SPANIEN: Bitteres Obst und Gemüse

von Raymond Gétaz, 28.02.2015, Veröffentlicht in Archipel 233

Das Engagement des Europäischen BürgerInnen Forums gegen die moderne Sklaverei in der industriellen Landwirtschaft, vor allem mit der Gewerkschaft SOC in Almeria, geht ins fünfzehnte Jahr: Zeit, um Rückschau zu halten und auch Aktuelles zu berichten.

Im Februar 2000 jagten Einwohner der Stadt El Ejido während dreier Tage marokkanische Immigranten mit Baseball-Schlägern durch die Strassen, zerstörten ihr ärmliches Hab und Gut, ihre dürftigen Behausungen und Kultstätten - ein Pogrom, wie es Europa seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Das Europäische BürgerInnenforum (EBF) schickte eine internationale Delegation vor Ort, um die Ursachen und Konsequenzen dieser Ereignisse zu verstehen (siehe den Bericht im Buch: Anatomie eines Pogroms – z.B. El Ejido). Ein deutscher Pfarrer, Mitglied der Delegation, kam zu folgendem Schluss: Die vielen LKW mit der Aufschrift «Almeria» oder El Ejido, die auf den Autobahnen der Schweiz und Europas in Sachen Obst und Gemüse unterwegs sind, transportieren Produkte, die unter den Bedingungen der Ausbeutung und Ausgrenzung produziert wurden. Eigentlich dürften wir diese Tomaten und Erdbeeren aus Spanien nicht mehr essen: Sie werden unter ethisch nicht zu vertretenden Bedingungen erzeugt. Sie werden unter ökologisch nicht vertretbaren Bedingungen erzeugt.
Heute, 15 Jahre später, haben sich die sozialen und ökologischen Bedingungen im Plastikmeer von Almeria nur wenig verändert. Weiterhin treffen wir dort auf Chabolas, Hütten aus Plastik- und Verpackungsabfällen, in denen zahlreiche der Migrant_in-nen wohnen. Immer noch existieren skandalöse Arbeitsbedingungen und skrupellose Unternehmer nützen die missliche Situation der Migrant_innen aus, von denen viele erst durch eine waghalsige Flucht über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind. Das Plastikmeer, diese ökologische Wüste, wächst auch heute noch weiter. Haben die 15 Jahre Kampf gegen dieses unmenschliche Produktionsmonster nichts genützt? Diese Frage stellen sich wohl auch einige unserer Freunde vom SOC (Sindicato de Obreros del Campo, Landarbeitergewerkschaft), unsere Partner vor Ort. Ursprünglich verteidigte die SOC die zahlreichen einheimischen Landarbeiter_innen, die sich in den riesigen Latifundien Andalusiens verdingten. Nach den Ereignissen vom Februar 2000 gründete die SOC eine Sektion in Almeria. Unabhängig von Herkunft, Einreisedatum oder Aufenthaltstatus unterstützte die SOC-Almeria alle Landarbeiter_innen, auch Papierlose, die in den mehr als 17‘000 Betrieben oft unter schlechtesten Bedingungen arbeiteten. Im Gegensatz zum restlichen Andalusien gehörte der Boden in der Region von Almeria Kleinbauern, die oft nur ein bis drei Hektaren Plastiktunnels bewirtschafteten. Seither haben sich aber einige der Unternehmen stark vergrössert.
Wellen im Plastikmeer
Über die Jahre hat die SOC eine solide Gruppe aufgebaut, die sich resolut für die Migrant_innen einsetzte. Dank der finanziellen Hilfe vom EBF konnte die SOC in zwei Hauptzentren der Gemüseproduktion, in El Ejido und Nijar, Anlauf- und Beratungsstellen eröffnen, wo Lehrer_innen mehrheitlich unentgeltlich die Eingewanderten in der spanischen Sprache unterrichteten und über ihre Rechte aufklärten. Mutige Jurist_in-nen der SOC verteidigten die Rechte der Migrant_innen. Akti-vist_innen der SOC organisierten Treffen und Protestmärsche und begleiteten die Migrant_innen bei Arbeitskonflikten zu den Unternehmern in den Gewächshäusern. Über die lokale Ebene hinaus wurde die SOC, obwohl die Gewerkschaft nie mehr als ein Dutzend Aktivist_innen und einige hundert Mitglieder zählte, von den Behörden für ihre Arbeit anerkannt – und von den Unternehmern gefürchtet. Ihr Wirken löste grosse Wellen im Plastikmeer aus, wo sich mehr als 100‘000 Migrant_innen mit unsicheren und unter den gesetzlichen Normen bezahlten Arbeitsplätzen durchschlagen.
Doch wo es Erfolge gibt, sind leider Neid und Missgunst nicht weit. In den letzten zwei Jahren hatten unsere Freund_innen von der SOC mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen. Neben der gewerkschaftlichen Arbeit kam es vermehrt auch zu Kräfte raubenden internen Auseinandersetzungen. Im Jahr 2007 beschloss die andalusische Führung der SOC die Gewerkschaft allen andalusischen Arbeitnehmer_innen zu öffnen und unter einem neuen Namen zu erscheinen: SAT (Sindicato Andaluz de Trabajadores: Gewerkschaft der andalusischen Arbeiter). Einige der neuen Mitglieder in Almeria wollten das bisherige starke Engagement für die Migrant_innen nicht in demselben Umfang fortführen. Es kam zu Intrigen gegen die langjährigen Mitglieder der SOC, wobei auch persönliche Abrechnungen und Machtansprüche mitspielten. Die andalusische Leitung der SAT musste eingreifen und zur Klärung der Situation massgeblich Hilfe leisten. In der Folge wurden die langjährigen Akt-ivist_innen der SOC rehabilitiert. Der Konflikt hat jedoch stark an den Kräften gezehrt und es wird einige Zeit brauchen, bis die Gewerkschaft wieder den Elan findet, welche ihre Kämpfe im Plastikmeer in der Vergangenheit charakterisiert hat.
Bittere Ernte – nicht nur in Spanien
Das EBF informiert seit Jahren die Öffentlichkeit über die schwerwiegenden Konsequenzen der europäischen Agrarpolitik, insbesondere über die Folgen der zügellosen Industrialisierung der Gemüse- und Früchteproduktion. In El Ejido und Almeria sind die sozialen und ökologischen Schäden als Folge dieser Industrialisierung besonders gut sichtbar. In zahlreichen Treffen und mit Zeugenberichten konnte das EBF aber aufzeigen, dass ähnliche menschenverachtende «Produktionsmodelle» in ganz Europa Überhand nahmen: im Anbau von Frühkartoffeln in Sizilien; in den Tomatenpflanzungen für Konserven in Apulien; bei der Ernte von Orangen und Mandarinen in Rosarno in Italien; in den Pfirsich-Plantagen und in der Produktion von Salat und Tomaten in Südfrankreich; im Spargelanbau in Deutschland und Österreich und bei der Erdbeerernte in Griechenland und England.
Als Reaktion auf unsere Protestaktionen bei den Supermärkten und auf die zahlreichen Berichte in den europäischen Medien führten die Grossverteiler eine unübersichtliche Zahl von Gütesiegeln und Zertifizierungen ein, um das Vertrauen der Konsu-ment_innen zurück zu gewinnen. Seither beliefern sie ihre Propagandamedien regelmässig mit Reportagen über die vielen sozialen und ökologischen Fortschritte im industriellen Gemüseanbau und zeichnen so ein völlig falsches Bild der tatsächlichen Zustände vor Ort. Gleichzeitig versuchen sie, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Denn tatsächlich sind es die Supermärkte, welche die Preise bestimmen und deren Gewinnmargen in den letzten Jahren ständig stiegen. Der von ihnen ausgeübte Druck auf die Einkaufspreise fällt schlussendlich vor allem auf das schwächste Glied in der Produktionskette zurück: auf die rechtlosen immigrierten Landarbeiter_innen.
Menschenjagd und Widerstand
Die Ausbeutung der Migrant_in-nen und deren miserable Lebens- und Arbeitsverhältnisse in den Früchte- und Gemüseplantagen sind die direkte Folge davon. Mafiöse Strukturen, Rassismus und Hasstiraden gegen die rechtlosen Ausländer_innen gehören zu den Hilfsmitteln, um jeden Versuch von Widerstand der Migrant_innen zu unterdrücken. Nach dem Pogrom von El Ejido gegen die marokkanischen Einwanderer fand eine ähnliche Menschenjagd gegen Afrikaner_in-nen im Januar 2010 in Rosarno statt und im April 2013 wiederholten sich im griechischen Manolada vergleichbar grässliche Szenen gegen asiatische Land-arbeiter_innen. Diese Bilder einer modernen Sklaverei müssten in den Supermärkten neben den Preisen von industriell angebauten Obst- und Gemüsesorten ausgestellt werden!
In den meisten Ländern, in denen wir mit Papierlosen in der Landwirtschaft in Kontakt kamen, gibt es keine Gewerkschaft, die sich um diese Gruppe von Arbeitnehmer_innen kümmert. Die grosse Distanz zwischen einzelnen Betrieben, die schlechten Bedingungen und die Unsicherheit, in der die meisten rechtlosen Migrant_innen leben, sind gewichtige Hindernisse für gewerkschaftliche Aktivitäten. Dass die SOC in Almeria seit 15 Jahren im Interesse dieser weitgehend schutzlosen Arbeitnehmer_innen handelt, verdient grosse Anerkennung und ist exemplarisch in Europa. Die vielen kleinen Siege, welche die SOC mit ihren gewerkschaftlichen Aktionen erreicht hat, und die erfolgreiche Verteidigung der Rechte von zahllosen Migrant_innen gegen die schlimm-sten Übergriffe sind beachtenswert. Sie bergen die Hoffnung für langfristige Veränderungen in sich.

Aktuelle Konflikte: Prozess gegen Simon Sabio
Im Frühjahr 2013 verschwindet der Unternehmer Simon Sabio, auf dessen 35-Hektaren-Betrieb aus Plastiktunnels 130 Tagelöhner_innen beschäftigt waren, und taucht erst Monate später in Marokko wieder auf – ausserhalb der Reichweite der spanischen Justiz. Er floh vor dem gewaltigen Schuldenberg von 2 Millionen Euro nicht bezahlter Löhne an seine Land-arbeiter_innen. Unlautere Unternehmer zahlen den Papierlosen in der Landwirtschaft oft nur einen Teil des Lohnes aus, um damit diese mittellosen Menschen an ihr Unternehmen zu binden. Jeden Monat findet der Unternehmer neue Ausreden, um nicht den ganzen Lohn auszuzahlen. Die Landarbeiter_innen fürchten, die Ausstände zu verlieren und wagen nicht, das Unternehmen zu verlassen. Die geprellten Landarbeiter_innen in Simon Sabios Unternehmen besetzten einen Teil der Plastiktunnels, konnten jedoch die Besetzung nicht aufrechterhalten. Die juristische Abteilung der SOC verteidigt die Landarbeiter_innen bei den anstehenden Prozessen.

Aktuelle Konflikte: Bio Sol und CuevasBio
Seit mehreren Jahren ist Bio Sol Portocarrero – ein Unternehmen, das Bio-Gemüse anbaut, konditioniert und vermarktet – immer wieder in Arbeitskonflikte mit seinen Angestellten verwickelt. Als im Jahr 2011 die Konflikte in den schweizerischen und europäischen Medien publik gemacht wurden und das EBF zu einer breit angelegten Protestkampagne aufrief, musste das Unternehmen die Arbeitsbedingungen verbessern und den protestierenden Frauen die Zulassung einer Gewerkschaftssektion der SOC im Unternehmen gewähren (siehe Archipel Juni 2011). Seither musste die SOC mehrere Male bei Bio Sol Portocarrero vorsprechen, weil die gewerkschaftlich organisierten Frauen immer wieder im Unternehmen belästigt wurden. Im Juni 2014 strahlte die Fernsehkette ARTE «Bioillusion» aus, einen 90-minütigen Film über die Produktion von biologischen Nahrungsmitteln weltweit. Ein paar kurze Minuten gehen auch auf die Produktionsbedingungen in Almeria ein. Nur wenige Wochen nach der Ausstrahlung des Filmes entliess Bio Sol Portocarrero fünf Frauen, alle Mitglieder von der SOC. Die Frauen hatten während der Dreharbeiten in Almeria über die unannehmbaren Bedingungen in der industriellen Landwirtschaft in der Region berichtet. Laut Bio Sol Portocarrero hätten die Aussagen der Frauen den Betrieb geschädigt, es ist jedoch nahe liegend, dass durch Entlassungen die gewerkschaftliche Sektion zerstört werden soll. Die SOC verlangte die Vermittlung von BioSuisse, da dieses Zertifizierungsorgan die Produktion von Bio Sol für den Verkauf in der Schweiz zertifiziert. Aufgrund der eingeholten Erkundungen setzte Biosuisse provisorisch die «Knospenzertifizierung» aus, worauf Bio Sol sich endlich bereit erklärte, die Verhandlungen mit den entlassenen Frauen und der SOC aufzunehmen. Der Kampf der fünf Frauen und der SOC um eine einvernehmliche und annehmbare Lösung des Konflikts ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beendet.
Sieben Angestellte des Betriebes CuevasBio wurden auf die Strasse gestellt, nachdem sie sich geweigert hatten, eine Konvention zu unterschreiben, ohne diese gelesen und mit der SOC besprochen zu haben. Bis jetzt verweigert das Unternehmen jegliche Diskussion mit den Entlassenen und den Vertreter_innen vom SOC.
Die für Bioprodukte obligatorische Rückverfolgbarkeit ermöglicht es, die sozialen und ökologischen Bedingungen am Produktionsort zu erfassen und Verstösse gegen die Konventionen anzuzeigen. Für den grössten Teil der Früchte und Gemüse aus den Plastiktunneln von Almeria und anderswo, welche konventionell angebaut werden, ist es jedoch fast unmöglich, den Weg zum Produzenten zurück zu verfolgen. Zudem sind die Arbeitsbedingungen im konventionellen Bereich meist schlechter als in den Biobetrieben.