SPANIEN: Löcher im Grenzzaun

von Nico Sguiglia*, 11.04.2010, Veröffentlicht in Archipel 145

Die Ereignisse vom 29.August 2005 in Ceuta und Melilla provozierten einen Schock: Beim Anblick der toten Körper der beiden Afrikaner, welche die Guardia Civil erschlagen und dann auf die andere Seite der Stacheldrahtverhaue geworfen hatte, haben die Menschen durch das Fernsehen realisiert, mit welcher Grausamkeit das Grenzregime versucht, die Einwanderer zurückzuhalten und zu disziplinieren.

Seit Jahren verfolgt das Migrantenkollektiv Entransito aus der Nähe, wie sich die Einwanderer südlich der Saharawüste, in den Lagern und an der Grenze organisieren: ihre Diskussionen, ihre Strategien, ihre Mittellosigkeit, aber auch ihre erstaunliche Fähigkeit, die Grenzverwaltung in Schach zu halten. Nach den Morden vom 29.August wollten wir physisch am Ort des Konfliktes erscheinen, um zu beweisen, dass wir zahlreich sind, die diese Barbarei nicht akzeptieren. Wir waren vierhundert Menschen, die gegen die Stacheldrahtlinien marschierten. Das war im Herbst 2005. Ein Bewohner von Ceuta schrie uns zu: «Schaut doch, was die, die ihr verteidigt, in den französischen Vorstädten anstellen! Seht, was sie in unseren Städten machen werden, wenn wir sie erst hereinlassen!» Angefangen hat es mit informellen Diskussionen. Nach und nach reifte die Idee, und wir begannen eine Diskussion via Internet auf spanischer und später auf europäischer Ebene. Der Erfolg dieser Initiative zeugt von einer versteckten Kraft: Wir sind eine Art offene Gemeinschaft, flexibel, die jedoch die Notwendigkeit, sich zu organisieren, beinhaltet. Das Projekt konnte innerhalb von zwanzig Tagen konkretisiert werden, dank der Anstrengungen der Freunde aus Malaga, Madrid, Granada, Sevilla, Ceuta, Tanger, Barcelona, Galizien, Frankreich, Italien, Deutschland und Schweden. Unsere Ziele kann man in zwei Bereiche gliedern: Einerseits wollen wir im öffentlichen Bereich aktiv und an Ort und Stelle für die Migranten, welche die wirklichen Akteure im Kampf für die Bewegungsfreiheit sind, präsent sein. Andererseits sollte der Marsch auf die Todesgrenze als Katalysator wirken. Es ging uns darum, ein offenes «wir» zu zeigen, mit offenem Visier zu kämpfen. Ich gebe zu, dass wir die Realität in Ceuta nicht kannten. Die offene Feindlichkeit von 70% der Bevölkerung gegen unsere Initiative machte uns Angst. Zum Glück ist niemand gegen uns gewalttätig geworden. Angenehm überrascht waren wir jedoch über die volle Unterstützung der Bevölkerung arabischer Herkunft. Das zeigt die Polarisierung dieser Stadt, in der ein Teil der Bevölkerung, der auf Grund seiner Herkunft an den Rand gedrängt wird, in unserem Marsch einen Widerhall seiner historischen Forderungen gefunden hat. Die Bilanz davon ist in jeder Hinsicht positiv: Der Marsch hat die Resignation ins Wanken gebracht. Die Zusammenarbeit und die kollektive Intelligenz, die Entschiedenheit, etwas zu unternehmen trotz ungünstiger Bedingungen, ohne Sicherheiten, aber mit einer klaren Stellungnahme, haben uns ermutigt, noch andere gemeinsame Möglichkeiten auszuprobieren. Trotz des Konzeptes «Festung Europa» kommen zahlreiche Einwanderer über die Grenze, die sich in den Bahnen der Ausbeutung in genau definierten Gebieten einfügen. Offensichtlich geht es also nicht darum, die Menschen davon abzuhalten, einzuwandern, sondern darum, dass sie sich in konkrete Kreisläufe integrieren und diese unter keinem Vorwand verlassen. Die Gewalt an der Grenze - die Militarisierung, der Unfallstod und der Mord - sind der Ausdruck einer Methode des Managements, die eine permanente Ungleichheit generiert und zu reeller Rassentrennung führt. Sie ist dazu da, um jeglichen Versuch, aus den gewohnten Bahnen auszubrechen, zu verurteilen und zu bestrafen. Es handelt sich um einen Kampf um Zahlen, bei dem uns, einmal mehr, der Krieg als die beste Regierungsform präsentiert wird.

Opfer oder Akteure?

Die Vorgehensweise für die Regularisierung der Ausländer ohne Aufenthaltsstatut (sin papeles ), die von der Regierung Zapatero in Gang gebracht wurde, gibt uns zu denken. Der Zugang zur Legalität bleibt zwingend gebunden an einen Arbeitsvertrag. Der staatliche Gesprächspartner im administrativen Verfahren ist der Arbeitgeber. Im ersten Jahr ist die Mobilität des eingewanderten Arbeiters beschränkt, danach reguliert der Staat seine Ortswechsel, je nach Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Man spürt bei den Migranten die Angst, die diese Zuweisung zu einem Sektor oder zu einer speziellen Provinz hervorruft. Der Beweglichkeitsverlust wird wie ein Angriff auf ihre Menschenwürde empfunden. «Wenn wir im Meer ertrinken, sind wir arme Neger. Aber wenn wir uns gemeinsam organisieren um zu überleben und die Grenze zu passieren werden wir zu einer Mafia», erklärte ein Senegalese, der von der marokkanischen Polizei in die Wüste deportiert wurde und gerade dabei war, sich auf die Kanarischen Inseln einzuschiffen, einem Journalisten. «In beiden Fällen weigern sie sich, uns als Gleichberechtigte zu betrachten.» Der Migrant in der Opferrolle ist im linken, universitären Milieu nach wie vor ein stehender Begriff. Klar ist, dass die Migranten Opfer des sozio-ökonomischen Desasters des Kapitalismus sind. Sie alle sind Flüchtlinge dieses Krieges. Doch wir sollten das Einwanderungsphänomen als eine der mächtigsten sozialen Bewegungen unserer Zeit ansehen, die fähig ist, nationale Grenzen zu durchbrechen, wirkliche Zusammenarbeit zu beweisen, Netzwerke von einer Effizienz aufzubauen, von der wir hier nur träumen können. Die Einwanderer in einer Opferrolle zu belassen, ist Teil eines von der europäischen Sozialdemokratie entwickelten Aufgebots an Fürsorge und Vermittlung, die sie daran hindert, selber zu sprechen. Für uns ist es eine Herausforderung, Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Migranten und der lokalen Bevölkerung, die auch unter der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen leidet, zu schaffen. Wir diskutieren darüber mit den Migranten von Ceuta und Melilla:

Wege zur Freiheit

Die Prekarität breitet sich aus. Wenn ich Arbeit suche, habe ich das Gefühl, mein Leben sei ein unzusammenhängendes Puzzle. Ich klammere mich an einen immer abstrakter werdenden juristischen Rahmen (Tarifvertrag, Mindesteinkommen, Status…). Aber eigentlich sagt mir das nichts. Und die freie Zeit wirft mich in die Stadt, wo ich nach Orten suche, nach Treffpunkten, nach Ereignissen, nach Anzeichen eines gemeinsamen Lebens. Ich schaue die Leute an, folge ihrem schnellen Schritt, ihren angespannten Körpern. Wie soll man denn ein «wir» definieren in diesem Ozean von Einsamkeiten? Welche Elemente definieren meine Identität? Was decken heutzutage die Begriffe «Migrant», «Einheimischer» und «Bürger»? Mit der Globalisierung breitet sich das Gefühl des Unwohlseins aus. Hinter der gut gemeinten Redekunst der nichtstaatlichen Organisationen und der Institutionen bleibt am Ende des Labyrinthes der Fürsorge nur Resignation. Zur Zeit der Sklaverei flüchteten Tausende von Afrikanern. Die ersten Flüchtlinge wurden zu Wegbereitern der Freiheit. Der erste Pfad wurde dann zu einem geheimen Netz, das aus einem Signalsystem, Verstecken, Rückzugsgebieten, Informationsstellen und Transportmitteln bestand. Eine ganze Einrichtung im Dienste der Flucht war entstanden, für welche die geflüchteten Sklaven, aber auch weisse Frauen und Männer, sowie freie Schwarze und einige indianische Stämme zusammenarbeiteten. Vergleichbare Netzwerke existieren auch in der heutigen Migration. Zu Beginn vieler Sklavenaufstände in den Plantagen der Karibik, trafen sich die Verschwörer in den Spelunken am Hafen. Diese verrufenen Orte wurden so zu Brutstätten neuer Gemeinschaften. Heute treffen sich die Migranten auch in diversen Kneipen und an anderen, wechselnden Orten.

Im März 2003 veröffentlichte Tony Blair ein seit Jahren vorbereitetes Projekt: Es sollten in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten von der Europäischen Union finanzierte und kontrollierte Auffanglager für die Migranten errichtet werden. Es geht darum, die Brutalität der Schengener Grenze in Länder mit biegsameren «Garantien für Demokratie» zu bringen. Die Auffanglager und die Ausweisungen spielen eine wichtige Rolle in der Immigrationsverwaltung; ihre wesentliche Aufgabe ist es jedoch, Angst zu verbreiten. Die Grenzen (externe, interne und sogar die mitten in uns) haben eine Schlüsselfunktion im produktiven System. Es geht hier um einen Konflikt ohne Waffenstillstand zwischen der Selbstständigkeit der Migrationen und der Gefangennahme der Wanderarbeit. Straftat ist keine nötig. Ein behördlicher Fehler (keine Aufenthaltsgenehmigung) reicht, um ins Gefängnis geworfen zu werden. Es ist ganz wichtig, im Kampf für die Bewegungsfreiheit diese Guantanamos in unseren Städten sichtbar zu machen. Es gab bereits Präzedenzfälle von Ausbrüchen in Italien, Australien und in Deutschland, dazu Erfahrungen in Abbau und Schliessung von Auffanglagern auf Grund von sozial legitimierten Aktionen. Auf was warten wir noch?

Nico Sguiglia*

*Einwanderer aus Argentinien; er gehört zu einer neuen Generation von Aktivisten, die ihr Engagement an Ort und Stelle mit der Arbeit in kybernetischen Netzwerken verbinden. Als Mitglied des Migrantenkollektivs Entransito war er Mitorganisator des Europäischen Marsches gegen die Todesgrenze von Ceuta und Melilla in den beiden spanischen Enklaven im Norden Marokkos.

Der Artikel besteht aus Äusserungen von Nico Sguiglia, zusammengestellt von Nicolas Arraitz, der Monatszeitschrift für Kritik und soziale Versuche CQFD. Auszüge aus «Movimiento contra la frontera. Miggraciones hacia una nueva ciudadania», mit Javier Toret, Contrapodor, März 2006, «Fronteras interiores y exteriores» (http://revistacontrapodor.net) und der Revue Dinamo vom 25. November 2005, verfügbar auf Indymedia-Malaga.