SCHWEIZ :Gedächtnisprotokoll Landquart 24.1.2004

10.06.2004, Veröffentlicht in Archipel 114

Nach der Demonstration in Chur fuhr ich mit dem Zug Richtung Zürich. In Landquart fuhr der Zug normal ein, es war keine Notbremsung spürbar. Ich blieb im Zug sitzen und realisierte Diskussionen über das weitere Vorgehen.

Ein Teil wollte in Landquart bleiben, ein anderer Teil weiter Richtung Sargans oder Zürich. Viele wollten auch einfach nach Hause reisen. An der Zugspitze waren viele Leute versammelt. Nach einigen Minuten gab es ein paar Wasserwerfereinsätze gegen die Zugspitze. Auf dem gegenüberliegenden Perron versammelten sich etwa 10 bis 20 Polizisten.

Einige Leute sagten, wir müssten den Zug verlassen. Doch mir schien das zu gefährlich (Polizei in Kampfmontur und Skins auf dem Bahngelände). Nach einer kurzen Beratung mit anderen Leuten, die ich nicht kannte, entschieden wir uns für das Sitzenbleiben im Zug. Draußen bildete die Polizei einen engeren Kordon um den Zug. Von der Autobahnseite wurden Wasserwerfer und Räumungspanzer aufgefahren. Der Kordon wurde auf dieser Seite verstärkt.

Auch auf der anderen Seite des Zuges marschierten Dutzende von schwer bewaffneten Polizisten auf.

Nach einiger Zeit kamen diese in den Zug und sagten mir auf französisch einen Befehl. Ich verstand diesen jedoch nicht. Ich zeigte diesem das Ticket (Tageskarte) und sagte, dass ich weiterfahren wolle. Er lachte und erwiderte in gebrochenem Deutsch, dass der Zug nicht mehr weiterfährt und wir einige Stunden hier sein werden.

Ich saß im drittletzten Wagen. Die Polizei forderte uns auf auszusteigen. Ich wurde ohne weitere Anweisung in Richtung Zugspitze gedrängt. Die inzwischen rabiat vorgehende Polizei kontrollierte die Leute im Zug und befahl allen auszusteigen.

Während ich mich nach vorne bewegte, sprach ich mit einigen Leuten. Plötzlich wurde gegen uns von der Zugspitze aus Tränengas eingesetzt. Es entstand eine Verwirrung. Plötzlich sah ich wie die vorderen Wagen durch die offenen Fenster rauchten. Es war ein weißer und anschließend beißender Rauch, der sich verbreitete.

Die vordersten zwei oder drei Wagen sahen ziemlich farbig aus, sie waren stark besprayt worden. Da keine Anweisungen gegeben wurden, standen die Leute auf dem Gleis vor und neben dem Zug. Plötzlich hörte ich laute Knalle, was wahrscheinlich Schockgranaten waren. Die Leute schoben sich sofort in Richtung Bahnhofsplatz, der einzige passierbare Weg.

Andere setzen sich auf Anweisung eines Megafons auf das Perron und erhoben die Arme wohl als Zeichen keinen Widerstand leisten zu wollen. Von der Brücke her kamen viele Polizisten und schlugen mit ihren Stöcken auf die Kunststoffschilder. Bei den am Boden sitzenden Leuten schlugen die Polizi-sten wahllos und massiv auf die wehrlosen Leute ein. Ein lautes Geschrei begann, durchsetzt von immer wieder heftigen Detonationen von Granaten. Ich wollte diese Situation fotografieren. Unmittelbar bevor ich das Bild schießen konnte, detonierten wieder Schockgranaten und Tränengaswolken kamen mir entgegen. Ich flüchtete ebenfalls in Richtung Bahnhofsplatz. Mir wurde schlecht und ich bekam panische Angst. Ich fixierte eine weiße Jacke vor mir und versuchte dieser zu folgen. Viele Leute kamen nicht oder nur mit größter Mühe über die Geländer zwischen den Gleisen. Es herrschte eine «Todesangst», die Stimmung erinnerte mich an Fernsehbilder von Massenpaniken.

Die Polizei schoss mit unzähligen Granaten und Tränengaspetarden in Richtung Fluchtweg, also Richtung Bahnhofsplatz. Die Polizei riskierte mit diesem Vorgehen schwere Unfälle. Ich selber hatte das Gefühl, diese Situation und diesen Ort nicht unverletzt zu überleben. Ich konnte während dieser Panik, außer einem Mann, welcher die Geländer nicht überwinden konnte, keine Hilfe leisten.

Völlig erschöpft und in einem gesundheitlich bedenklichen Zustand kam ich auf den eingezäunten Bahnhofsplatz. Hier begann ein Spiel der Polizei. Unter ständiger Androhung wurden die Leute zurechtgewiesen. Während den vielen Stunden im «Kessel» war es überraschend ruhig. Die Leute standen unter Schock, waren erschöpft oder verletzt.

Auf dem Bahnhofsplatz bekam ich von einer mir fremden Person einen Schluck Wasser. Später spülte mir ein Demosanitäter das linke Auge aus, da es stark schmerzte.

Von der Räumung des Zuges bis zur Einvernahme (ca. 16.00 - 23.00 Uhr) gab es keine Verpflegungsmöglichkeiten ­ trotz starkem Durst und Hunger.

Eine Kommunikation mit den Polizisten vor Ort war durch die Sprachbarriere und die Gesprächsverweigerung der Beamten den ganzen Nachmittag und Abend nicht möglich. Gegen 22.30 Uhr wurden einzelne Leute im «Kessel» teilweise schikaniert (Schläge in Bauch und Nierengegend).

Ich verließ den «Kessel» als zweitletzter um ca. 23.00 Uhr.

Bis am Dienstag den 27.1. habe ich starke Kopf- und Bauchschmerzen gehabt, welche wahrscheinlich auf diese Erlebnisse zurückzuführen sind.

D.B.