RUSSLAND:Putins Restauration

von Jean-Marie Chauvier,Brüssel, 04.12.2006, Veröffentlicht in Archipel 144

Die dritte Phase ist die jüngste Vergangenheit. Der wirtschaftliche Aufschwung unter Putin verleitet weniger dazu, die Gegenwart mit den «guten alten Zeiten» zu vergleichen. Die Gesetze der Biologie bewirken das allmähliche Verschwinden der alten Sowjetbürger. Jene, die beim Zerfall der UdSSR 20 Jahre alt waren, sind heute 35 und haben das Blatt gewendet. Die Jüngeren interessieren sich nicht für die «Streitereien der Eltern», die UdSSR ist bereits ein entfernter Planet, eine untergegangene Insel.

Die «Nostalgiker» haben endlich Balsam auf ihre Wunden bekommen. Wladimir Putin hat die alte Melodie der sowjetischen Hymne und die Paraden vom 9. Mai wieder eingeführt. Er sagte sogar, dass das Verschwinden der UdSSR die «größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» gewesen sei. Diese Gesten und Aussprüche Putins schockierten die Liberalen und die westliche Presse, die ihn verdächtigen, die «Sowjetunion restaurieren zu wollen».

Doch die Putinsche Restauration ist nun wirklich nicht so, wie sie glauben...

Sie könnte in der «Entkommunisierung» sogar noch viel weiter gehen, als es die Liberalen unter Jeltsin versucht haben. In einem sehr langen autobiographischen Interview bezeichnete Putin seine Beziehung zum Kommunismus als sehr «soft». Zusammenfassend: Ja, wir haben daran geglaubt, dann ist die Mauer gefallen, wir haben nachgedacht und sind zu etwas anderem übergegangen. Diese Haltung ist typisch für seine Generation, die der Kader der 1970er Jahre unter Breschnjew: Keine Launen, keine Leidenschaft für Ideologien - Effizienz, das ist alles. Die Tatsache, Karriere beim KGB gemacht zu haben und diese Institution hochzuhalten, ist kein «Beweis für Sowjetismus». Der KGB und sein Nachfolger FSB stehen schließlich im Dienste des Staates. Viele höhere Kader und Intellektuelle des KGB hatten sich für die Veränderungen eingesetzt, allen voran sein Präsident, Juri Andropov, der 1983 Generalsekretär der KP wurde. Er gab den ersten Impuls zur Perestroika. Putin bewegte sich am Ende der 1980er Jahre in der sehr liberalen Gruppe um den Bürgermeister von Leningrad, Anatoli Sobtschak. Er bezeichnet die Ideen der heutigen russischen KP als «ideologischen Katzenjammer».

Phantome und Kadaver Wird Wladimir gelingen, was Boris nicht schaffte? Kann sein Nachfolger Putin tun, was Präsident Jeltsin nicht wagte? Ein Gerücht hält sich hartnäckig: Die Mumie Lenins soll aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz woanders hin verlegt werden. Als Objekt der Verehrung und der Neugierde passt sie nicht mehr in die symbolische Landschaft des neuen Russland. Wie sie loswerden? Ist die Bevölkerung heute reifer, die alten Nostalgiker «biologisch evakuiert», die junge Generation gleichgültig genug, dass solch ein symbolischer Akt ohne größeren Protest über die Bühne gehen könnte?

Nach seinem Tod im Jahr 1924 wurde der Gründer des sowjetischen Staates entgegen aller atheistischen und laizistischen Konzepte des Kommunismus und gegen den Willen seiner Witwe, Nadjeschda Krupskaja, einbalsamiert. Letztere, eine konsequente Gegnerin Stalins, musste sich von jenem sagen lassen: «Wenn du so weitermachst, finden wir eine andere Witwe für Lenin». Die Einbalsamierung ist ein alter ägyptischer oder assyrischer Brauch, der in Russland nicht geläufig ist. Das Mausoleum, ein Werk des avantgardistischen Architekten Schtschussew ist zwar gut in die Landschaft integriert, steht aber durch seine babylonische (also «heidnische») Bauweise im krassen Gegensatz zur byzantinischen und fromm christlichen Architektur der Kirchen des Kreml. Die orthodoxe Hierarchie ließe es am liebsten abreißen. Putin würde jedoch nie so weit gehen, er bringt mehr Taktgefühl für das architektonische Kulturerbe auf als zum Beispiel für die Tschetschenen.

Warum nicht ganz einfach ein «christliches» Begräbnis für Lenin? Doch da sind gewisse integristische Popen nicht einverstanden: «Die Erde würde diesen Teufel wieder ausspeien!»

Putin soll die Verlegung der Mumie mit Nikita Michalkov geplant haben, dem berühmten Filmemacher («Schwarze Augen», «Urga»), der heute der autoritäre Patron der russischen Filmproduktion ist. Sie soll «Operation Telo» (Körper) heißen und wäre gewissermaßen die Fortsetzung der in den 1990er Jahren begonnenen symbolischen Entkommunisierung – Änderung der Namen von Städten, Straßen und U-Bahn-Stationen usw. Ein Projekt, das noch lange nicht abgeschlossen ist: Es gibt noch Tausende Plätze, Straßen usw., die den Namen Lenins, der Roten Armee, von historischen Ereignissen oder Persönlichkeiten der sowjetischen Ära tragen. Es gibt aber auch Rockgruppen, die sich mit Symbolen aus dieser Zeit schmücken, auf T-shirts kann man lesen: «Meine Heimat, die UdSSR».

Für eine andere symbolische Aktion hat Wladimir Putin die Dienste von Nikitas Vater in Anspruch genommen: die Wiedereinführung der sowjetischen Hymne. Athleten und Publikum in den Stadien können nun wieder die berühmte Melodie mitsingen, niemand hatte sich die neue von Jeltsin aufgezwungene russische Hymne mit einer Melodie von Glinka merken können. Die sowjetische Hymne war 1944 auf die «Internationale» gefolgt, die 1918 zur offiziellen revolutionären Hymne erklärt worden war. Die neue Komposition stammte von Alexander Alexandrov, dem Gründer des Chors der Roten Armee. Der Text lautete damals die «unzerstörbare Union der freien Völker». Heute steht es natürlich außer Frage, so etwas zu singen. Für die wieder aufbereitete sowjetische Hymne brauchte es einen neuen, patriotischen russischen Text. Und es war Nikitas Papa, der alte Sergej Michalkov, der diese Aufgabe übernahm: Als Textdichter hat er alle Regimes überlebt. Er war bereits Autor der stalinistischen Version von 1944 und des Textes unter Breschnjew in den 1970er Jahren. Als treuer Weggenosse beglückte er nun Putin ad hoc mit einer dritten Version. Und Sohn Nikita entdeckt sein Interesse für den Zarismus! Die Familie Michalkov ist ein Modell für Kontinuität im Zick-Zack-Kurs der Geschichte, wie so manche ex-sowjetische Intellektuelle, die dem alten Regime treu ergeben waren (es manchmal vorsichtig kritisierten) und jetzt plötzlich auf eine Dissidentenvergangenheit verweisen können oder sogar Nostalgie des Zarismus an den Tag legen.

Weisses Wasser und rotes Feuer Putin hatte darauf bestanden, am 9. Mai 2005 mit grossem Pomp und vielen roten Fahnen den 60. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland zu begehen. Die Geschichtsschreiber unter Jeltsin schafften es nicht zu «beweisen», dass die Fahne, die im Mai 1945 auf dem Berliner Reichstag gehisst wurde, die nationale Trikolore der tapferen, «russischen» Soldaten und nicht die rote, sowjetische, multinationale war. Die rote Fahne mit Hammer und Sichel zu vertuschen, war unmöglich. Putin fand sich damit ab, man kann schließlich die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Ein merkwürdiger Balanceakt, einmal eine Feier für die Nostalgiker der UdSSR, einmal die beabsichtigte Beseitigung einer Mumie für die antikommunistischen Ikonoklasten. Widerspruch? Nicht wirklich. Ein Begräbnis der Mumie Lenins schließt eine Verehrung der glorreichen Vergangenheit nicht aus, sowohl der sowjetischen als auch der zaristischen. Während die Revolution von 1917 und Lenin unangenehm an die Spaltung der Nation erinnern, haben der Kampf gegen die Nazis und der Sieg von 1945 sie vereint.

Und wie ging es weiter? Im Herbst 2005 holte Russland die Asche des nationalistischen Philosophen Ilin und des Anführers der antisowjetischen Konterrevolution, Anton Denikin, wieder ins Land. Dazu gewisse Kommentatoren: «Der Bürgerkrieg wird begraben, das ist die nationale Versöhnung» . Boris Jeltsin hatte schon Zar Niklaus II, den letzten Romanov, rehabilitiert, indem er ihn für die Verbrechen der Revolution um Vergebung bat. Die «rote Sache» wird begraben, die «weiße Sache» als die demokratische präsentiert. Der Metropolit Cyrill hat den Nagel in den bolschewistischen Sarg geschlagen: «Dieses offizielle Begräbnis ist nicht das Trotzkis, sondern Denikins» . Dazu ist zu sagen, dass Trotzki in der offiziellen oder liberalen antikommunistischen Umgangssprache als der schlimmste linke Revolutionär dargestellt wird, eine Art Stalin vor seiner Zeit. Und wenn der Bolschewismus verdammt wird, so auch der Anarchismus: Beide werden in mehreren russischen Texten als Emanation des Abschaums und des kollektiven Wahnsinns beschrieben, welche Russland in den Abgrund des Bürgerkriegs und des Kommunismus gestürzt hätten. So wird Machno manchmal als «Anarcho-Bolschewik» bezeichnet. Auf der anderen Seite werden die weißen Generäle plötzlich zu Vorläufern der heutigen Demokratie.

Ein Konflikt brach aus in Bezug auf das Projekt eines Denkmals für die Opfer des Bürgerkriegs von 1917-20, wo Weiße und Rote in einem gemeinsamen Massengrab beigesetzt werden sollten. Aufstand bei den Demokraten und Nationalisten: Man kann die Soldaten des Guten nicht mit der Satansbrut vermischen. Besser, man mache es wie in Spanien – ein Denkmal und eine Kathedrale zu Ehren der Helden der weißen Bewegung und, weit weg, eine Nekropole mit den Knochen der bolschewistischen Anführer, die Schande der Nation. Wie in Spanien?

Einer der Höhepunkte in dieser symbolischen Schlacht: Die Feiern zum Jahrestag der Revolution am 7. November wurden abgeschafft. Putin setzte an ihre Stelle die Begehung des 4. November, Tag des Sieges über die polnischen Invasoren im Jahr 1613. Er steht für das Ende der politischen Unruhen» und den Beginn der Herrschaft der Romanov-Dynastie. Man könnte sich in spöttischen Kommentaren verlieren: Hat Putin etwas gegen die Polen, seit sie Walesa-Wodka in den ukrainischen Orangensaft geschüttet haben? Oder glaubt er, den Wirren der postsowjetischen Ära ein Ende gesetzt zu haben? Vielleicht sieht er sich schon als neuen Zaren? Hier darf beliebig spekuliert werden.

Doch Putin bekam ein eher peinliches Hurra zu hören: Sein neuer Nationalfeiertag wurde am

  1. November 2005 in Moskau von Tausenden Demonstranten eingeweiht, die «Russland den Russen» und «Sieg Heil» skandierten. Neonazis und rassistische Gruppen mehren sich, während die Politiker behaupten, die Einwanderung von kaukasischen und asiatischen Arbeitern streng zu kontrollieren.

Also, welche «Restauration»? Wahrscheinlich jene, die der neuen, von der grauen Eminenz des Kreml, Wladislav Surkov geschmiedeten «nationalen Idee» etwas Konsistenz verleihen könnte: der Idee einer «neuen» russischen Nation, die, gestützt auf die Errungenschaften der Zarenzeit und der sowjetischen Ära und befreit von ihren Archaismen, in eine neue Phase der Modernisierung eintritt. Der große Boss der Privatisierungen, Anatoli Tschubais, fügt den Begriff «liberales Imperium» hinzu: Auf seinem Weg zum Kapitalismus sei Russland Träger der Modernisierung für den gesamten ex-sowjetischen Raum.

Aber welche «Modernisierung» mit welcher «neuen russischen Nation?» Die soziale, wirtschaftliche und demographische Bilanz der 15 Jahre Liberalisierung ist nicht gerade ermutigend. Zu diesen Fragen, zu dieser Bilanz, gehen die Meinungen jedoch völlig auseinander.

Jean-Marie Chauvier Brüssel

(1) 1924 folgte Stalin auf Lenin, gegen dessen in einem «Testament» festgehaltenen Willen. Der Kongress der bolschewistischen Partei, eingenommen von den Versprechungen des Nachfolgekandidaten, beschloss, das Testament nicht zu veröffentlichen. Damals musste Stalin sich noch durchsetzen. Er erlangt die absolute Macht erst nach dem 17. Parteikongress 1934. Ein Großteil der Delegierten dieses Kongresses ist den Säuberungen 1937-38 zum Opfer gefallen. Bis dahin war das stalinistische Regime weit von einer absoluten «totalitären» Macht entfernt und musste sich mit sozialen Unruhen und den halbfeudalen, lokalen Parteibaronen herumschlagen. Erst 1939, nach dem deutsch-sowjetischen Pakt und der Eliminierung der «Antifaschisten» aus dem diplomatischen Corps gelang es der Gruppe um Stalin und Molotov, die sowjetische Außenpolitik vollständig zu kontrollieren.