In Russland fordern Mütter, Frauen und Geschwister von Soldaten deren sofortige Rückkehr von der Front. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind mehr als 100.000 russische Soldaten umgekommen und Hunderttausende wurden verletzt.
Moskau, 7. November 2023. Es ist bewölkt und nass. Hunderte von Anhänger·innen der Kommunistischen Partei haben sich am Karl-Marx-Denkmal vor dem weltberühmten Bolschoi-Theater versammelt, rote Fahnen mit den Parteisymbolen wehen über ihren Köpfen. Hochrangige Parteifunktionäre, darunter der altgediente Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow, bereiten sich darauf vor, zur Menge zu sprechen. Unmittelbar hinter ihnen halten Frauen Plakate hoch, auf denen sie die Heimkehr der Wehrpflichtigen fordern, und stürmen damit die Veranstaltung – ein äusserst seltenes Beispiel für echten politischen Protest in Russland. Schnell werden sie von Polizeibeamten umringt, die ihre Papiere und ihre Schilder genau studieren.
Bilder dieses Protests wurden anschliessend auf dem Telegram-Kanal der Demobilisierungsgruppe «The Way Home» veröffentlicht. Der Kanal setzt sich für die Rückkehr der Wehrpflichtigen in ihre Heimat ein und hat fast 14.000 Abonnent·innen. Er enthält Links zu Dutzenden von anderen Chats, in denen Angehörige von Soldaten über die Massnahmen berichten, die sie ergreifen, um ihre Familienmitglieder nach Hause zu holen. Zudem haben die Verwandten der mobilisierten russischen Reservisten ein Manifest und eine Petition auf «The Way Home» veröffentlicht, die eine vollständige Demobilisierung fordert. «Unser Staat hat denjenigen den Rücken gekehrt, die als erste auf seinen Hilferuf reagierten: den Wehrpflichtigen und ihren Familien», heisst es im Manifest, «und wir erinnern uns an das Versprechen des russischen Präsidenten, dass keine Reservisten einberufen würden, und dann schickte er unsere Lieben in die Ukraine. Die Versprechen waren ungültig, und wir wurden dafür bestraft, dass wir dem Gesetz gehorcht haben.»
In der Petition wird die Rückkehr aller Wehrpflichtigen und die vollständige Demobilisierung in Russland gefordert. Die Autorinnen sagen, dass sie sich erst zufrieden geben werden, wenn ihre Männer wieder sicher zu Hause seien. Sie bezeichnen die Situation im Land als «absurd» und kritisieren den russischen Präsidenten Wladimir Putin, während sie gleichzeitig die Hoffnung ausdrücken, dass er «ihre Bitten hören» möge. Die Kampagne «The Way Home» gewinnt in Russland an Zugkraft, da ihre Mitglieder in der Öffentlichkeit immer lauter fordern, dass die Reservisten endlich nach Hause zurückkehren sollen.
Frauen vermissen ihre Ehemänner; Kinder wachsen ohne Väter auf und viele sind zu Waisen geworden. Andererseits wird ein Serienmörder nach sechs Monaten Haft für die Front mobilisiert und dafür aus dem Gefängnis entlassen. Und Putin erklärt das Jahr 2024 zum «Jahr der Familie». Das ist purer Zynismus. Ein Antrag auf eine Protestdemonstration in Moskau am 25. November 2023, die das Ende der Mobilisierung fordern sollte, wurde vom Bürgermeisteramt abgelehnt. Menschen, die an der Basisdemobilisierungsbewegung beteiligt sind, erhalten Drohungen. Und diese sind ernst zu nehmen. Dennoch lassen sich die Frauen anscheinend nicht einschüchtern.
Zusammengestellt aus mehreren Meldungen in der Novaya Gazeta Europe vom 27.November 2023, unter anderem von Pavel Kuznetsov