RUMÄNIEN: Wir brauchen Euch - leider

von Jochen Cotaru, EBF, Holzmengen, 12.06.2020, Veröffentlicht in Archipel 293

Die Welt ist im Bann des Corona-Virus; Meldungen und Berichte aus der ganzen Welt konzentrieren sich auf Fallzahlen und diverse Massnahmen der Regierungen. Rumänien taucht dabei selten auf. Ist es aber der Fall, dann im Zusammenhang mit den akuten Problemen anderer Länder, die sich plötzlich Fragen stellen müssen. Sei es, wie der Spargel auf den Tisch in Deutschland kommt oder wie in Österreich die häusliche Pflege von Zehntausenden gesichert wird. Über die Fallzahlen gibt es wohl auch nicht so viel zu berichten. Rumänien hat in der Summe keine dramatischen Entwicklungen zu verzeichnen und liegt mit 16‘000 erfassten Infektionen auf 19 Millionen Einwohner·innen im Mittelfeld. Das liegt möglicherweise an den frühzeitig ergriffenen Massnahmen. Angesichts des maroden Gesundheitssystems scheint es nachvollziehbar, dass bereits bei weniger als 200 gemeldeten Fällen Mitte März der Ausnahmezustand über das Land verhängt wurde. Sämtliche Schulen und Universitäten des Landes waren bereits eine Woche zuvor geschlossen worden. Neben dem hiesigen Hashtag #StaiAcas (»Bleib zuhause») verbreitete sich auch eine enorme Spendenwelle für die Spitäler im Land. Die so mögliche Bereitstellung von Intensivbetten, Beatmungsgeräten, Schutzkleidung und Masken für die Angestellten auch kleinerer Krankenhäuser hat sicherlich zu einer Entlastung der Situation beigetragen.

Export von Arbeiter·inne·n

Derweil wuchsen u. a. in Deutschland und Österreich die Sorgen sowohl um die Spargelernte als auch um die Pflegearbeit, die zum Grossteil von ausländischen Fachkräften geleistet wird. Zum einen ist das ein klares Indiz dafür, wie eng verwoben die europäische Realität mit der erreichten Personenfreizügigkeit ist. Zum anderen zeigen diese Vorgänge die eklatanten Ungleichheiten und die Arroganz wirtschaftlich besser gestellter Regionen gegenüber ärmeren. Als sich die rumänische Bevölkerung gerade an Ausgangssperre und Kontaktverbot gewöhnt hatte, gingen verstörende Bilder durch die sozialen Medien. Am Flughafen Klausenburg/ Cluj hatten sich eines Tages mehr als 1‘500 Menschen eingefunden. Von Abstandsregeln keine Spur. Das Gedränge war nicht nur hausgemacht: Vermittlungsagenturen hatten Flüge gechartert, um die Spargelernte in Deutschland abzusichern. Von den 40‘000 Erntearbeiter·inne·n sei die Hälfte mit Rumän·inn·en angepeilt. Doch nicht nur am Airport standen die Arbeitswilligen dicht an dicht – auch im Zielland sollte es nicht anders sein. Die sonst üblichen Massenunterkünfte – deren Miete meist vom Mindestlohn abgezogen wird – wurden nun zu Quarantäne-Unterkünften umbenannt. Wiederholt ist es vorgekommen, dass die Angereisten sich den Betrieb nicht selber auswählen durften. Ein rumänischer Saisonnier starb während seines Einsatzes an Covid-19, woraufhin die offensichtlich unzureichenden Schutzmassnahmen für die Ernterarbeiter·innen kritisiert wurden, was jedoch bis jetzt ohne ersichtliche Folgen blieb. Die Europäische Koordination von Via Campesina (ECVC) wandte sich am 1. Mai mit einem von mehreren Dutzend nationalen wie internationalen Organisationen sowie Akademiker·inne·n unterzeichneten Offenen Brief an EU-Kommission und Parlament. Ihre Forderungen zum Schutz der migrantischen Landarbeiter·innen fassen die Initiator·inn·en in einem Satz zusammen: »Wir können nicht akzeptieren, dass die Aufrechterhaltung der Lebensmittelproduktion weiterhin zu Lasten der Gesundheit, der Rechte und der Würde von migrantischen Arbeiter·inne·n und solchen aus den ländlichen Gebiete gehen.» (1)

Und die rumänische Landwirtschaft?

Die rumänische Organisation der Kleinbäuer·inne·n, Eco Ruralis, veröffentlichte Mitte April einen Offenen Brief an Regierung und Parlament, den fast ein Dutzend grössere und kleinere NGOs des Landes mit unterzeichnet hatten. (2) Im Wesentlichen bestand der unter dem Titel »Unterstützung für Landwirte – eine Priorität im Covid-19-Kontext!» stehende Brief aus einem zwölf Punkte umfassenden Forderungskatalog bezüglich der Situation der über 4,5 Millionen Kleinbäuer·inne·n Rumäniens. Die Unterzeichner·innen verlangen eine Sicherung der zahllosen kleinen Märkte im Land sowie mehr Transparenz und Teilhabe bei den die Kleinstproduzent·inn·en betreffenden Entscheidungen – nicht nur – während der aktuellen Krise. Ein zentrales Element des Briefes stellt die Sicherheit der Landarbeiter·innen dar, die ja aus den Reihen der Kleinbäuer·inne·n kommen: »Die rumänische Regierung wird aufgefordert, ihrer Verantwortung für die Sicherheit von Saisonarbeiter·inne·n, die in der Landwirtschaft und im Lebensmittelsektor arbeiten, gerecht zu werden und die Umsetzung aller Präventivmassnahmen gegen Covid-19 (...) von der Ausreise aus Rumänien bis zur Rückkehr in die Heimat» gerecht zu werden, heisst in dem Brief, der auf ein positives Echo in der Öffentlichkeit und zumindest bei einem Teil der Adressat·inn·en stiess. Bisher war der Verband regelmässig von den offiziellen Landesstellen ignoriert worden; jetzt scheinen die Ohren und Leitungen im Landwirtschaftsministerium offen zu sein. In einer Telekonferenz mit einem Staatssekretär wurde deutlich zu verstehen gegeben, dass man in Bukarest von der Unterbrechung der europäischen Lieferketten im Lebensmittelsektor kalt erwischt worden sei. Man wolle künftig deutliches Augenmerk auf die kleinen Strukturen legen, die im Land die Versorgung sichern. »Nach dem offenen Brief eröffnete das Landwirtschaftsministerium den Dialog mit den Unterzeichnern und schlug vor, sich bei den nächsten Aufrufen auf kurze Nahrungsketten, Zusammenarbeit und ökologischen Landbau zu konzentrieren. Als Zivilgesellschaft und Vertreter von Kleinbäuer·inne·n freuen wir uns über eine offene Haltung der Regierung», meinte dazu Ramona Duminicoiu von Eco Ruralis. Weiterhin gebe es aber »Probleme, die bis heute nicht angegangen werden, wie z. B. die Gesundheit und Sicherheit von migrantischen Arbeiter·inne·n, Saisonniers und Landarbeiter·inne·n.» Es bleibt abzuwarten, wie lange solche Zusagen Bestand haben. Dass die Kleinbäuer·inne·n dafür im Land sein müssen und nicht weit fort den Spargel in »Akkordarbeit zum Minimallohn» (3) stechen, ist den Damen und Herren jedoch wenigstens kurzzeitig bewusst geworden.

Hungerlohn für Pflegearbeit

Eine andere Gruppe von quasi kontinuierlich missachteter Systemrelevanz stellen die zumeist rumänischen Pflegearbeiterinnen in Österreich dar. Ähnlich früh wie im ersten Fall wurden Charterflüge zwischen Rumänien und Österreich eingerichtet, um einen »Kollaps der 24-Stunden-Pflege» zu verzögern. Die insgesamt etwa 80‘000 Frauen gewährleisten diese in zwei- bis vierwöchigen Dauerschichten für einen Hungerlohn, der, laut Flavia Matei von der Gruppe Drept pentru îngrijire (Gerechtigkeit für Pflegearbeit), bisweilen lediglich zwei Euro pro Stunde beträgt.(4) In einem Online-Beitrag zitiert sie eine Pflegearbeiterin: »Normalerweise sind wir für einen Grossteil der Gesellschaft trotz unserer wichtigen Arbeit unsichtbar. Aber jetzt bemerken gerade sehr viel mehr Leute, wie wichtig unsere Arbeit ist. Und trotzdem werden in der Krise die Bedingungen für uns schlechter statt besser.» (5) Schlechter heisst in diesem Falle unter anderem, dass zu einem vierwöchigen Arbeitsaufenthalt zwei Wochen unbezahlte Quarantäne hinzukommen. Als nach mehrwöchigem Tauziehen als Ersatz für die gestrichenen Flüge ein »Korridor-Zug» zwischen Timisoara und Wien eingesetzt wurde, wurde das zwar in Wien als Erfolg gefeiert, für die Pflegerinnen aber hiess es zuerst einmal das Ticket, den Covid-Test Patient·inn·en ausserhalb Wiens begeben können. Und da sie sowieso mit 11‘000 Euro Jahresverdienst zu wenig Einnahmen haben, sie somit keine Einkommenssteuer bezahlen und selten über ein österreichisches Konto verfügen, schloss die blau-grüne Regierung die Pflegearbeiterinnen auch gleich vom Zugang zum so genannten Härtefallfonds aus. Erst eine Initiative der Aktivist·inn·en von Drept pentru îngrijire und verschiedenen österreichischen Akteur·inn·en brachte Bewegung in die Angelegenheit. (6) Natürlich darf nicht ausser Acht gelassen werden, welche enorme wirtschaftliche Bedeutung die Saisonarbeit für ganze Regionen Rumäniens hat und wie sie mittlerweile quasi soziokulturell verankert ist. Es ist auch nicht neu, dass Ressourcen und Konsumgewohnheiten eines Landes es nicht ermöglichen, mit einheimischen Kräften zu arbeiten, und dafür Leute von anderswo zu miserablen Konditionen herangeholt werden. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ist der ausbeuterische Wesenszug dieser Tatsachen jedoch nochmals deutlich zu Tage getreten. Ob daraus Konsequenzen gezogen werden, die zu einer Verbesserung der Lage für Ernte- und Pflegearbeiter·innen, ja, für alle in prekären Verhältnissen tätigen Menschen führen, ist die Herausforderung der aktuellen Periode. Für Ramona Duminicoiu ist klar, dass die Lage von Klein-bäuer·inne·n und Landarbeiter·in-ne·n unbedingt Eingang ins öffentliche Bewusstsein und die Politik finden muss. Dies sei eine Priorität in der Krise und darüber hinaus.

  1. Der vollständige Appell in verschiedenen Sprachen auf: www.eurovia.org
  2. Auf Rumänisch und Deutsch: www.moaraveche.ro
  3. junge Welt vom 2. Mai 2020: »Spargelernte – Das ‘weisse Gold’»
  4. junge Welt vom 2. Mai 2020: «Ihre Leistung wird nicht wertgeschätzt.»
  5. www.mosaik-blog.at/wie-sich-24-stunden-betreuerinnen-in-der-corona-krise-organisieren
  6. Der Standard vom 29.4. 2020