SYRIEN: Saatgut in Kriegszeiten

von Zoé und Ferdinand Beau, Graines & Cinéma, 22.05.2017, Veröffentlicht in Archipel 259

Seit 2011 muss sich die Bevölkerung Syriens organisieren, um den Zerstörungen durch den Krieg zu widerstehen. Sich zu ernähren, wird zur ersten Priorität. Gärten des Widerstands blühen überall auf. Um die Schaffung dieser Gärten in diesen schwierigen Zeiten zu ermöglichen, entstand aus Solidarität ein internationales Netzwerk. Archipel stellt eine französische Initiative dieses Netzwerks vor: Graines et Cinéma (Samen und Kino), die als eine ihrer Zielsetzungen die Erhaltung von lokalem Saatgut in Kriegszeiten hat.

Seit über fünf Jahren versucht die Zivilbevölkerung Syriens unter Bomben und Kämpfen zu überleben. Die Zahlen sind erschütternd: 500‘000 Menschen wurden getötet, zwölf Millionen Einwohner_innen sind geflüchtet, eine Million Personen bleiben in Widerstandszonen blockiert (53 Städte und Dorfgemeinschaften werden belagert, 50 davon durch das syrische Regime und seine Allierten), 100‘000 Menschen sind in den syrischen Gefängnissen verschwunden.
Der Hunger – eine Waffe zur Massenvernichtung
Abgeschnitten von der Welt profitieren die Syrier_innen nur wenig von der humanitären Hilfe. Alles muss neu aufgebaut werden (Schulen, Spitäler etc) und neben all diesen Herausforderungen gibt es das dringlichste Problem: die Ernährung. Die einzige Möglichkeit ist die Selbstversorgung, aber ohne jegliche finanzielle Mittel. Die Bevölkerung leidet in den belagerten Gebieten unter Hunger. Auf dem Schwarzmarkt kann ein Kilo Reis bis zu 50 Dollar kosten. In Yarmuk, einem Stadtviertel palästinensischer Flüchtlinge vor den Toren von Damaskus, wurde im Dezember 2013 zum ersten Mal der Hunger als Kriegswaffe eingesetzt: 200 Menschen verhungerten, obwohl dieses Flüchtlingslager offiziell unter dem Schutz der UNO stand. Die seltenen humanitären Transportkolonnen führten keine Nahrungsmittel sondern Haarwaschmittel oder Rollstühle mit sich. Dann, am 1. Juni 2016 in Daraya: Das Regime bombardiert systematisch Getreidemühlen, verbrennt Getreidefelder vor der Ernte, zerstört Landwirtschaftsmaschinen und tötet Bäuerinnen und Bauern.
Majd al-Dick erzählt vom täglichen Leben in Duma (Vorstadt von Damaskus), wo seit über drei Jahren 200‘000 Menschen im Belagerungszustand leben: «Jeden Tag war ich auf der Suche nach Nahrungsmitteln. Brot gab es keines mehr. Ich ersetzte es mit Kohlblättern. In der Region assen alle dasselbe, als ob eine einzige Hand das Menü plante. Unser Olivenbaum rettete meine Eltern in dieser Zeit. Mein Vater setzte sich auf eine Bank im Wohnzimmer. Sein Gesicht klebte fast auf dem Teller, der weniger als zehn Oliven für ihn und meine Mutter enthielt. Er umhüllte sie mit Kohlblättern. Die Oliven waren so trocken, hart und verschrumpelt, dass er um sein Gebiss fürchtete.»
Die Shebabs (Kameraden) vom Mittelmeer
Die Initiative, Widerstandsgärten gemeinsam mit anderen aufzubauen, stammt von den Einwoh-ner_innen Yarmuks, die damals – sie lebten in einer städtischen Betonwüste – überhaupt keine Erfahrung in Landwirtschaft hatten. Schnell entstanden überall Gärten: auf den Dächern, auf ungenutztem Gelände oder auf Balkons. Die ganze Stadt verwandelte sich also in eine Gartenlandschaft, denn in jeder Ritze kann noch eine Pflanze wachsen. In weniger als einem Jahr keimten im ganzen Land vielfältige Projekte für eine Autonomie der Ernährung. Einerseits handelt es sich um Stadtgärten in den belagerten Städten, andererseits auch um landwirtschaftliche Projekte in den ländlichen Zonen. Lokale Vereine schaffen Gärten für Kriegswitwen und geschwächte Menschen, andere gründen Pflanzschulen und kümmern sich um die Verteilung der Pflanzen. Ausbildungsmodule in Agroökolgie und alternativer Energie werden ebenfalls angeboten. So kam es auch dazu, dass Mitglieder der internationalen Bewegung für Ernährungssouveränität auf die dringliche Anfrage von syrischen Einwoh-ner_innen positiv reagierten.
In Griechenland legte das Netzwerk Peliti speziell für Syrien Gärten für Saatgutproduktion an. In Deutschland setzte sich der autonome Bauernhof Bienenwerder, der in Flüchtlingslagern in Ostberlin Biogärten geschaffen hat, für einen internationalen Dialog ein. In Schweden ist auch eine Bewegung im Entstehen und in Österreich übernimmt das Netzwerk Arche Noah die Kosten für die Übersetzung der Dokumente auf Arabisch. In Frankreich organisierte unser Kollektiv Graines et Cinéma (Samen und Kino) eine Freilichtfilmtournee, um die Menschen auf die Realität des täglichen Lebens in Syrien aufmerksam zu machen. Das Ziel bestand darin, den syrischen Gärtnern bäuerliches Saatgut aus dem Mittelmeerraum zur Verfügung zu stellen, das über starke Anpassungsfähigkeit verfügt und auch schwierige Produktionsbedingungen verträgt. So organisierte unsere Gruppe während fünf Monaten in den Städten und Dörfern Südfrankreichs vierzig Veranstaltungen: 1‘500 Saatguttüten mit über hundert verschiedenen Pflanzen für Nahrungsmittel wurden gesammelt, sowie vierzig Blumensorten (Zierblumen, aromatische und medizinische Kräuter). Am Ende der Tournee hatte sich unser Kollektiv vergrössert und war durch das Wissen von Saatgutprodu-zent_innen bereichert worden; Einige von ihnen sind Mitglieder des Reseau Semences Paysannes und der Kooperative Longo maï. Die Erhaltung von lokalen Saatgutsorten in Kriegszeiten wird eine prioritäre Zielsetzung. Syrisches Saatgut aus den Kühltruhen der europäischen Saatgutbanken wird in mehreren Gärten in Frankreich angebaut.
Felahin (Bauer) sein oder werden
Anschliessend beteiligten wir uns an den Begegnungen des Netzwerks der syrischen Gärten, das alle drei Monate an den Grenzen der Türkei stattfindet. Während einer Woche werden Saatgut, Emotionen, praktische Informationen und landwirtschaftliche Anbauweisen ausgetauscht. Wie aussäen, anbauen und ernten unter widrigen Verhältnissen und in verschiedensten Situationen? Wie schafft man es, dass Bäuerinnen, Bauern, Aktivist_innen, Städter_innen, Menschen vom Land oder Flüchtlinge aus den Lagern in der Türkei, Syrien, Jordanien und dem Libanon zusammenarbeiten? Die landwirtschaftlichen Projekte, die seit drei Jahren vernetzt sind, unterscheiden sich stark voneinander. Kollektiv oder individuell, Hunderte von Gärten finden sich zusammen, teilweise dank der sozialen Medien (Whatsapp, Skype, Facebook).
Das Saatgut ist das Herz der Mobilisierung, ohne dieses ist nichts möglich. Für die europäischen Aktivist_innen des Netzwerks ist es äusserst schwierig, Samen in grossen Mengen nach Syrien zu schaffen. Die Türkei verbietet jeglichen Import von nicht deklariertem Saatgut, und in Syrien werden die «Schmuggler» an den Check-Points durchsucht. Zum anderen sind diese Sorten an die klimatischen Verhältnisse und kulturellen Gewohnheiten (traditionelle Gerichte) der syrischen Gärten nicht ideal angepasst. Bäuerliches Saatgut in der Region des Mittleren Ostens zu produzieren, erweist sich als unumgänglich. Das Saatgut sollte an drei bis fünf verschiedenen Orten vermehrt werden, in mehreren Regionen von Syrien und in den angrenzenden Ländern. Es gilt, die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern und an Ort und Stelle für die lokalen Bedürfnisse zu produzieren. So kann das grossteils verlorene traditionelle Wissen neu erlernt werden.
Jetzt verwirklicht unsere Gruppe Graines et Cinéma im Libanon gemeinsam mit Bauern, Bäuerinnen sowie syrischen und libanesischen Aktivist_innen ein Netzwerk von Gärten für die Produktion von Saatgut «Jouzourna Bouzourna» (Unser Saatgut ist unsere Wurzel). Es soll ein Grundstock von lokalen und mediterranen Sorten entstehen, die in einem Haus für Saatgut gelagert werden, das zu diesem Zweck gebaut wird. Ende September 2016 versammelten sich sechzig Personen verschiedenster Herkunft, um die Ziele und notwendigen Mittel zu desen Verwirklichung zu diskutieren: Es ging um Zugang zu landwirtschaftlichen Böden, Austausch und Spenden von Saatgut, Vermittlung von Reproduktionstechniken und der Zugang zu technischen Informationen auf Arabisch.
Kontrollierte Landwirtschaft
«Die Bauern werden Soldaten und produzieren nicht für sich selbst, sondern für die Nation.» So begründete die Bathpartei auf ihrem Sechsten Kongress im Jahr 1975 den Entschluss, die Selbstversorgung der Nation als wichtiges Ziel zu erklären. Während der vierzig Jahre Regierungsgewalt zwang das Regime der Assads (Vater und anschliessend der Sohn) die Landwirt_innen zu einem streng zentralisierten System und legte für die so genannten strategischen Kulturen (Getreide, Rüben, Baumwolle) die geographischen Zonen fest. Das Saatgut wurde vom Staat geliefert. Aufsässige Regionen, wie zum Beispiel die kurdischen Gebiete, erhielten Saatgut mit verfallenem Datum. Für die Kleinbauern und -bäuerinnen war die fehlende Auslieferung von Saatgut mit Sanktionen verbunden. Sie erzählten, dass sie mit Gefängnisstrafen und Folter bestraft wurden, wenn sie einen Teil für sich behalten wollten.
Die Landwirtschaftspolitik der Bathpartei, wie zum Beispiel die Agrarreform und die grossen Wasserkraftprojekte (Staudämme und Kanäle), führten nicht zu den gesteckten Zielen. Sie bewirkten eine verstärkte Konzentration der Produktionsmittel zugunsten einer neuen Elite. Die neue Agrarpolitik vergrösserte das Bewässerungsvolumen dermassen, dass das Grundwasser versiegte. So ging die Gerstenproduktion um 90 Prozent zurück, und die Getreideernte schmolz auf die Hälfte. Viele Bauern und Bäuerinnen wanderten in die Städte ab, um dort Arbeit zu suchen. Sie waren unter den Ersten, die sich an der Revolution beteiligten und um «Brot und Würde» kämpften.
Die Bedürfnisse der Syrerinnen und Syrer stossen bei den alternativen Bewegungen, die sich auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten entwickeln, auf Resonanz. Die Krise in Syrien führt an den verschiedensten Orten zu Diskussionen über die internationale Solidarität und über ein gemeinsames Gesellschaftsprojekt.