SPANIEN: Ein Land der Maßlosigkeit

von Nicholas Bell (EBF – Frankreich), 27.02.2008, Veröffentlicht in Archipel 157

Drei Monate vor den Parlamentswahlen im März 2008 gab mir ein zweiwöchiger Aufenthalt die Gelegenheit, die Stimmung in Spanien zu spüren. Ein langes Gespräch mit Pedro Arrojo hat das Verstehen sehr erleichtert. Pedro Arrojo ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Zaragoza und die Hauptantriebskraft im Kampf für eine neue Wasserkultur1 . Alle Zitate in diesem Text sind Aufzeichnungen eines Gesprächs mit ihm.

Spanien erweckt oft den Eindruck der Maßlosigkeit. Während einer zweiwöchigen Reise im Dezember 2007 konnte ich einige Beispiele dafür sehen: das berüchtigte Plastikmeer in der andalusischen Provinz Almeria (die größte Konzentration von Gewächshäusern, in denen industriemäßig Gemüse produziert wird); Millionen von Olivenbäumen, die sich, soweit das Auge reicht, in den Provinzen von Sevilla und Jaen ausbreiten; Baukräne, die über unzähligen Baustellen kreisen (schätzungsweise befindet sich die Hälfte aller Neubauten der EU in Spanien); die Träume gewisser Investoren, ein riesiges Las Vegas in einer ausgetrockneten Zone der Provinz Aragon zu erschaffen und Zehntausende von Katholiken in den Straßen von Madrid, um «die christliche Familie zu verteidigen».**

In politischer Hinsicht ist die Stimmung äußerst gespannt und polarisiert. Dies lässt sich zum Großteil auf die aggressiven Äußerungen der Volkspartei (Partido Popular /PP) zurückführen, die ihre Wahlniederlage im März 2004, die sie einige Tage nach den Attentaten in Madrid einstecken musste, nie akzeptiert hat. Der harte Flügel, der auch der katholischen Kirche nahe steht, erhält stetigen Aufwind und trägt seine Kampfthemen mittels riesiger Demonstrationen in die Straßen: gegen Abtreibung und homosexuelle Ehen, gegen den Versuch der Regierung, den Laizismus im Bildungsbereich zu verstärken oder gegen Verhandlungen zur Suche nach Lösungen für das Baskenland… Laut Pedro Arrojo «hat die Rechte aus institutioneller Sicht eine richtig verantwortungslose Strategie entwickelt, um Spannung zu schaffen. Sie hat das Vertrauen der Bürger in die Justiz und in die Polizei gänzlich untergraben. Alles ist recht, um die politische Stabilität zu schwächen. Wäre das 20 Jahre früher passiert, zu einer Zeit, als die Demokratie noch auf wackeligen Beinen stand, hätte man mit einem unmittelbar bevorstehenden Staatsstreich rechnen können. Es ist eine erschreckende Haltung.»

Bruch des Konsenses

Der in der Übergangszeit nach dem Tod Francos herrschende Konsens existiert heute nicht mehr. Diesem Konsens zufolge unterlagen gewisse politische Fragen einem minimalen Einverständnis zwischen den Parteien, fern aller politischen Polemiken. Darunter fielen die Themen Terrorismus, Immigration und die Baskenfrage.

«Das Verhalten der PP bringt Dinge an die Oberfläche, die sicherlich schon vorher existierten, aber der Enthusiasmus und die Aggressivität der extremen Rechten innerhalb der PP waren versteckt. Die Kirche steht immer mehr unter dem Einfluss des Opus Dei und des Vatikans. Diese Kirche hatte ein gewisses Schuldgefühl auf Grund ihres Verhaltens unter dem Franco-Regime. Nun wird sie plötzlich wieder sehr konservativ und aggressiv gegenüber dem bekenntnisneutralen Staat. Mittels eigener öffentlicher Medien wie Radio Cadena Cope bezieht sie Stellung an einer extrem rechten radikalen Oppositionsfront gemeinsam mit dem harten rechten Flügel der PP und fordert die Menschen auf, unter jedem Vorwand in den Straßen zu demonstrieren».

Ein letztes Beispiel: Am 30. Dezember 2007 organisierte das Erzbistum von Madrid eine Demonstration für die Verteidigung der «christlichen Familie». Es wurde per Video-link eine Botschaft des Papstes übertragen, Videos über Papst Johannes-Paul II gezeigt, und in einer Reihe von Ansprachen griffen Kardinäle und Bischöfe heftig die Regierungspolitik in verschiedenen Bereichen an. Agustin Garcia-Gasco, Kardinal von Valencia, hat zum Beispiel behauptet, dass «die radikale Bekenntnisneutralität (Laizismus) zur Auflösung der Demokratie führen könnte». Vor der politischen Kundgebung gaben die Organisatoren bekannt, sie erwarteten eineinhalb Millionen Menschen. Am folgenden Tag nahmen sie sogar zwei Millionen für sich in Anspruch, aber laut der großen spanischen Tageszeitung El Pais waren es nicht mehr als 160.000 Demonstranten: eine aggressive Kirche, die immer mehr die politische Sphäre besetzt, die aber anscheinend mehr bellt als beißt…

El Pais 2 nennt diese kirchliche Strömung «die Teocons». Sie wolle ihre Sicht der Gesellschaft aufzwingen, obwohl in Spanien nicht mehr als 30 Prozent praktizierende Katholiken übrig bleiben. Im Land sind auf Grund der starken Einwanderung der letzten Jahre zunehmend verschiedenste Religionen vertreten.

Die kürzliche Seligsprechung von etwa 500 katholischen Priestern, die während dem spanischen Bürgerkrieg von den Republikanern getötet wurden, trägt zu dieser polarisierten Stimmung bei, wenn auch offiziell die Entscheidung im Vatikan gefasst wurde. In der Übergangszeit gab es den Konsens darüber, geschichtliche Ereignisse ruhen zu lassen, aus Angst, den Aufbau der Demokratie zu gefährden. Heute, 30 Jahre später und zum ersten Mal, ist eine öffentliche Debatte über das «geschichtliche Gedächtnis» in Gang gekommen. Das Geschichtsbild soll der Wahrheit näher gerückt werden: Es wird daran erinnert, dass es sich 1936 unzweifelhaft um einen militärischen Staatsstreich gegen eine gewählte Regierung gehandelt hat und nicht einfach um ein Land, das sich in zwei Lager gespalten hatte, die beide Missbräuche und Brutalitäten verübten. Es geht auch darum, einen verschärften Blick auf das diktatorische und rückschrittliche Wesen des Franco-Regimes zu richten.

El Pais vom 7. Januar 2008 zufolge wissen die spanischen Studenten mehr über das Nazi-Regime und die chilenische oder argentinische Diktatur, als über die Realität der Franco-Diktatur. Am 31. Oktober 2007 nahm das spanische Parlament ein Gesetz an über das historische Gedächtnis, dem zufolge die Opfer des Franco-Regimes anerkannt werden und die Verurteilungen von Demokraten durch die Franco-Justiz aufgehoben werden. Doch so wie immer noch Straßen den Namen Francos tragen, sind die Opfer der Diktatur immer noch nicht anerkannt.

Die PP widersetzt sich als einzige Partei diesem Gesetz: Es sei darin Revanchismus und Konfrontationslust zu erkennen. Um zu begreifen, wie hartnäckig sehr rechte Kreise und die Kirche im Abstreiten der historischen Realität sind, muss man wissen, dass «im Baskenland die Priester, die dem republikanischen Lager angehörten, von den Anhängern Francos getötet wurden. Als man forderte, diese republikanischen Geistlichen in den Prozess der Seligsprechung aufzunehmen, wurde dies verweigert.»

Das aggressive Verhalten hat äußerst schwere Folgen auf die Baskenfrage. Die PP beharrte auf einer unerbittlichen Position in Bezug auf Verhandlungen. «Die Extremen reichen sich die Hände. Auf gewisse Art gab es eine politische Übereinstimmung oder ein stillschweigendes Bündnis, denn weder die ETA noch die PP waren daran interessiert, dem positiven Beispiel Nordirlands zu folgen und dem Dialog, den die spanische Regierung mit der baskischen Regionalregierung begonnen hatten, eine Chance zu geben. Das Resultat war ein Desaster. Es gab Probleme, das wusste jeder, aber man ging vorwärts. Die PP bombardierte die Regierung mit Parolen auf Großdemonstrationen in den Straßen, sie würde einen Dialog mit Kriminellen führen. Innerhalb der ETA gab es widersprüchliche Haltungen, und schließlich setzte sich die härteste Fraktion durch; möglicherweise die der Jüngeren am wenigsten Erfahrenen. Das hatte nicht nur zur Folge, dass der Flughafen von Barajas in die Luft flog, damit ging auch die Hoffnung verloren, einen Dialog des Friedens im Baskenland zu erreichen.»

Eine andere Frage lässt die Aktivisten der rechten Nationalisten auf die Straße gehen: die Dezentralisierung und der jeweilige Status der 17 autonomen Regionen3. Die Entscheidung der Zapatero-Regierung, einen Status für Katalonien anzuerkennen, der mehr Befugnisse verleiht, war sehr umstritten. Vergangenen 29. Dezember unterzeichneten die baskische, die galizische und die katalonische Regionalregierung auf dem Rasen im Athletikstadion von Bilbao die Erklärung von San Mamés . Darin verlangten sie die internationale Anerkennung ihrer respektiven «nationalen» Sportmannschaften. Im Laufe des ganzen Tages handelte es sich bei den Forderungen immer weniger um sportliche Belange. Tausende Demonstranten riefen lautstark nach Unabhängigkeit. Viele Menschen, mit denen ich sprach, denken, dass diese Frage, ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung im Lande, der empfindliche Punkt ist, der für den Ausgang der nächsten Wahlen den Ausschlag geben wird.

Korruption und Spekulationswahnsinn

Seit dem Eintritt in die Europäische Union erlebt Spanien eine überwältigende wirtschaftliche Expansion. Der Bausektor ist am meisten von Spekulationswahnsinn und einer allgemein verbreiteten Korruption gezeichnet. Seit einigen Jahren versprechen Unternehmer den Spaniern, aber auch Kunden aus Nordeuropa die Möglichkeit, Wohnungen zu kaufen und gleichzeitig 15 bis 20 Prozent Gewinn pro Jahr zu machen (jährliche Preissteigerung für Immobilien). «Es ist wie Krebs. Die Großen haben viel zu gewinnen, aber auch die Kleinen können Geld verdienen, weil ein kleines Stück Land, das plötzlich Bauland wird, dir zehnmal mehr einbringt, als Du erwartet hast. Viele Leute sind dieser Urbanisierungsspekulation verfallen.»

Heute wird mehr und mehr von der Gefahr gesprochen, die Seifenblase der Immobilienspekulation könnte zerplatzen. Der Bau mit öffentlichen Geldern macht 42 Prozent des spanischen Bruttoinlandprodukts aus4. Waren es bisher nur die Ecologistas en accion , beginnen nun auch andere Kreise, die wahnsinnige Betonlobby und die damit verbundenen unseligen Auswirkungen für die Landschaft und vor allem für die Küste anzuprangern. 36 Prozent der spanischen Küste ist bereits verbaut und noch 11 Prozent sind «urbanisierbar».

Im Oktober 2007 kündigte die Umweltministerin Cristina Narbona eine «Schocktherapie für die spanische Küste an, einen Pakt gegen das wilde Zubauen 5 ». Dieser Plan sieht die «Rückgewinnung von 776 Kilometer der Mittelmeerküste» vor. Dies bedeutet das Abreißen von Tausenden von Hotels, Bungalows, Etagenhäusern und Swimmingpools, die auf illegale Weise gebaut wurden und in einer Zone liegen, die nur 100 Meter vom Strand entfernt ist.

Aber im Spanien der autonomen Gemeinden ist die Zuständigkeit der Zentralregierung in diesem Bereich begrenzt. Noch dazu bekommt die Ministerin von ihren Kollegen nur wenig Unterstützung bei ihrem Vorstoß.

Den besten Beweis für die krassen Widersprüche innerhalb der sozialistischen Partei, was den Bausektor betrifft, liefert ein völlig wahnsinniges Projekt, das kürzlich ein britischer Konzern ankündigte, und das von der sozialistischen Regionalregierung von Aragon und dem Industrieminister in Madrid unterstützt wird. Es handelt sich um Gran Scala , das größte städtebauliche Projekt Europas und liegt im Verwaltungsbereich Huesca in der Provinz von Aragon im Osten Zaragozas. Geplant sind 32 Casinos (nur in Las Vegas gibt es mehr davon), 232 Restaurants, 70 Hotels, ein Golfplatzgelände, einen Aquapark für 100 000 Einwohner – das Ganze auf 2000 Hektar ausgetrockneter Erde im Ödland von Monegros. Die Bauvorhaben sollten im dritten Quartal 2008 beginnen und bis ins Jahr 2023 dauern. Es soll der größte Freizeitkomplex der Welt und die touristische Hauptattraktion für jährlich 25 Millionen Besucher auf der Iberischen Halbinsel werden. Fachleute rechnen mit einem jährlichen Wasserbedarf für ein derartiges Wunderwerk von 800 Hektokubikmetern. Dieses Wasser käme vom ganz nahe fließenden Ebro.

Diesbezüglich sollte man sich erinnern, dass es eine der ersten Entscheidungen der Sozialisten nach ihrem Regierungsantritt im Jahr 2004 war, die geplante Umleitung eines Großteils des Ebros zu annullieren. Damals sollten jährlich 1000 Hektokubikmeter - also kaum mehr als der Bedarf von «Gran Scala» – zu den neuen Touristenstädten an der Mittelmeerküste und für die industrielle Landwirtschaft zwischen Valencia und Almeria umgeleitet werden. Einer der angeführten Gründe war die Dringlichkeit, das Ökosystem des Ebro und seines Deltas zu schützen.

In Aragon ist auch eine andere Riesenbaustelle am Laufen, diesmal in Zaragoza, und von denselben sozialistischen Regional- und Zentralregierungen beschlossen. Hier wird für die Weltausstellung 2008 gebaut, die zwischen dem 15. Juni und 15. September in der Hauptstadt von Aragon stattfindet. Das Thema der Expo 2008 lautet: Das Wasser und der nachhaltige Umgang damit. «Das ist der reinste Widerspruch, ich bin beschämt. Wir leben in einem Land und in einem System, in dem die Argumente der alternativen Bewegung anerkannt sind, weil man den Klimawechsel und das Desaster im Wasserbereich nicht abstreiten kann. Man ist gezwungen, die Probleme von Hunger und Ungleichheiten zu sehen, aber gleichzeitig macht man in einem Land, das zu schnell reich geworden ist, weiter in der Logik des einfach gewonnenen Geldes. Wird man zu schnell reich, geht die kollektive Intelligenz und Sensibilität verloren, und wir sind an diesem Punkt angekommen.

Im 21. Jahrhundert ein Las Vegas zu bauen, möglicherweise findet dabei Geldwäscherei statt, - es geht um 17.000 Millionen Euro - mitten in einer Wüste und noch dazu so etwas Vergängliches wie Las Vegas. Das Schlimmste daran ist, darauf stolz zu sein, das betrübt mich tief. Ebenso tief betrübt es mich zu sehen, wie die Spekulanten unsere Regierung in Begeisterung versetzen.»

Folglich könnte man denken, dass der Ausgang der Wahlen im März 2008 sich auf diesen Bereich kaum auswirken wird, da Korruption und Bauwahn eine Realität im sozialistischen wie im Lager der Rechten sind. Man muss hingegen hoffen, dass der harte Flügel der Rechten, die mit den Bischöfen verbündet ist, nicht wieder an die Macht kommt. Die meisten meiner Gesprächspartner in Spanien denken, dass die Sozialisten einen kleinen aber ausreichenden Wahlsieg erringen werden, da die PP nur die schon überzeugten Wähler bestärkt, aber gleichzeitig riskiert, die Wähler der Mitte zu verlieren, die für jeden Wahlsieg Ausschlag gebend sind.

  1. Katalonien, das Baskenland und Galizien haben den Status der «großen Autonomie», der ihnen mehr Verfügungsgewalt zuspricht als den anderen autonomen Regionen.

  2. Presseschau des «Blog immobilier » vom 24. April 2007

  3. El Pais , 29. Oktober 2007