SCHWEIZ: Ein oranger Herbst

von Miriam Helfenstein, 04.11.2020, Veröffentlicht in Archipel 296

Am 29. November wird in der Schweiz über die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) abgestimmt. Wird die Initiative angenommen, können Konzerne mit Sitz in der Schweiz künftig für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden haftbar gemacht werden, welche sie im Ausland verursacht haben, z.B. LafargeHolcim in Nigeria, Glencore in Sambia oder Syngenta in Indien. Dabei geht es auch um die Frage nach Verantwortung und um den Platz, den die Schweiz in der Welt einnimmt. Nach Ende des wochenlangen Monsunregens fängt für die Bäuerinnen und Bauern im zentralindischen Yavatmal eine harte Arbeit an: das Besprühen ihrer Felder. Mit Pestiziden, im indischen Sprachgebrauch auch «Medikamente für Pflanzen» genannt, wollen sie ihre Baumwollfelder vor der Weissen Fliege schützen. Ohne Schutzkleidung versprühen sie das Insektengift, viele von ihnen sind sich der damit verbundenen Gefahren nicht bewusst. Im Jahr 2017 mussten über 800 Bäuerinnen und Bauern mit Vergiftungen ins Spital; 20 von ihnen sind gestorben. Dafür verantwortlich gemacht wird auch ein Pestizid namens «Polo», hergestellt und vertrieben vom Schweizer Konzern Syngenta. In der Schweiz ist «Polo» seit 2009 verboten – «aus Gründen des Gesundheits- und Umweltschutzes». Doch Syngenta exportierte weiterhin tonnenweise dieses giftige Pestizid. Die Not der vergifteten Bäuerinnen und Bauern aus Zentralindien ist kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in Geschichten über Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden, welche Schweizer Konzerne zu verantworten haben.

Breite Unterstützung…

Geschichten wie jene der vergifteten Menschen in Indien werden den politischen Herbst in der Schweiz prägen, sowie die Diskussion über die Rolle der Schweiz darin. Von vielen Balkonen hängen orange Fahnen und bekräftigen die Forderung: Die Schweiz soll Verantwortung übernehmen. Viele tausende Freiwillige engagieren sich zudem in Lokalkomitees. Von Adligenswil über Porrentruy bis Zurzach organisieren sie Filmabende und Standaktionen, hängen Banner auf und schreiben Postkarten. Über 270 bürgerliche Politiker_innen aus den Parteien BDP, CVP, EVP, FDP, GLP und SVP engagieren sich im «Bürgerlichen Komitee für Konzernverantwortung» für das Anliegen, und mehr als 250 Unternehmer_innen haben sich im «Wirtschaftskomitee für verantwortungsvolle Unternehmen» zusammengeschlossen und setzen sich für die Initiative ein. Auch die Kirche spielt eine wesentliche Rolle im Abstimmungskampf. Die Unterstützung von nationalen kirchlichen Gremien sowie kantonalen und lokalen Kirchen wird durch die Plattform «Kirche für Konzernverantwortung» sichtbar gemacht. Die Initiative basiert auf zentralen christlichen Werten: der Menschenwürde und der Bewahrung der Schöpfung.

… und harter Gegenwind

Trotz dieser Mobilisierung und der breiten Unterstützung wird der Abstimmungskampf im Herbst kein einfacher werden. Dies haben bereits verschiedenste Zwischenfälle im politischen Prozess rund um die Konzernverantwortungsinitiative gezeigt. Im Oktober vor vier Jahren wurden die 120’000 Unterschriften eingereicht. Danach wurde die Initiative im Parlament etliche Male hin und hergeschoben, es wurde gegen sie lobbyiert und politische Manöver verzögerten den Prozess:

  • August 2019: Bundesrätin Karin Keller-Suter bringt einen Gegenvorschlag ein, welcher Konzerne zu einer Berichterstattung über Menschenrechte auffordert, jedoch keinerlei Haftungsregeln enthält. Es ist ein Alibi-Gegenvorschlag. Wie die Wochenzeitung «WOZ» berichtete, basiert Keller-Suters Gegenentwurf auf einem Vorschlag des Wirtschaftsverbands Swiss Holdings, der Verband von Syngenta, Glencore & Co.
  • Oktober 2019: Der FDP-Ständerat Ruedi Noser stellt den Antrag, die Debatte über die Konzernverantwortungsinitiative auf die Wintersession zu verschieben. Der Ständerat folgt ihm. Durch dieses politische Manöver soll die Kampagne geschwächt und die Diskussion auf nach den Wahlen verschoben werden.
  • November 2019: Das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» macht publik, dass die von den Wirtschaftsverbänden bezahlte PR-Agentur furrerhugi über 8 Millionen Franken in die Gegenkampagne investieren will.
  • Januar 2020: In Tamedia-Onlinemedien wird auf versteckte Weise Werbung gegen die Initiative gemacht. Bei jedem redaktionellen Beitrag zur Initiative erscheint auf der rechten Seite ein Verweis auf ein Dossier mit einem Faktencheck. Doch das als unabhängige journalistische Arbeit getarnte Dossier wurde von der PR-Agentur «furrerhugi» erstellt. Diese verschiedenen Zwischenfälle zeigen nicht nur, welch grossen Einfluss die Interessen der Grosskonzerne in Bern nehmen können, sondern auch, dass die Initiative für die gegnerische Seite keineswegs unbedeutend ist.

Eine Selbstverständlichkeit

JA zu einer verantwortungsvollen Schweiz – die Konzernverantwortungsinitiative fordert eine Selbstverständlichkeit: Wenn Glencore in Kolumbien Flüsse verschmutzt oder Syngenta hochgiftige Pestizide verkauft, sollen die Konzerne für die verursachten Schäden geradestehen. Doch zeigt der heftige Gegenwind, welcher der Initiative entgegenschlägt, auch, dass es um mehr geht. Es geht um die Frage, wie die Schweiz mit ihrer historisch gewachsenen und oft unhinterfragten Rolle umgeht, welche sie unter dem Deckmantel der Neutralität stets profitieren lässt: 60 Prozent aller Metalle werden über die Schweiz gehandelt, sowie etwa ein Drittel des weltweiten Rohöls. Eine Mehrheit der weltweit bedeutenden Agrarhändler_innen hat ihren Sitz in der Schweiz. Die NGO «Public Eye» schätzt, dass mindestens 50 Prozent des weltweit gehandelten Getreides und 40 Prozent des Zuckers über die Schweiz gehandelt wird, sowie mindestens 30 Prozent des Kakaos und 30 Prozent des Kaffees. Die Schweiz mag geografisch ein kleines Land sein, doch beim globalen Handel spielt sie alles andere als eine geringe Rolle. Mit der Konzernverantwortungsinitiative wird der Kapitalismus nicht abgeschafft, doch wird die momentane Realität hinterfragt, in welcher die Reichen auf Kosten von Menschenrechtsverletzungen Profite erwirtschaften, in welcher Umweltzerstörung gewinnbringend ist und Verantwortung nur bis zur Landesgrenze reicht. Dringende Fragen werden diesem Herbst Farbe verleihen: Wovon profitiert die Schweiz? Was bedeutet dies für die Rolle der Schweiz in der Welt? Und wie versteht dieses Land Verantwortung; bleibt es bei der stets beschworenen Eigenverantwortung oder beginnt die Schweiz ihre Verantwortung für die Welt zu sehen? Ein «Konzernverantwortungsinitiative JA» am 29. November wäre ein erster wichtiger Schritt, um in dieser Debatte weiterzukommen.

Miriam Helfenstein; *M.H. ist für die Konzernverantwortungsinitiative engagiert.

Mehr Informationen finden Sie auf: www.konzern-initiative.ch