RUSSLAND: Sibirisches Sozialforum. Ein Fortschritt in der Koordination der Kämpfe

von Carine Clément *(Moskau), 21.11.2007, Veröffentlicht in Archipel 152

Vom 3. bis zum 5. August 2007 fand in Nowosibirsk zum vierten Mal das Sibirische Sozialforum statt, das dieses Jahr durch eine Tagung der Gewerkschafts- und Sozialverbände Russlands ergänzt wurde. Drei Tage lang arbeiteten mehr als 250 Delegierte aus 32 Regionen Russlands daran, ihre Standpunkte anzunähern und Netzwerke sowie Pläne für künftige Kampagnen zu schmieden.

Die Teilnehmer am Forum repräsentierten eine enorme Bandbreite von sozialen Initiativen und Gewerkschaftsbewegungen oder -organisationen. Das Forum, deutlich links und an globalisierungskritischer Tradition orientiert, bot gleichzeitig Raum für Debatten über die politisch-ideologische Orientierung, die entsprechend der teilnehmenden Gruppen sehr breit gefächert war. Die meisten Diskussionen drehten sich allerdings um mehr praktische und konkrete Fragen, die die Organisation der Kämpfe und die Mittel der Selbstorganisation betrafen. Und vor allem fand das Sozialforum unter einer Losung statt, die ständig wiederholt wurde: Solidarität.

Fast hätte jedoch alles schlecht geendet. Am Abend vor der Eröffnung des Forums erfuhren die ortsansässigen Organisatoren, dass die Pension, in der die Teilnehmer untergebracht werden sollten, plötzlich von einem gefährlichen Virus verseucht sei, dass der Tagungsort des Forums wegen Reparatur geschlossen sei und dass die Kundgebung auf dem zentralen Platz der Stadt wegen Musikveranstaltungen dort nicht stattfinden könne. Die Aktivisten ließen sich jedoch nicht abschrecken: Den ganzen Vormittag des 3. August belagerten sie den Sitz der Regionalverwaltung, forderten ein Treffen von Vertretern beider Seiten und die Beseitigung der Hindernisse für das Stattfinden des Forums. Die Belagerung wurde aufgehoben, als der Vize-Gouverneur am Schluss von Verhandlungen versprach, die Probleme zu lösen.

Die Kundgebung für den Nachmittag blieb trotz allem untersagt, was die Aktivisten jedoch nicht abschreckte. Zwei Stunden lang haben sich alle Delegationen öffentlich präsentiert und Losungen gegen die lokalen Machthaber skandiert. Die Polizei wollte zu Festnahmen schreiten, was die Menge verhindern konnte.

Schließlich konnten die Teilnehmer die kurzfristig «desinfizierte» Pension für die Nacht beziehen - eine wunderbare Örtlichkeit, die am Ufer eines riesigen Sees in den Weiten der Taiga liegt. Aber dennoch mussten die Organisatoren in letzter Minute einen alternativen Tagungsort für das Forum finden. Vorsicht war geboten, deswegen wurde die neue Adresse bis zum letzten Moment geheim gehalten.

Rentner an vorderster Front

Der Hauch von Illegalität hat dann aber die euphorische Stimmung verstärkt, die während des ersten Plenums herrschte, das Vertreter der örtlichen Koalition, dem Komitee für solidarische Aktionen der Region Nowosibirsk, leiteten. Dieses Komitee wurde anlässlich der massiven Protestaktionen der Rentner gegen die Reform des Sozialversicherungssystems Anfang 2005 gegründet und vereinigt Gewerkschaften, Einwohnervereine und linke Gruppierungen. Die Dynamik dieses Komitees spielte eine sehr positive Rolle in den Debatten ebenso wie die starke Präsenz des Bundes der Räte (oder auch Union der Sowjets ) für die russlandweite Koordination, eines überregionalen Netzwerks für soziale Kämpfe, das beson-ders mit Problemen befasst ist, die das Recht auf Wohnen betreffen. Erfahrungen dieser Verbände wurden bereitwillig weitergegeben.

Um sechs Hauptthemen drehten sich die Diskussionen in Arbeitsgruppen: das Recht auf Wohnen und die Selbstorganisation der Einwohner, das Recht auf Arbeit und Gewerkschaften, ökologische Probleme und Antworten darauf, Verletzungen der Menschenrechte, Widerstand gegen die Kommerzialisierung der Bildung und Probleme der Rentner. Zu den Arbeitsgruppen mit den meisten konstruktiven Ergebnissen sei folgendes zu bemerken:

Die Arbeitsgruppe «Probleme der Rentner» konnte die Situation sehr schnell analysieren: Alle waren sich einig über die skandalöse Kläglichkeit der Rentenbeträge (ungefähr 80 Euro monatlich oder ca. 25 Prozent eines Durchschnittsgehalts), von denen niemand leben könne, nicht einmal überleben. Die Diskussion drehte sich also hauptsächlich darum, mit welchen Aktionen die Regierung gezwungen werden kann, die Renten massiv zu erhöhen (auf mindestens 10.000 Rubel, ca. 300 Euro) und diesen Betrag auch zu garantieren (seit der letzten Reform basiert das Rentensystem im wesentlichen auf Kapitalbildung). Die Organisierung eines koordinierten Kampftages in den Regionen für den Herbst wie auch die Losung «Für eine angemessene Rente» wurden beschlossen. Den Abschluss in dieser Arbeitsgruppe bildete der Entscheid der Rentner von Nowosibirsk, eine Rentnerbewegung in der Region zu gründen und eine ständige Konsultationsstelle zu juristischen und politischen Fragen zu eröffnen.

Bauen und Wohnen

Die meisten Teilnehmer vereinigte die Arbeitsgruppe, die sich mit Wohnungsproblemen beschäftigte. Der Akzent lag hier auf Erfahrungen, die aus Selbstorganisation und Widerstand erwachsen waren. Besonders widmete man sich den Themen der Reform von Art und Weise des Gebäudemanagements, des wilden Bauens, der von Ausquartierung bedrohten Bewohnern von Asylen und Arbeiterwohnheimen, den Kleinsparern, die Immobilienschiebereien zum Opfer gefallenen waren, der Renovierung des zunehmend baufälligen Wohnungsbestandes.

Dies alles ist Resultat der neuen Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, die bestimmt wird durch eine beschleunigte Privatisierung der städtischen Dienstleistungen und der Förderung von Immobilienspekulation.

Zu all diesen und noch weiteren Problemen gab es in vielen Städten sehr erfolgreiche Anläufe, die gleichzeitig auf juristischem Wege und mit Mitteln des Kampfes unternommen wurden. Am Ende der Diskussion in dieser Arbeitsgruppe wurde klar, dass die Mehrheit der Teilnehmer sich die Idee der Selbstverwaltung zueigen gemacht hat, dabei auf die Strukturen eines korrumpierten und in die Machenschaften der Immobilienmafia verstrickten Staates eher verzichtend, als weiterhin in gewohnter Weise alles von Väterchen Staat zu erwarten. Es wurde die Entscheidung getroffen, diesen Herbst gemeinsam eine Aktion zur Verteidigung des Rechts auf Wohnraum und auf Selbstverwaltung durchzuführen, an der sich möglichst alle Netzwerke und Regionen beteiligen sollten.

Gewerkschaftsarbeit

In dieser Arbeitsgruppe fanden sich Delegierte aus mehreren Gewerkschaften zusammen, die als Betroffene gegen Repression zu kämpfen haben. Die Teilnehmer haben zunächst die Courage der Automobilbauer von AvtoWAZ (Lada) begrüßt, die am 1. August in einen Warnstreik getreten sind, und stellten ein Wiederaufleben der Gewerkschaftsbewegung in Russland fest.

Heutige Konflikte drehen sich weniger um inzwi-schen viel seltener ausbleibende Lohnzahlungen, als vielmehr um die Höhe des Lohnes und die Arbeitsbedingungen (besonders um Arbeitssicherheit und Überstunden). Diskussionsredner erinnerten an die Tragödien in den Minen des Kusbass, die der Missachtung von Sicherheitsstandards im Namen des Profits um jeden Preis zuzuschreiben seien. Aber auch der Wettlauf um etwas mehr Lohn spielt eine Rolle (in den meisten Unternehmen wird nach Leistung vergütet).

Es wurde die Notwendigkeit unterstrichen, den Aufwind bei der Bildung freier Gewerkschaften als Mittel zum Kampf zu unterstützen und diese solidarisch gegen Repressionsmaßnahmen (Entlassungen, Diskriminierungen etc.) zu verteidigen.

Streik wurde als das effektivste, aber auch als ein gefährliches Kampfmittel beurteilt. Das neue Arbeitsrecht von 2002 macht legale Streiks quasi unmöglich. Also wurde entschieden, eine Kampagne zur vollen Legalisierung des Streikrechts zu beginnen. Sabotage oder Bummelstreik wurden letztlich als die sichersten Kampfmittel angesehen. Diese Methoden werden derzeit von den Gewerkschaften am häufigsten angewandt.

In der Arbeitsgruppe wurde auch diskutiert, dass Solidarität sowohl für Gewerkschafter als auch für Vertreter sozialer Bewegungen eine unverzichtbare Rolle spielen würde. Also wurde am Ende eine Deklaration verabschiedet, die die Notwendigkeit einer Annäherung dieser beiden Bewegungen unterstrich.

Lehrer und Studenten, in der Arbeitsgruppe «Bildung» versammelt, haben einen ganzen Tag lang die aktuellen Reformen diskutiert, die die Verarmung des Personals vorantreiben würden und gleichzeitig die Unentgeltlichkeit und Qualität des Studiums durch massive Privatisierung und Kommerzialisierung von «Bildungsdienstleistungen» in Frage stellen. Mit dem Netzwerk «Bildung für alle» wurde für die Zeit nach Schul- bzw. Semesterbeginn eine überregionale Aktion zur Verteidigung des Rechtes auf Bildung ins Auge gefasst.

Umweltschutz

Die Arbeitsgruppe «Ökologie» hatte vor allem die Inkonsequenz von Stadtpolitik zum Thema. Deren Diskussionen deckten sich weitgehend mit denen der Arbeitsgruppe zum Recht auf Wohnen. Die Teilnehmer haben gleichfalls eine Resolution verabschiedet, mit der sie die Öko-Aktivisten unterstützen, die in der Region Angarsk (in der Nähe von Irkutsk) ein Protestcamp gegen das Internationale Zentrum für die Wiederaufbereitung von nuklearen Abfällen abhalten. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass am 21. Juli Skinheads das Camp überfallen haben, mehrere Aktivisten verletzt und den Tod eines Teilnehmers verursacht haben (siehe nachfolgenden Artikel).

So lidarität im Kampf

Der zweite Tag des Forums stand unter dem Zeichen von Debatten. Die ergiebigste und am weitesten greifende, sowohl Praxis als auch Analyse betreffend, war die Debatte zu Solidarität in den Kämpfen. Sie bot eine der wenigen Gelegenheiten zur Selbsteinschätzung der politischen Aktivität durch die Aktivisten, die sich stützten auf die höchst eigenen Erfahrungen in ihrem Bereich - immer noch eine Seltenheit in Russland.

Eine zweite Debatte, die das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und politischen Parteien zum Inhalt hatte, war weniger bewegt als erwartet, Beweis dafür, dass die «politischen» und die «sozialen» sich schon aneinander gerieben hatten und eine nutzbringende Zusammenarbeit, jedenfalls unter bestimmten Bedingungen, gegenseitig akzeptiert hatten.

Zur Schlusssitzung vereinigt, nahmen die Delegierten eine kurze Erklärung an, die weiter unten zu lesen ist.

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass bis weit in die Nacht gearbeitet wurde in der Pension, in der die nicht ortsansässigen Teilnehmer untergebracht waren. Wie immer, wenn Gäste da sind in Russland, dauerten die Lagerfeuer und das Baden im See in einigen Fällen bis zum Morgengrauen. Das Ereignis war für die Teilnehmer dermaßen inspirierend, dass schon ein Treffen fürs nächste Jahr vereinbart wurde, am wahrscheinlichsten ist Omsk als Tagungsort. Es wurde die Idee geboren, zwei aufeinander folgende Foren zu veranstalten: das Forum des europäischen Teils Russlands und das sibirische Forum.

*Soziologin, Direktorin des Instituts für Kollektive Aktionen in Moskau. Internetseite auf Russisch: www.ikd.ru.

Siehe auch Archipel Nr. 115 et 116, April und Mai 2004, «Die Putin-Ära» und Nr. 136, März 2006, «Neue soziale Bewegungen».

Erklärung des vierten sibirischen Sozialforums **

und der Tagung von Gewerkschafts- und Sozialverbänden Russlands **

Wir, Vertreter von Vereinen und Gewerkschaften, Mitglieder von verschiedenen Gruppen und lokalen Initiativen, die wir unterschiedliche politische Standpunkte vertreten und Teilnehmer am sibirischen Sozialforum sind, erklären:

In den vergangenen Jahren hat sich in Russland die Offensive gegen soziales und politisches Recht ausgeweitet, ebenso wie gegen das Recht, welches mit Ökologie und Wohnen zusammenhängt und die Frage nach Grund und Boden betrifft. Diese Attacke resultiert aus einer Politik, die gegen die Interessen des Volkes gerichtet ist und von den Regierenden des Landes verantwortet wird. Die aktuelle Situation resultiert weder aus Fehlern dieser oder jener Regierung, noch aus der Persönlichkeit irgendeines Machthabers, sondern aus dem politischen und sozialen System, welches sich in unserem Lande und in der globalisierten Welt etabliert hat, einem System, das auf der Umwandlung des Menschen und seiner Fähigkeiten in eine Ware, in ein Objekt der Ausbeutung und Unterdrückung beruht. Innerhalb der russischen Bevölkerung hat sich daraufhin Widerstand geregt, der sich heute in allen Regionen des Landes zu einer Bewegung für die Verteidigung des Rechts ausweitet. Es ist ein Kampf, der mehr und mehr Formen von kollektiver und solidarischer Aktion annimmt. Eine wahrhaft kämpferische Gewerkschaftsbewegung ist im Wiedererstehen begriffen und eine solide Bewegung für Einwohnerinteressen etabliert sich. Rentner organisieren sich und Organisationen von Umweltschützern und Menschenrechtlern beginnen, deutlich aktiver zu werden.

Wir sind entschlossen, unseren Beitrag zum Erwachen und Selbstbewusstwerden der Gesellschaft zu leisten und zum Fortschritt in der Selbstverwaltung der Bürger beizutragen. Wir appellieren an die Solidarität im Widerstand gegen die antisoziale Politik der Machteliten, eine Solidarität zwischen Bürgern, Sozialbewegungen, politischen Organisationen, Städten und Regionen des Landes.

Erfahrungsaustausch, darauf folgende Arbeit an konkreten Problemen, Rechtsbeistand, Angebote von alternativen Projekten für soziale Bildung, Formen ökologischen und kulturellen Lebens, Organisation von «gezielten» Massenprotestaktionen, Koordination von kollektiven Aktionen auf der Ebene von Stadt, Region oder dem ganzen Land - das ist der Weg unseres Kampfes. Freiheit und soziale Gerechtigkeit - das ist unser Ziel.

Die Teilnehmer des Sibirischen Sozialforums

(250 Teilnehmer aus 32 Regionen Russlands)