SERBIEN: Zoran Djindjic und das Prinzip Hoffnung

von Bozidar Jaksic, 17.06.2003, Veröffentlicht in Archipel 106

Die Ermordung Zoran Djindjics war für mich, wie für so viele andere serbische BürgerInnen, eine Schreckensnachricht, die unser Land mit einem Schlag in die düsteren Zeiten der jüngsten Vergangenheit zurück versetzte. Sein Tod reißt nicht nur im politischen, sondern auch – und das möchte ich betonen, weil es oft vergessen wird – im kulturellen Leben Serbiens eine tiefe Wunde. Für mich bedeutet er außerdem einen persönlichen Verlust: Wir waren Kollegen am Institut für Philosophie und Sozialtheorie.

Das hat mich allerdings nie daran gehindert, seine verschiedenen politischen Schachzüge und Manöver – gegebenenfalls auch vehement – zu kritisieren, wie z. B. seine Unterstützung der bosnischen "Serben von Pale". Politisch kann Zoran Djindjic kaum als Nationalist eingeordnet werden und noch viel weniger als Anhänger des Klerikalismus. Dennoch schloss er sowohl mit den Nationalisten als auch den Klerikalen pragmatische Kompromisse. Gedankt wurde es ihm nicht. Während die Rache ersterer ihn das Leben kostete, revanchierten sich letztere damit, selbst seinen Tod noch dem Spott preiszugeben!

Es fiel mir immer schwer, seinen politischen Pragmatismus zu akzeptieren und ich verurteilte diesen scharf. Aber mehr als alles andere bedauerte ich, dass ein Mensch mit solch einem philosophischen Talent seine Zeit in der Politik "verlor". Diesen Verlust für Serbiens Kultur und Wissenschaft möchte ich hervorheben, denn Djindjic hat uns nicht nur den Weg für einen anderen Stil in der Politik geebnet, sondern auch einige ernsthafte Werke – ein gutes Dutzend Artikel sowie mehrere bemerkenswerte Übersetzungen deutscher Philosophen – hinterlassen. Das politische Leben Serbiens hat er nachhaltig geprägt: Dynamik, Effizienz und offener Dialog waren seine Markenzeichen. Dem primitiv-arroganten Machthaberdünkel setzte er die Überlegenheit des Geistes entgegen und die ewig vorsichtigen grauen Apparatschiks forderte er mit seinem Mut zum politischen Risiko heraus.

Was konnte die DOS-Koalition und ihr Premierminister überhaupt bewirken, angesichts der katastrophalen Zustände bei ihrem Amtsantritt, die ihnen die "national-sozialistische" Milosevic-Regierung vererbt hatte? Was hat Djindjic Serbien gebracht und was hat das Land mit ihm verloren? Und: Wie lässt sich folgendes Paradoxon erklären? – Zeit seines Lebens war er in Serbien höchst umstritten; wurde stigmatisiert, ja sogar verteufelt, dementsprechend verurteilt und in der Politik mit einer gehörigen Portion Misstrauen betrachtet. Das alles von den gleichen serbischen BürgerInnen, die dann sehr zahlreich aufrichtige Anteilnahme an seinem Schicksal demonstrierten, als sie von seinem Tod erfuhren. Die Antwort ist einfach, selbst wenn sie widersinnig erscheint – Djindjic hat dem serbischen Volk Hoffnung gegeben! Seine Energie stieß oft ins Leere, die Umsetzung seiner Programme und Strategien war nicht immer erfolgreich, aber er besaß eine unbestreitbare Gabe, die Menschen zu motivieren.

Die Polizei hat rasch und effizient die Spuren verfolgt, die sie zu den Tätern, ihren Helfern und den Hintermännern des Attentats führten. Polizeisprecher und Innenminister haben der Öffentlichkeit erklärt, dass das Verbrechen von einem gewissen "Zemun-Clan" begangen worden sei. Zum jetzigen Zeitpunkt fällt es schwer, die im Laufe der Ermittlungen gesammelten Informationen anzuzweifeln. Hingegen wäre es ein großer Fehler, sich in einer so ernsten Situation – in der es um die Existenz des Staates und einer ganzen Gesellschaft geht – mit auch noch so gründlich geführten polizeilichen Ermittlungen zufriedenzugeben. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob Zoran Djindjic nicht als Sühneopfer der Regierung herhalten musste, an deren Spitze er stand. Die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen selbst weisen in diese Richtung: Der mutmaßliche Attentäter ist der Stellvertreter des derzeitigen Kommandanten der "Einheit für Spezialoperationen" (JNO ) und sein Auftraggeber der Ex-Kommandant der gleichen Sondereinheit. Wenn sich die derzeit zirkulierenden Meldungen bewahrheiten, handelt es sich hierbei um eine bewaffnete Truppe, die weder der jugoslawischen Armee noch dem Innenministerium untersteht und deren Mitglieder der Staatsspitze angehören, wie es ein während des Milosevic-Prozesses in Den Haag vorgeführter Film aufzeigte. Kurz, die serbische Version der südamerikanischen "Todesschwadronen".

Die Frage, die dringend nach einer klaren Antwort verlangt, lautet: Wozu und wem diente diese "Spezialeinheit" und warum wurde sie nach Milosevics Fall nicht aufgelöst? Kann unter diesen Umständen noch vom Zemun- oder sonst einem Clan die Rede sein? Wo es doch um den Staat selbst und seine Institutionen geht und erst in zweiter Linie – sozusagen als Folgeerscheinung – um die Mafia. Was auf dem Spiel steht, ist die gesamte Gesellschaft, und nicht nur die serbische, sondern auch die in der Mehrheit der Balkanstaaten und noch weit darüber hinaus in all jenen Ländern, in denen die organisierte Kriminalität Staat im Staat ist! Die politischen Eliten und auch die BürgerInnen werden nicht umhin kommen, sich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Die Hintergrundfragen des Anschlags – das "warum" und der sorgfältig ausgewählte Zeitpunkt – wurden viel weniger aufmerksam untersucht, als die vordergründigen, wie und von wem der Premier ermordet wurde. Will man schlüssige Antworten auf diese Fragen finden, so bedarf es einer breitangelegten Diskussion und einer umfassenden Analyse, die bis an die Ursprünge der Problematik zurückreicht.

Zuerst einmal gilt es festzustellen, dass das soziale Klima in Serbien einen fruchtbaren Nährboden für diese Art von Verbrechen bietet. Ein Beispiel: Djindjic war der einzige serbische Politiker, der den Mut besaß, Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auszuliefern; und – was ebenso wichtig ist – er war sich der möglichen Konsequenzen seines Handelns bewusst. Bei dieser Gelegenheit kam der aufgestaute Hass von unterschiedlichster Seite wieder an die Oberfläche. Es wäre falsch, die Feinde Djindjics nur unter den AnhängerInnen Milosevics zu suchen: die ethno-nationalistischen und populistischen Milieus gehören ebenfalls dazu. Diese Kreise waren es, die Ivan Stambolic, den ehemaligen serbischen Präsidenten und Vorgänger Milosevics, am hellichten Tag mitten in Belgrad verschwinden und dann liquidieren ließen. Dazu gesellen sich natürlich noch jene, die es verstanden haben, ihren "Patriotismus" so teuer wie möglich an den Bestbietenden zu verkaufen. All diese "anständigen" Leute konnten sich nach der Auslieferung Milosevics in Serbien nicht mehr sicher fühlen. Die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in der neu gegründeten Föderation hat diese Unsicherheit noch verstärkt und die Betroffenen erst recht in ihren kriminellen Plänen bestärkt.

Das zweite "warum" liegt im Entschluss Djindjics, das Kosovo-Problem zu regeln. Man kann davon ausgehen, dass ihm die Überlegungen Leo Trotzkis aus dem Jahr 1912 bekannt waren, denen zufolge das Kosovo für Serbien "den Mühlstein um den Hals seiner Entwicklung" darstellte. Aus seinen eher vagen Andeutungen läßt sich nur schwerlich ableiten, dass er vorhatte, "das Kosovo einfach den Albanern zu überlassen" . Wahrscheinlicher ist die Vermutung, er habe sich einer belastenden Hypothek auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Serbiens entledigen wollen. Mit einer für alle Seiten tragbaren politischen Lösung hätte er aber den Handlungsspielraum sämtlicher "patriotischen" und kirchlichen Akteure sowie aller anderen selbsternannten Verteidiger der "serbischen Oberhoheit" empfindlich eingeschränkt.

Und schließlich hat Djindjic dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt. Im Nachhinein kann man nur mutmaßen, ob ihm dieses Unterfangen gelungen wäre. Die Mafia, die den Staat fest in der Hand hielt, ist ihm mit dem Attentat zuvorgekommen. Ein Detail zeigt, in welchem Ausmaß sie die staatlichen Institutionen durchsetzt hatte: Es heißt, der für den Objektschutz des Hauses von Djindjic zuständige Beamte habe gegen ein bescheidenes Entgelt den Terminplan inklusive Fahrten seines Dienstherren preisgegeben.

Das sind sicher nicht die einzigen Gründe für den Mordanschlag auf Zoran Djindjic. Es gibt noch andere, die unmittelbar mit seiner Person zu tun haben. Dazu nur ein Beispiel: Seine politische Begabung stand seiner philosophischen in nichts nach. Ich war nie unter seinen Anhängern, aber es ist offensichtlich, dass er außerordentliche politische Fähigkeiten besaß. Schwer zu sagen, worin er schneller war, in seiner Art zu denken, zu begreifen oder zu handeln. Jedenfalls hat er seine enormen professionellen und geistigen Kapazitäten in den Dienst seiner politischen Ziele und Ideen gestellt. Er war nicht nur seinen Widersachern, sondern auch seinen Partnern und Nachfolgern haushoch überlegen. Aber er hatte das Pech in einem Land zu leben, das hervorragende Eigenschaften und Überlegenheit nicht verzeiht! Seine politischen Feinde – und nicht nur sie – waren sich bewusst, dass nur eine Kugel ihn aufhalten konnte – und sie haben sie ihm geschickt! Manche unter ihnen bereuen es bereits, denn als politischer Gegner ist ein toter Djindjic gefährlicher als ein lebender. Diese wenigen allgemeinen Bemerkungen lassen erahnen, was Serbien mit Djindjic verloren hat und erklären zumindest teilweise die Kehrtwendung in der Meinung der serbischen BürgerInnen – von der Stigmatisierung zum ehrlichen Mitgefühl – ja vielleicht bis hin zu Unbehagen und Furcht. Denn den Bürger-Innen Serbiens stehen unsichere Zeiten bevor, in wirtschaftlicher, politischer kultureller und auch moralischer Hinsicht. Das organisierte staatliche Verbrechen hat sich Djindjics entledigt, ob sich Serbien der Mafia in den staatlichen Institutionen entledigen wird, bleibt offen. Das entschlossene Vorgehen der Sicherheitskräfte während des Ausnahmezustands bietet keine ausreichenden Garantien, um diese Frage schlüssig zu beantworten. Auch wenn jetzt mit der Jagd nach den Attentätern, den Drogen- und Menschenhändlern, Killern und Schutzgeld-Erpressern ernst gemacht wird, so handelt es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs. Das "Ausmisten des Augiasstalles" in ganz Serbien wird – wenn überhaupt – ein langwieriger, schmerzhafter und widersprüchlicher Prozess, vorausgesetzt es ist der nötige politische oder auch ganz einfach menschliche Wille vorhanden, ihn anzugehen. Die Polizei kann tagtäglich Drogendealer und Geldwäscher festnehmen oder verschiedene Schmugglerringe hochgehen lassen; das ist ihre Arbeit und sie wird sie in Zukunft vermutlich gewissenhafter als bisher machen. Aber was wird aus dem "organisierten" und nicht organisierten Verbrechen innerhalb des Staatsapparates, der Polizei, der Gerichte, der öffentlichen Dienste, der Spitäler, der Universitäten, der Schulen, der Betriebe, der Banken? Ganz zu schweigen von den Gefälligkeiten gegen Bakschisch oder von der ostentativen Untätigkeit und Arroganz, welcher man auf Schritt und Tritt begegnet – von den wissenschaftlichen Institutionen bis zum kleinsten Amtsschalter, an dem die ohnmächtigen BürgerInnen anzuklopfen haben.

Und schließlich: Wann endlich werden die Menschen unseres Landes den Lebensunterhalt ihrer Familien durch ehrliche Arbeit verdienen können? Das ist der Traum vieler Leute in Serbien. Dass solche Zeiten einmal kommen, war mit Djindjic wahrscheinlicher als ohne ihn. Wenn die Aussicht auf diesen Zeitpunkt am serbischen Horizont auftaucht, war Djindjics Tod nicht umsonst. Anderenfalls wird er sich in das große Heer der sinnlosen Opfer einreihen, jener Tausenden Toten, Verschwundenen, unnötig ins Exil Verjagten – ohne Hoffnung und Zukunftsperspektiven. Serbiens BürgerInnen bleibt die Hoffnung, die Zoran Djindjic ihnen gegeben hat, dass Serbien eines Tages nicht mehr von den autistischen und fremdenfeindlichen Kriegsgewinnlern regiert wird und nicht ein Land bleibt, in dem kein Mensch Lust hat zu leben.

Sie werden sich selbst anstrengen müssen, damit diese Hoffnung Wirklichkeit wird.

Bozidar Jaksic* Belgrad

* Bozidar Jaksic ist Professor am Belgrader Institut für Philosophie und Sozialtheorie und ein langjähriger Freund des Europäischen BürgerInnenforums .