RUANDA: Radio Mille Collines: Öl aufs Feuer des Genozids

von Alex Robin, Radio Zinzine, 09.06.2014, Veröffentlicht in Archipel 226

Vor 20 Jahren fand der Völkermord in Ruanda statt. Die Erwähnung von Radio Mille Collines (RTML)1 ist unumgänglich in der Geschichte dieses Genozids. Leider gibt es kaum sozialwissenschaftliche Untersuchungen über die Rolle dieses Radios. Eine amerikanische Studie bildet die Ausnahme.

Diese Studie stellt die These in Frage, der zufolge die Sendungen von RTML einen entscheidenden Faktor beim Völkermord gespielt hätten. Der Autor, Scott Straus, geht davon aus, dass der Einfluss des Senders in einem breiteren Kontext der Gewalt gesehen werden müsste. Zwanzig Jahre nach dem Genozid an den Tutsis und den Massakern an den oppositioellen Hutus ist es an der Zeit, diese Untersuchung einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren.
Die Sendungen von RTML beginnen im Juli 1993. Das Land befindet sich zu diesem Zeitpunkt an einem Scheideweg: Die Tutsi-Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF)2 haben im Oktober 1990 von Uganda aus einen Krieg angefangen. Das Regime Ruandas wird von Frankreich unterstützt. Parallel dazu beginnt sich eine zaghafte Demokratisierung abzuzeichnen. Eine nie da gewesene Meinungsfreiheit entsteht, die sowohl im besten und als auch im schlechtesten Sinne genutzt wird. Politische Morde werden begangen, wobei deren Urheber unbekannt bleiben. Extremisten der Hutus haben bereits mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung der Tutsis verübt, die beschuldigt wird, mit der Guerilla der RPF unter einer Decke zu stecken. Weniger bekannt ist, dass beim Vormarsch der RPF Massaker an den Hutus begangen und viele Menschen in die Flucht getrieben wurden, die sich danach rings um die Hauptstadt Kigali niedergelassen haben.
Unter der Schirmherrschaft internationaler Diplomaten kommt es schliesslich zu Verhandlungen. Dabei geht es um die Aufteilung der Macht zwischen Präsident Habyarimana, der Opposition und der RPF: Die am 4. August 1993 unterzeichneten Verträge von Arusha begründen eine Hoffnung auf Frieden. Zu diesem Zeitpunkt geht RTML mit jugendlichen Musikprogrammen auf Sendung, ohne politisch zu sein.
Der Kern der Völkermord-Dynamik Der burundische Präsident, Melchior Ndadaye, ein im Juni 1993 demokratisch gewählter Hutu, wird am 21. Oktober desselben Jahres von Mitgliedern der burundischen Tutsi-Armee ermordet. Ab Ende Oktober macht RTML die ersten Kommentare gegen die RPF und ihre «Komplizen». Sowohl in Burundi als auch in Ruanda gibt es eine Hutu-Mehrheit und eine Tutsi-Minderheit. Die Bluttat in Burundi führt zu einem gravierenden Vertrauensverlust gegenüber den Tutsis im Allgemeinen. Zwei Tage später lancieren Hutu-Redner bei einem Meeting in Ruanda den Slogan «Power», was heißen sollte, dass sich jetzt die Hutus gegen den «Feind» zusammenschliessen müssten. Von diesem Zeitpunkt an setzen immer mehr ruandische Hutus die Tutsi-Zivilbevölkerung mit der RPF gleich. Hier liegt der Kern der Dynamik des Völkermordes. Ende 1993 greift RTLM vor allem die Verträge von Arusha an, die nach Meinung des Radios zu einer neuen Monarchie unter der Vorherrschaft des RPF führen würden – eine Anspielung auf die Tutsi-Monarchie vor der Unabhängigkeit. Das Radio unterstützt jetzt die nationale Armee, attackiert auch bestimmte Hutu-Vertreter als «Komplizen» der RPF und verbreitet die Klischees gegen die Tutsis. Doch das Radio hetzt noch nicht systematisch gegen die Tutsis, denn Lando Ndasingwa, der wichtigste Tutsi-Oppositionelle im Land, gibt im Radio eine politische Stellungnahme ab und bedankt sich dafür, dass er auf dem Sender reden durfte.
Ein Attentat und die Folgen Die folgenden Monate sind von den Schwierigkeiten geprägt die Verträge von Arusha umzusetzen. Einerseits, weil die Extremisten jede Art von Machtteilung ablehnen und andererseits aufgrund von Rivalitäten unter den Politikern, die um die Posten streiten. Als die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, entschließt sich der Präsident endlich die Verträge zum Abschluss zu bringen, stirbt aber bei einem Attentat am 6. April 1994. Schon in der darauffolgenden Nacht werden die wichtigsten Hutu-Oppositionellen ermordet. Die massenweise Ermordung von Tutsis setzt dann mit dem Antritt der Interimsregierung ein. Der Genozid beginnt. Doch auch viele Hutus werden entweder von RPF-Gegnern als «Komplizen» der Guerilla oder aber von der RPF getötet.
Die Gesamtzahl der Ermordeten schwankt zwischen 800.000 und mehr als einer Million, je nach Quelle. Die UNO setzte ein internationales Strafgericht für Ruanda (ICTR)3 ein, um über die Verbrechen des Völkermords zu urteilen, auch welche die Medien begangen haben, insbesondere RTLM. Doch kehren wir zu der Studie von Straus zurück.
Der Autor signalisiert, dass vor dem Attentat auf Präsident Habyarimana und vor dem Genozid sich der Ton im Radio zwar gegen die Rebellen richtet und von Misstrauen gegenüber den Tutsis geprägt ist, aber dass mehrere Sendebeiträge dazu aufrufen, sich nicht an Zivilpersonen zu vergreifen. Straus unterscheidet zwei Perioden des Völkermords: Die erste von sehr «hoher» Gewalt (zwischen dem 6. April und dem 7.Mai 1994) und die zweite von «niederer» Gewalt (zwischen dem 8.Mai bis Anfang Juli 1994). Er setzt diese Perioden in Verbindung zu den Sendungen, welche die grösste Hetze betrieben. Das ICTR benennt drei Sendungen, in denen am 7. und 8. April lebende Ziele angegeben wurden – Menschen, die daraufhin umgebracht wurden. Trotzdem gibt es noch Appelle, Zivilpersonen nicht anzugreifen und mit den Rebellen zu verhandeln. Ab Mai werden die Sendungen jedoch ausschliesslich hetzerisch, indem sie die Hörer dazu auffordern, «die Rebellen und deren Tutsi-Komplizen zu schlagen» und «den Tutsis auf die Nase zu geben». Wiederholt rufen die Sendungen dazu auf, die Rebellen und «den Feind auszurotten». Für Straus werden die Sendungen in der letzten Phase des Genozids radikaler, nachdem die Staatsmacht dabei ist zu verlieren und die meisten Massaker an zivilen Tutsis bereits verübt sind.
Die Täter über ihre Motivationen Der amerikanische Forscher analysiert noch von einer anderen Warte aus, und zwar durch die Aussagen von Mördern und deren Motivationen. Dabei stützt er sich auf seine Pionierarbeit, die er mit mehr als zweihundert Verurteilten realisiert hat, die ihre Teilnahme am Genozid zugegeben haben. Der grösste Teil gab an, dass sie nicht wegen des Radios zur Tat geschritten seien, sondern ausgehend von einem Zusammentreffen mit einer Autorität, einer Persönlichkeit oder einer Gruppe von Gewalttätigen. Die geläufigste Form war der lokale Zusammenschluss von einem Notabeln und einer Bande von Kleinkriminellen, die in der Gemeinde die Runde machten, um andere für die «Selbstverteidigung» anzuwerben. Diese Protagonisten kommunizierten also nicht über das Radio, vielmehr waren die sozialen Beziehungen ausschlaggebend – in einer Gesellschaft, in der Volksmobilisierungen seit der Monarchie stark vertreten sind. Die Motivationen, welche die Täter angaben, sind folgende: der Gruppendruck, Gehorsamkeit, Angst in Kriegszeiten, Rache, Raubzüge und persönliche Rivalitäten. Die beiden meist genannten Gründe sind der kollektive Druck und die Wut auf diejenigen, die den Präsidenten getötet haben. Nicht einer der 210 Verurteilten hat das Radio als wichtigsten Grund angegeben, die meisten erwähnten den Tod des Präsidenten, der den Rebellen zur Last gelegt wird. Auf die Frage hin, ob das Radio sie dazu veranlasst hätte, am Genozid teilzunehmen, antworteten 85 Prozent mit nein und 15 Prozent mit ja. Auf die Frage, welches Radio sie hörten, zitierten 34 Prozent RTLM neben anderen Sendern und lediglich 6 Prozent RTLM als ausschliessliches Medium.
Die Wirkung der Propaganda Eine Vorgehensweise, um den Einfluss der Medien zu messen, ist die Frage, ob die Verurteilten vor dem Genozid die Anti-Tutsi-Themen und die gewöhnlichen nationalistischen Themen auf RTLM gehört und geglaubt haben. Die Untersuchung beinhaltete drei präzise Fragen: erstens, ob die verurteilten Hutus glaubten, dass die Tutsis einer anderen Rasse angehörten, im Speziellen den «Hamiten», die in der Vergangenheit, laut Legende, von Nordafrika gekommen seien, um die Hutus zu dominieren. Zweitens, ob die Interviewten gehört hätten, dass die Tutsis die Monarchie wiedererrichten und die Hutus unterwerfen wollten. Drittens, ob die Interviewpartner glaubten, dass die Rebellen gefährlich seien. Die Resultate der Befragung ergeben einen gemischten Eindruck. Was die «Hamiten» angeht, sagten 58 Prozent der 204 Befragten, dass sie diese Legende nicht kannten; 28 Prozent hatten von ihr gehört, aber diese nicht geglaubt. 14 Prozent glaubten daran. Betreffend der Monarchie sagten 49 Prozent von 197 Befragten, dass sie nicht davon gehört hätten. 32 Prozent bestätigten, dieses Gerücht gehört, aber es nicht geglaubt zu haben, während 20 Prozent es gehört und geglaubt hatten. Ob sie Angst vor den Rebellen hätten, bestätigte die Hälfte von 197 Befragten. Die Untersuchung enthält noch andere wichtige Fragen über die interethnischen Beziehungen. Eine der Fragen bezog sich darauf, wie sich die Interviewten mit ihren Tutsi-Nachbarn verstanden hätten. Von den 200 Antworten besagten 87 Prozent, die Beziehungen seien gut gewesen, 11 Prozent meinten, dass diese problemlos gewesen seien, und 2 Prozent, dass sie schlecht gewesen seien.
Die Hamiten-Legende Erstaunlicherweise wird RTLM manchmal von den Verurteilten in folgendem Sinne kritisiert: «Wir waren überzeugt, dass die Tutsis uns töten würden. Ich kann nicht sagen, dass RTLM uns aufgestachelt hätte. Im Gegenteil: Es hat uns belogen, indem es uns vermittelte, wir wären daran zu gewinnen.»
Die Studie stellt abschliessend fest, dass das Radio das Gewicht der Machthaber verstärkt und Öl ins Feuer des Völkermords gegossen hat, aber dass es nicht das Feuer entfacht hat. Dieses Resultat steht im Gegensatz u.a. zur Feststellung des französischen Historikers Jean Pierre Chrétien, dass die «hamitische Hypothese» eine zentrale Rolle im Genozid gespielt hätte, weil diese von RTLM in die Köpfe eingetrichtert worden wäre. Diese Geschichte aus Zeiten des Kolonialismus, dass die Tutsis oder «Hamiten», historisch betrachtet, Eroberer waren, hätte zu einem Rassismus gegen die Tutsis geführt, der am Ursprung des Genozids stünde. Für Straus ist diese Legende unerheblich, wie schon oben erwähnt: Gemäss seiner Untersuchung genügte es nicht, sie zu verbreiten, damit sie ein grosses Echo gefunden hätte.
Aktuelle Studien über den Einfluss von Medien generell besagen, dass Propaganda erst dann wirksam ist, wenn die Öffentlichkeit bereits für diese empfänglich ist. Es sei schwierig zu manipulieren, wenn das psychologische Terrain nicht günstig sei.
Von langer Hand vorbereitet? RTLM wird auch eine zentrale Rolle bei der Planung des Genozids vor dem Attentat des 6. Aprils 1994 zugeschrieben. Laut dieser These hätten die extremistischen Hutus, die an der Macht waren, den Völkermord mindestens seit 1990 vorgesehen gehabt, und das Radio sei deren hauptsächliches Sprachrohr gewesen. Das entscheidende Urteil zu dieser Frage dürfte jedoch dasjenige gegen den Kolonel Bagosora sein, der vom Staatsanwalt des ICTR als «Gehirn des Genozids» bezeichnet wurde. Das Verdikt vom Dezember 2008 verurteilt ihn zwar für seine Beteiligung am Völkermord, aber entlastet ihn von der Anklage der Planung des Genozids.
Bis heute konnte noch niemand beweisen, dass es eine formelle Planung des Genozids vor dem Datum des Attentats gegen das Flugzeug von Präsident Habyarimana gegeben hätte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es keine Planung ausgehend von den ehemaligen Machthabern gegeben, sondern eher ein Heranreifen wegen des Krieges, diversen Machtkämpfen und wegen der propagandistischen Gleichsetzung der Tutsi-Minderheit mit der RPF. Diese Unterstellung wurde von der Interimsregierung gestützt und die Milizionäre und die anderen Bürger, denen es vor-nehmlich um die Verteidigung ihrer Partei und ihres Vaterlandes ging, nahmen diese Nachrede bereitwillig als Argument auf: gegen die «Inyenzi» oder «Schaben», ein Begriff, der sowohl für die Guerilleros als auch für die zivilen Tutsis verwendet werden konnte. Die Komplexität der Verantwortlichkeiten für den Genozid wird in dem Werk des Forschers André Guichaoua behandelt: «Rwanda de la guerre au génocide» (ed La Découverte), oder in einem kürzlich erschienenen Buch: «Rwanda, le pouvoir à tout prix» von Jean Baptiste Nkulinyingoma (ed l’harmattan). Beide Bücher sind bisher nur auf Französisch erschienen.
Die Empörung in der Öffentlichkeit, die in der Regel durch Massaker eines solchen Ausmasses hervorgerufen wird, führt leider oft nur zu eindimensionalen Erklärungen der Hintergründe und nicht dazu, sich mit der ganzen Komplexität und allen Mechanismen zu befassen, die zu diesen Katastrophen führen. Jede Initiative, die sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden gibt, ist deshalb zu begrüssen.

  1. Radio-Télévision Libre des Mille Collines (Freies Radio-TV der tausend Hügel; der Begriff Mille Collines ist ein Synonym für Ruanda) ist ein ruandischer Hörfunk- und Fernsehsender, der im Juli 1993 auf Sendung ging und zum Sprachrohr der extremistischen Hutu-Power wurde. RTLM existiert bis heute weiter, allerdings als unpolitischer Sender.
  2. Die Ruandische Patriotische Front (abgekürzt als RPF); auf Kinyarwanda: Ishyaka FPR-Inkotanyi, auf Französisch: Front patriotique rwandais, abgekürzt FPR)
  3. International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) = Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda