SCHWEIZ: Echo des Widerstandes. Abgewiesene Asylsuchende im Kanton Waadt.

von Christophe Tafelmacher und Yves Sancey*, 08.11.2004, Veröffentlicht in Archipel 120

Auf rechtlicher Ebene ist dieses Vorgehen zweifelhaft, denn die Betroffenen bekamen nicht einmal eine Begründung ihrer Abweisung und haben kein Recht auf Einspruch. Ungefähr die Hälfte dieser 680 Personen sind Kinder, die entweder in der Schweiz geboren wurden oder seit vier, sieben oder zehn Jahren hier leben, Kinder, die hier ihre Schule absolviert, das Handicap einer neuen Sprache überwunden, eine berufliche Ausbildung angefangen oder abgeschlossen haben. Familienväter, die dank ihrer Arbeit in der Schweiz ihre Familien im Herkunftsland unterstützen. Überlebende von den Massakern in Srebrenica vom Juli 1995, die meinten, in der Schweiz Aufnahme gefunden zu haben und die nun in Minenfelder und Ruinen zurückgeschickt werden sollen. Für die alleinstehenden kosovarischen Frauen wird die Rückkehr in den Kosovo, alleine oder in Begleitung ihrer Kinder, zu einem Leben in sozialer Ächtung. Vielen von ihnen bleiben als einzige Überlebenschance die Netzwerke der Zwangsprostitution. Mütter riskieren den Entzug des Sorgerechts, weil in gewissen Regionen die Tradition über dem Recht steht. Weitere Personen aus dem Kosovo gehören ethnischen Minderheiten an, denen andere Länder Asyl gewähren. Diese Staaten anerkennen die Risiken von Vergeltungsakten im Falle einer Rückkehr der Flüchtlinge. Um die hundert Personen müssen ihr Leben aufs Spiel setzen, da die Diktaturen, vor denen sie geflüchtet sind, immer noch wüten.

Gegen diese Ungerechtigkeiten entstand im Kanton Waadt eine breite Widerstandsbewegung. Die erste Antwort der Regierung darauf war eine zehntägige Verlängerung der Frist, um «sich ins freiwillige Rückkehrprogramm einschreiben zu können». Dabei handelt es sich um eine Übung, die nur als Ablenkungsmanöver bezeichnet werden kann. Sonst stellte sich der Regierungsrat taub gegenüber den vielen Unterstützungsaktionen verschiedenster politischer Kreise: von den Kirchen, den politischen Parteien, dem kantonalen Parlament, den Gewerkschaften, von KünstlerInnen, AkademikerInnen, örtlichen Abgeordneten aller politischen Parteien, Einzelpersonen usw. Seit dem Ende der Gnadenfrist Mitte September läuft der Countdown, und die 680 Personen riskieren wieder, jederzeit ein Flugticket mit dem Reisedatum zu bekommen, und, falls sie das Land nicht verlassen, einen Polizeibesuch.

Inzwischen gibt es jedoch ein Zeichen des Zurückweichens des Kantons: Auf Vorschlag von Amnesty International soll eine «neutrale» Kommission auf die Beine gestellt werden, um zu kontrollieren, dass die Dossiers komplett sind. Aber ein Ausschaffungsstopp während dieser Überprüfung der Dossiers steht nicht zur Diskussion: Das Ziel dieser Kommission könnte sein, mit Hilfe der Teilnahme der Nicht-Regierungs-Organisation Amnesty die Willkür der ganzen Operation zu verschleiern. Sicher ist allerdings, dass die Neuprüfung dieser Dossiers die Leichtfertigkeit bestätigt, mit der sie behandelt wurden!

Selten war die Kluft größer zwischen einer Regierung, die sich taub stellt, und einer Bevölkerung, die sich entrüstet. Das beste Beispiel dafür ist die Petition, für welche in weniger als einem Monat fast 14.000 Unterschriften gesammelt wurden - ein zusätzlicher Beweis der guten Integration derjenigen, die von einem Tag auf den anderen weggeschickt werden sollen. Ein Grund mehr, weswegen die Bewegung die kantonalen und Bundesbehörden dazu auffordert, auf ihr Abkommen zurück zu kommen und alle betroffenen Personen zu regularisieren.

Nachdem der Kanton Waadt während mehrerer Jahre ein Laboratorium für eine etwas weniger inhumane Asylpolitik war, ist er nun daran, dies wieder abzuschaffen. Die heftigen Angriffe der extremen Rechten und ihres Mentors Christoph Blocher sollen den Kanton wieder dazu bringen, im Gleichschritt zu marschieren – dies umso mehr, da die laufende Asylrevision eine brutale Offensive ohnegleichen auf die grundlegenden Menschenrechte darstellt.

Mit dem Damoklesschwert, das über den 680 Personen schwebt, ist unsere Menschlichkeit und Würde mitbedroht. Ähnliche Angriffe wie die auf eine Asylpolitik, die schon lange ihren Namen nicht mehr verdient, finden auch in anderen Bereichen wie in denen der Arbeitslosigkeit, der Sozialhilfe oder der Invalidenversicherung statt. Die Partie, welche momentan im Kanton Waadt gespielt wird, ist deshalb von grundlegender Bedeutung für all diejenigen im Lande, welche die Grundrechte bewahren wollen. Gegenüber einem Regierungsrat, der sich taub stellt, muss noch lauter geschrieen werden.

Christophe Tafelmacher und Yves Sancey*

19.9.2004

* Mitglieder der Asylkoordination, welche u.a. folgende Vereinigungen umfasst: Les Survivants de la Drina-Srebrenica, En quatre ans on prend racine, Les Femmes Kosovares Isolées, Non Aux Expulsions, Carrefour NEM. **

Für Spenden (sehr willkommen) Postkonto von SOS-Asile:

PC 10-24739-4

(Mitteilung: Coordination 523)