in die Hände, der seinen Kairos eiskalt und meisterhaft nutzte.
Die Silberstein-Affäre6 schadete Kern, aber nicht so, wie es viele Medien vermuteten. Sie half Kurz, Debattenzeit mit einem zweiten Thema ausser seinem Flüchtlingsmantra zuzumüllen. Sie half aber vor allem Heinz-Christian Strache7, dem Vater aller Fake News, als Saubermann dazustehen. Abgesehen davon waren sich die Boulevardpresse und die bürgerliche Presse in ihrer Anbetung des Phänomens Kurz einig. Die Kronen Zeitung konnte die Wahl trotz aller Social Media noch einmal als Bestätigung ihrer Macht empfinden. Sie hatte eine Kampagne gegen Kern gestartet, die man nur als Rache dafür interpretieren konnte, dass das Liebkind der Krone, Werner Faymann8 («Tiere würden Faymann wählen»), Kern weichen musste. Strache, Kurz und Pilz – das Blatt brachte seine Favoriten durch. Das Druckwerk «Österreich» bildete einen gekrönten Sebastian Kurz ab und fuhr eine Schmierkampagne gegen Christian Kern, aus Wut, dass der die Inseratengelder der SPÖ spät, aber doch strich. Spät kam ihm die Einsicht, dass man das falsche Milieu finanziert hatte. Beispielhaft für den neuen Stil prangten fette Kurz-Inserate im Fellner-Produkt9. Die Krone-Nähe bleibt als Hypothek der SPÖ. Wer Fellner und Dichand10 füttert, wurde mit Haider und wird jetzt mit Strache und Kurz belohnt.
Die SPÖ wollte die Republik verändern und wurde von der ÖVP daran gehindert. Diese erntete jetzt die Früchte, weil das Land ja so nach Veränderung lechzt. Christian Kern entdeckte zu spät, wie es geht. Dann zeigte er Leidenschaft und das, was die Deutschen «Kante» nennen. Am Ende war sogar ein Hauch von Jeremy Corbyn da: «For the Many, Not the Few». Ein genialer Slogan, den man früher abkupfern hätte sollen. Kern hat die politische Quadratur des Kreises nicht lösen können. Wie schafft man es, als Sozialdemokratie aus jener Defensive zu kommen, die stets aussieht wie Blockade, weil die Ideologie des Neoliberalismus alle mit Befreiung lockt? Diese Aufgabe bleibt zu lösen, denn ohne politische Substanz kann keine Hegemonie erreicht werden. (…)
Puer robustus austriacus
Noch einmal zum Rätsel Sebastian Kurz. Der Philosoph Dieter Thomä hat unlängst an das Phänomen des puer robustus erinnert, des kräftigen Knaben oder Störenfrieds, eine «Figur, die in der Geschichte der politischen Theorie an Prominenz und Prägnanz kaum zu übertreffen ist». Thomä entfaltet die Typologie des puer robustus anhand von Trump. Der Störenfried tritt immer unterbrechend auf, disruptend sozusagen. Da wäre einmal der egozentrische Störenfried, der die Ordnung aufgrund von Eigeninteresse stört. Es gibt auch den exzentrischen Störenfried (Rameaus Neffe bei Diderot ist sein Muster) und den nomozentrischen puer robustus bei Rousseau.
Dieser Störenfried will «das Gesetz (griechisch: Nomos) nicht unterlaufen oder überspielen, sondern neu begründen». Er tritt als Einzelkämpfer auf «und avanciert dann zum Gründer eines neuen Bundes» (Muster: Wilhelm Tell). Dann gibt es noch die Variante des massiven Störenfrieds, der Gewalt ausübt, in dessen Art der Störung «aber das Bedürfnis nach Unterwerfung mit eingewoben ist»; er passt nicht ganz zu den anderen dreien, weil er nach seiner Gewalttat wieder in der Masse verschwinden will (wie Nazis oder Fundamentalisten). Trump, so Thomäs Analyse, ist eine Kombination aus egozentrischem und massivem Störenfried.11
Gewisse Züge eines puer miraculosus, eines Wunderknaben, trägt bekanntlich Sebastian Kurz; man muss ihn aber auch als nomozentrischen Störenfried einstufen. Er kämpft für sich, unterwirft eine Partei und gründet einen Bund (Bewegung), er will einen neuen Stil durchsetzen und auf neue Art regieren. Die Ästhetik seiner Werbung oszilliert zwischen Riefenstahl und 70er-Jahre-Männermagazin. Dazu kommt seine Jugend. Und er stört ja gar nicht, er ist der perfekte Disrupter des bisherigen Personals und der bisherigen Praxis, fesch und neu, als wäre er uns soeben als Erlöser erschienen. Wo er hinwill, wissen wir noch immer nicht. Der puer robustus austriacus: unser Neofeschist.

  1. Armin Thurnher hat bereits für Jörg Haider (Chef der FPÖ von 1986 bis 2005) die Bezeichnung «Feschist» geprägt, siehe auch die Buchvorstellung seines Essays «Ach Österreich», Archipel 253, Nov. 2016.
  2. S. Kurz: Mitglied der österreichischen Volkspartei (ÖVP), derzeit Europa- und Aussenminister der österreichischen Regierung, voraussichtlich zukünftiger österreichischer Bundeskanzler.
  3. Gfries: wienerische abschätzige Bezeichnung für Gesicht.
  4. Ch. Kern: derzeit österreichischer Bundeskanzler und Bundesparteiobmann der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ).
  5. R. Mitterlehner: Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, ÖVP.
  6. Tal Silberstein, der von der SPÖ als Berater im Wahlkampf engagiert worden war, soll mit einer geheimen «Spezialeinheit» im Auftrag der SPÖ auf Facebook Dirty Campaigning gegen ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian Kurz betrieben haben.
  7. H.- Ch. Strache: rechtsextremer Politiker, seit 2005 Bundesparteiobmann und Klubobmann der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) im Nationalrat sowie Landesparteiobmann der FPÖ Wien und Bezirksparteiobmann.
  8. W. Faymann: von 2008 bis 2016 Vorsitzender der SPÖ, Nationalratsmitglied und österreichischer Bundeskanzler.
  9. W. Fellner: Österreichischer Journalist und Medienmacher, Besitzer der Tageszeitung «Österreich» (populistisches Hetzblatt).
  10. Dichand: Gründer der auflagestärksten österreichischen Boulevard-Tageszeitung «Die Krone».
  11. Quelle: Dieter Thomä: Der Präsident als puer robustus. Donald Trump, Thomas Hobbes und die Krise der Demokratie. In: Leviathan 2/2017.