Spartacus und der Sklavenaufstand

von Valentina Malli, EBF, Tonino Perna, Ökonom und Soziologe sowie Förderer des Spartacus-Projekts, 01.07.2019, Veröffentlicht in Archipel 283

Spartacus, empört über die unmenschlichen Bedingungen, unter denen er und die anderen Gladiatoren festgehalten wurden, beschloss zu rebellieren und wurde der Führer einer der grössten Sklavenrevolten im alten Rom. Wir waren im Jahre 73 v. Chr. Heute zielt das Pilotprojekt Spartacus, das wir in diesem Artikel vorstellen, auf die Befreiung der neuen Sklav·inn·en ab: Migrant·inn·en, die in den Slums dieses höllischen Bermudadreiecks in Süditalien – zwischen Rosarno, San Ferdinando und Gioia Tauro – leben, in dem sämtliche Überreste von Menschlichkeit verloren gegangen sind. Träger·innen des Spartacus-Projekts sind der Verein Interculturale International House, die Monatsschrift Altreconomia, die Stiftung Vismara und die Genossenschaft Chico Mendes. Das Projekt Spartacus will in einer ersten Phase mindestens zwanzig der Geflüchteten, die in den Slums unter völlig unwürdigen Bedingungen leben, aus diesem Teufelskreis herausholen. Ausgewählt unter denjenigen mit den schwierigsten Lebensbedingungen werden sie während eines drei-monatigen Praktikums von einem Netzwerk verschiedener Verbände, Unternehmen und Kooperativen, welche die sozialen Rechte achten, betreut. Zuerst wird entweder eine berufliche Ausbildung eingeleitet, indem man den für die Person am besten geeigneten Arbeitsplatz findet, oder aber eine sozial-kulturelle Schulung, insbesondere eine sprachliche, denn das Erlernen der italienischen Sprache ist eine notwendige Grundlage für die Sozialisierung. Im Anschluss daran wird ein Arbeitsvertrag abgeschlossen. Durch dieses Pilotprojekt wird es möglich sein, aufgetretene Schwierigkeiten zu ermitteln, um damit das Verfahren zu verbessern und ein neues, umfassenderes Projekt zu formulieren, an dem viel mehr Menschen in den Gebieten Rosarno in Kalabrien, Nardo in Apulien und Comiso-Vittoria in Sizilien teilnehmen können. Ziel dieses nächsten Schrittes ist es, rund 300 Migrant·inn·en aus den Slums und Ghettos herauszuholen, ihnen ihre Würde zurückzugeben, das Netzwerk der Solidarwirtschaft auszubauen und Allianzen mit den ökologischen Verbänden des biologischen und biodynamischen Landbaus zu bilden. Es ist auch beabsichtigt, lokale Institutionen wie kleine Berggemeinden einzubeziehen, wo die Entvölkerung seit Jahrzehnten ein scheinbar unvermeidlicher Prozess ist. Im Mezzogiorno (der südliche Teil Italiens inklusive seine Inseln) sind mehr als 30 Prozent des Berglandes verlassen, das früher für den Anbau von Getreide, Olivenbäumen und Wein genutzt wurde. Emblematisch für die aktuelle Zerstörung natürlicher Ressourcen und Lebensgrundlagen – in einer Zeit, in der hochwertige Lebensmittel immer seltener werden – erscheint diese Entwicklung noch absurder. Es handelt sich um ein grosses Kulturgut, das im Laufe der Jahre durch den Klimawandel, die Nutzung durch die industrielle Landwirtschaft und das exponentielle Wachstum von Betonflächen verloren geht.

Andere Möglichkeiten schaffen

Spartacus will einen alternativen Agrar- und Ernährungssektor schaffen, der zeigt, dass eine andere Wirtschaft möglich ist, im Gegensatz zum Kapitalismus, der Natur und Menschen brutal ausbeutet. Es geht darum, aufzuzeigen, dass es in unserer Macht steht, ein Projekt der Erneuerung auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene zu formulieren, gerade auch dank der Mitarbeit von Migrant·in-n·en. Es sei daran erinnert, dass Kalabrien in den letzten zwanzig Jahren zwei Gesichter gezeigt hat: das eine ist das von Riace, das heute weltweit als das offene Dorf für Geflüchtete bekannt ist, das dank der Migrant·inn·en zu neuem Leben fand. Das andere ist die greifbare, beschämende und schreckliche Realität von Slums, Zeltstädten und verlassenen Hütten, in denen die Eingewanderten leben. In Rosarno und Umgebung gibt es fast 3‘500 Saisonarbeiter·in-nen, die den Produzent·inn·en von Orangen, Clementinen und Kiwis in der Region als Arbeitskräfte zu sehr niedrigen Preisen zur Verfügung stehen. Acht Jahre nach der grossen Revolte der eingewanderten Landarbeiter·innen in Rosarno und in der nahen Ebene von Gioia Tauro sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Ghetto der Wanderarbeiter·innen nahezu unverändert geblieben.1 Trotz der damaligen Proteste gegen inakzeptable Ausbeutung, Übergriffe und Misshandlungen dauert die verzweifelte Situation bis heute an. Neben dem von der Präfektur errichteten Zeltlager, das fast 400 Migrant·inn·en ermöglicht, mehr oder weniger anständig zu leben, hausen weitere 2‘000 Menschen weiterhin unter skandalösen Bedingungen.

Brutalste Ausbeutung

Die Ermordung des malischen Gewerkschafters Soumaila Sacko im Mai 2018 und die zahlreichen Brände, bei denen eine junge Nigerianerin, Becky Moses, und ein junger Senegalese, Moussa Ba, umkamen, hat das Leben der Migrant·inn·en zusätzlich zur Hölle gemacht. In der Ebene von Gioia Tauro (ehemalige Schwemmebene, die regenreichste tyrrhenische Zone Süditaliens) sind die klimatischen Bedingungen sehr schwierig. Die kalten und nassen Winter müssen die Migrant·inn·en in Slums zubringen: in Zeltlagern, die im Schlamm versinken, oder unter Plastikplanen und Wellblech-Resten als Obdach – ohne Sanitäranlagen, fliessendes Wasser oder Strom. Diese Menschen sind, trotz ihres Durchschnittsalters zwischen 20 und 30 Jahren, stark von Krankheiten betroffen, da sie den ganzen Tag über im Schlamm und in der Feuchtigkeit leben müssen. Für mehr als zehn Stunden Arbeit am Tag werden sie bloss mit zwanzig Euro bezahlt. Es handelt sich um brutale Ausbeutung, die sich von oben nach unten bis zu den Migrant·inn·en durchgesetzt hat; sie sind das letzte Glied einer Kette. So ist es beispielsweise das grösste multinationale Unternehmen im Lebensmittelsektor, Nestlé, (Produzent des Orangengetränks Fanta), das Orangen aus Rosarno für 8 Cent pro Kilo einkauft. Um diesen Preis zu ermöglichen, beutet der kleine Plantagenbesitzer, der vom multinationalen Unternehmen ausgebeutet wird, wiederum den Arbeiter/die Arbeiterin aus. Wenn wir dazu die unmenschliche Härte einiger Vorarbeiter und die Untätigkeit der Institutionen hinzufügen, ist das Bild vollständig. Wenn wir wollen, dass Riace auf der einen Seite neu auflebt, dann können wir auf der anderen Seite nicht unsere Augen vor dem Schandfleck Rosarno verschliessen, der zu Italien und zu Europa gehört. Um dieser dramatischen Situation ein Ende zu setzen und Hunderten von Menschen endlich den Zugang zu einem würdigen Leben zu ermöglichen, dazu wird es viele Jahre brauchen. Für Spartacus ist dies eine grosse und schwierige, aber nicht unmögliche Herausforderung.

Valentina Malli, EBF, Tonino Perna, Ökonom und Soziologe sowie Förderer des Spartacus-Projekts

  1. Jean Duflot: Orangen fallen nicht vom Himmel. Der Sklavenaufstand von Rosarno, 132 Seiten, Verlag Europäisches Bürgerforum/CEDRI, Basel, 2011, Preis CHF 20.-, EUR 15.-

Die Projektträger·innen

  • Der Verein Interculturale International House. Er wurde 1996 in Reggio Calabria gegründet und fördert den interkulturellen Dialog und die Begegnung durch Projekte zur sozialen Integration von Migrant·inn·en. Er unterstützt und beteiligt sich an solchen Projekten in Kalabrien und engagiert sich seit 2017 für die sozioökonomische Integration syrischer Familien, die über die humanitären Korridore ankommen, unterstützt von der Waldenserkirche.
  • Die Monatsschrift Altreconomia wurde 1999 gegründet, mit dem Ziel, für alternative Lebensstile und produktive, kommerzielle und finanzielle Initiativen zu werben, die auf den Prinzipien von Nachhaltigkeit, Beteiligung und Solidarität beruhen. Das Magazin will mehr als nur informieren: Es geht darum, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, Konsumverhalten kritisch zu hinterfragen, die Förderung von Bewusstsein und Teilnahme an lokalen und globalen Veranstaltungen. Gleichzeitig verpflichtet sich die Redaktion, die Mechanismen der Weltwirtschaft aufzuzeigen und Missbrauch, Folter und Ungerechtigkeit anzuprangern.
  • Die Stiftung Vismara, eine seit 1980 tätige privatrechtliche Organisation, die seit jeher an die Kultur des Gebens glaubt und dazu auch ihr eigenes Vermögen einsetzt. Sie finanziert Initiativen von gemeinnützigen Organisationen im sozialen Bereich, wobei den am stärksten ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird: zum Beispiel Projekte zur Förderung der Entwicklung von Gebieten unter Einbeziehung ihrer lokalen Gegebenheiten, um positive und nachhaltige Veränderungsprozesse zu fördern. In Italien ist die Stiftung vor allem in der Lombardei, wo sie ihren Sitz hat, und im Süden des Landes tätig. Die Stiftung unterstützt das Spartacus-Pilotprojekt finanziell.
  • Die Genossenschaft Chico Mendes (benannt nach dem brasilianischen Gewerkschafter, Politiker und Ökologen, der für die Rechte der Arbeiter·innen und den Erhalt der Umwelt gekämpft hat, bis er 1988 ermordet wurde). Die in Mailand gegründete Genossenschaft ist ein gemeinnütziges Netzwerk von Fair-Trade-Läden. Seit mehr als dreissig Jahren fördert sie in Italien eine gerechtere und nachhaltigere, ethischere und verantwortungsvollere Wirtschaft, welche die Menschen respektiert und die Umwelt schützt.