Preis für mediterrane Kultur an Pinar Selek

von Zusammengestellt von Constanze Warta, EBF, 01.11.2019, Veröffentlicht in Archipel 286

Am 4. Oktober hat Pinar Selek1 in Kalabrien, in der Stadt Cosencia, den von einer internationalen Jury vergebenen Mittelmeer-Kulturpreis 2019, Sektion Zivilgesellschaft, erhalten.

Dieser von der Carical Foundation organisierte Preis soll das Verdienst all jener würdigen, die dazu beitragen, die Kenntnis der mediterranen Kultur zu vertiefen bis zu ihren aktuellsten Aspekten. Die Sektion Zivilgesellschaft des Preises zeichnet jeweils eine Intellektuelle oder einen Intellektuellen von internationalem Format aus, der sich durch «sein Werk für den Dialog zwischen den verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen des Mittelmeerraums» auszeichnet. Nach Tahar Ben Jelloun, David Grossman, Amin Maalouf ist Pinar Selek nun die Gewinnerin der 13. Ausgabe dieser prestigeträchtigen Auszeichnung.

Pinar Selek ist tief berührt von dieser Anerkennung und erklärt: «Ich widme meinen Preis allen im Exil lebenden Frauen wie ich selbst eine bin; insbesondere denen, die unsichtbar sind. Und auch allen Glühwürmchen, welche Grenzen, Festungen, Faschismen und Gewalt überwinden und die Welt durch ihre konkrete Solidarität, ihre Poesie und emanzipatorischen Philosophien verändern. Im Mittelmeer spiegelt sich die Kriminalisierung der Migration der Unterdrückten in eisig erstarrten Körpern, den leblosen Körpern der Ertrunkenen, oder in Sklaverei ohne Schutz, ohne Rechte, im Herzen Westeuropas. Wegen meiner Schriften und meiner Stellungnahme für die Freiheit, weil ich den Völkermord an den Armenier·inne·n und all die nationalistische, militaristische und sexistische Gewalt verurteilt habe, musste ich mein Land verlassen, aber ich habe das Mittelmeer nicht verlassen: Ich setze meine Kämpfe in Nizza fort, wo ich jetzt lebe. Wie Virginia Woolf sagte, habe ich als Frau kein Land, ich will kein nationales Land. Mein Land ist das Mittelmeer, und ich werde mein Bestes tun, um die menschliche Tragödie zu beenden, sodass Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität regieren können. (...) Ich bin hier als Flüchtlingsfrau, als Schriftstellerin, als Aktivistin, als Forscherin, als Mittelmeerfrau. Durch meine Schriften und Handlungen versuche ich, mich zu widersetzen und zum Aufbau einer Gegenkultur beizutragen, die auf Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit basiert. Ich weiss, dass das schwierig ist, ja, aber wie Antonio Gramsci vorgeschlagen hat, kann die Kombination aus dem Pessimismus der Intelligenz und dem Optimismus des Willens eine magische Kraft entfalten. Ich fühle diesen Zauber auf den Wegen, die ich gehe. Im Namen aller Glühwürmchen im Mittelmeerraum, im Namen der Hexen, die mit dem Zauber spielen, danke ich Ihnen für diese Ermutigung.»

Die einzige Hoffnung

Hier die Überlegungen von Pinar Selek zur Friedensstiftung an der türkisch-syrischen Grenze2: Während etwa zehn grenzüberschreitende militärische Interventionen gegen kurdische Streitkräfte, die seit 1984 Tausende von Todesopfern gefordert haben, in Europa nicht bekannt waren, ist diese jüngste Intervention des türkischen Staates in Syrien in den Medien im Westen sichtbar geworden und wird von der internationalen Gemeinschaft, dank des Engagements kurdischer Aktivist·inn·en gegen den Islamischen Staat (IS), weithin verurteilt. Aber diese verbale Verurteilung hat sich noch nicht in Empörung verwandelt, ausser bei den Fraktionen, die sich bereits mit den Kurdinnen und Kurden engagieren. Die Zeitungen sind voll von Kommentaren, die wichtig sind, um die Dynamik dieser Barbarei zu verstehen. Ja, die Schwächung der türkischen Regierung hat dieses militärische Abenteuer begünstigt, könnte jedoch auch ihr Ende beschleunigen. Darüber hinaus handelt es sich um die Fortsetzung der laufenden Bemühungen der Türkei, nicht nur einen «Sicherheitskorridor» in Nordsyrien zu errichten, sondern vor allem in einem ausgedehnteren Bereich Fuss zu fassen, der seit 2012 von verschiedenen politischen und militärischen Kräften, darunter von denjenigen der Türkei, beansprucht wird. Wir hören die widerständigen Stimmen der kurdischen Bewegung, aber da wir das Kräfteverhältnis in diesem Gebiet kennen, wissen wir, dass mehrere Faktoren, wie z.B. die Positionierungen der Regierungen von Damaskus, Teheran, Moskau und verschiedenen arabischen Ländern, die weiteren Ereignisse bestimmen werden – ohne Europa zu vergessen.

Ja, aber es ist schwierig, diese Dynamik der Dominierenden zu kontrollieren. Ich verstehe diejenigen nicht, die von Donald Trump enttäuscht sind. Wir können den Grossmächten nicht vertrauen, die für das grosse Unglück unseres Planeten verantwortlich sind. Mal sehen, was wir tun können. Wir haben keine Waffen oder Geld, aber wir wissen, dass eine massive zivile Intervention auch einer der Faktoren in diesem Prozess sein könnte. Angesichts dieser menschlichen Katastrophe müssen wir versuchen, Massnahmen zu ergreifen. Die Initiativen, die in Europa ergriffen werden, sind wichtig, aber unzureichend. Wir brauchen einen offensiven pazifistischen Kampf. Wir müssen näher an das Feld herankommen. So riefen die «Ärzte ohne Grenzen» dazu auf, «ein internationales Team zur Unterstützung der Zivilbevölkerung in einer sehr alarmierenden Situation in der Region Kamichlu einzurichten». Dr. Jacques Bérès, bekannt für sein weltweites humanitäres Engagement, fordert Chirurg·inn·en, Anästhesist·inn·en und allgemeine Ärzte und Ärztinnen dazu auf, auch ohne humanitäre Erfahrung «etwas für einige von den zehntausenden Verletzten zu unternehmen, die in den nächsten Tagen auf uns zukommen werden». Könnten die grossen fortschrittlichen internationalen Organisationen, die für Rechte und Freiheiten kämpfen, nicht dazu aufrufen, gemeinsam eine humanitäre Mauer zu bilden? Das ist ein sehr schwieriges Unternehmen, ja, aber es könnte das Spiel verändern. Uns bleibt als einzige Hoffnung, dass die Pazifist·inn·en offensiver werden als das Militär!

  1. In Frankreich im Exil lebende türkische Soziologin, Autorin, Doktorin der Politikwissenschaft, Feministin und Antimilitaristin
  2. Dieser Artikel wurde am 14. Oktober 2019 in der französischen Tageszeitung l’Humanité publiziert.