TUNESIEN: Unruhige Eindrücke von einem Land im Umbruch

von Sissel Brodal EBF Frankreich, 17.03.2012, Veröffentlicht in Archipel 201

Eingeladen zu einer Konferenz über „die Landwirtschaft nach der Revolution“ fuhren zwei Mitglieder des Europäischen BürgerInnenforums Ende Dezember 2011 nach Tunesien. Sie waren noch nie dort gewesen, und ihre Eindrücke nach einer Woche Aufenthalt sind sowohl subjektiv als auch unvollständig.

Die Schlange vor der Passkontrolle nimmt kein Ende. Die in Frankreich lebenden Tunesier kehren zurück um hier ihre Ferien zu verbringen. Trotz der vielen Kinder warten alle gelassen bis das „Nichts zu melden“ auf dem polizeilichen Bildschirm aufleuchtet. Der Schulinspektor Sami und zwei Freunde empfangen uns. Unterwegs in nächtlicher Kälte auf der leeren Autobahn zwischen Tunis und Sousse erzählen sie von ihrem Land und der unsicheren Zukunft ihrer Revolution. Auf grossen Plakaten mahnt der Präsident Marzouki zu sechs Monaten Sozialfrieden, die Schatten der Olivenhaine rechts und links der Strasse schimmern auf, ein einsamer Polizist bewacht einen der Paläste von Ben Ali. Dies sind unsere ersten Eindrücke.

Sousse

Wir wohnen in einem intakten Hotel in der vom Tourismus verunstalteten Küstenstadt Sousse. Verunstaltet, weil die protzigen Hotels leer und herunter gekommen dastehen und die Baustellen der Neubauten unterbrochen und ausgeraubt sind. Im Basar weisen uns die Händler freundlich aber bestimmt auf ihre Situation hin: „Die Unsicherheit im Land, wissen Sie... die Ausländer trauen sich nicht mehr hierher! Wie sollen wir überleben?“ Später lesen wir in der Zeitung, dass Händler ohne festen Platz ab jetzt von der Polizei verjagt werden - um die Sicherheit zu gewähren... Im Restaurant unseres Hotels wird Alkohol serviert, und Leute aus der Stadt kommen hin, um bei einem Glas Wein zu diskutieren. Ein Arzt sagt uns: „Ich bin Atheist. Als ich klein war, ging ich vier Jahre in die Koranschule. Ich bereue das nicht. Sie haben mir dort Werte mitgegeben, die für mich noch immer wichtig sind. Die Leute haben heute oft keine Orientierungspunkte mehr, sie fühlen sich leer. Der Extremismus kann diese Leere füllen.“ Seiner Meinung nach ist die „Revolution per Internet“ nur Quatsch. Es waren die Sozialkämpfe, die es geschafft haben, Ben Ali zu verjagen, und sie haben schon lange vor dem Dezember 2010 angefangen. Um die Wahrheit zu sagen - sie haben bis heute nicht aufgehört. Zwei Monate nach den Wahlen gibt es noch keine Regierung. „Die Leute sind misstrauisch. Die Regierung wird es schwer haben, Vertrauen zu gewinnen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war nicht auf den Wahllisten eingetragen und/oder hat nicht abgestimmt.“

Die Konferenz - eine Bilanz

Seit 31 Jahren findet in der Kleinstadt Kalaâ Kebira, unweit von Sousse, ein „Festival der Oliven“ statt. Die Konferenz ist immer ein Teil davon. Zusammen mit Omar Aziki, landwirtschaftlicher Gewerkschafter aus Marokko, sind wir ihr internationales Element. Die anderen Redner sind Wissenschaftler und Universitätsleute, im Publikum - etwa hundert Leute - befinden sich aber auch einige Landwirte aus der Gegend. Zuerst geht es darum, die Bilanz der heutigen Situation zu ziehen.
Das Land hat seit fünfzehn Jahren keine wirkliche Landwirtschaftspolitik gehabt und ist ernährungsmäßig vom Ausland sehr abhängig. Der Ökonom Hossine Dinasi sagt: „Wenn es um die Vor- und Nachspeisen geht, sind wir ausgezeichnet, nur das Hauptgericht fehlt uns - das heisst Getreide und Fleisch.“ Offiziell produziert Tunesien genug Eier, Milch und rotes Fleisch für alle. In Wirklichkeit aber werden die gesamten Futtermittel - Soja, Mais, Gerste - und sogar viel Fleisch importiert. Die Behörden verschleiern die Tatsachen und schwingen Reden über Ernährungssicherheit - um nicht sagen zu müssen, dass 25% der Importe aus landwirtschaftlichen Produkten und Grundnahrungsmitteln bestehen. Seit 50 Jahren hat die landwirtschaftliche Nutzfläche – etwa fünf Millionen Hektar Ackerland - nicht zugenommen, die Bevölkerung aber schon - von drei Millionen auf fast elf Millionen. Die Mehrheit der Kleinbauern (75% der 500.000 Landwirte) hat nur wenig Land und ist arm. Die Landflucht und rasche Urbanisierung führen zu neuen Essgewohnheiten. Früher konnte das Land seinen Bedarf an Hartweizen und daher an Griess für den Kuskus decken, jetzt wird mehr und mehr Weissbrot gegessen. Fast 40% der landwirtschaftlichen Produktion wird exportiert. Das Olivenöl („der Champagner der Olivenöle der Welt“) nimmt die erste Stelle ein. Dafür konsumieren die Tunesier zunehmend „pflanzliches Öl“ aus dem Ausland, mit unbekannter Zusammensetzung, aber viel billiger.
Durch eine Reihe von Staudämmen und intensiven Bohrungen
sind die bewässerten Flächen von
50.000 ha auf 300.000 ha gestiegen. Ein Redner sagt: „Wir, ein trockenes Land, exportieren Wasser nach Europa - als Salatköpfe!“ Man muss immer tiefer bohren, und die Versalzung der Böden ist sehr fortgeschritten. Das verhindert nicht, dass die ausländischen Landwirtschaftsinvestitionen ständig steigen, sogar im unsicheren Revolutionsjahr 2011.
Ein Mitglied von Attac Tunesien nennt ein Beispiel dieser „Zukunftsprojekte“. Im Dezember 2010 hat Tunesien einen Vertrag mit der in der Schweiz registrierten Holding GWH - Global Wood Holding - unterschrieben. Sie soll 160.000 Hektar staatliches Land in der Wüste von Tataouine mit Eukalyptus-Bäumen bepflanzen. Angebliches Ziel: Die Verwüstung zu bekämpfen und Holz nach Europa zu exportieren, um daraus Biomasse für „grüne Energie“ herzustellen. Eukalyptus-Bäume wachsen schnell, trinken viel und machen die Böden kaputt. In der Wüste von Tataouine ist aber das Grundwasser wegen vieler Bohrungen schon jetzt sehr knapp und die Zukunft der Dattelhaine gefährdet. Nichts deutet darauf hin, dass der Vertrag nach der „Revolution“ rückgängig gemacht wurde. (Später entdecken wir, dass der Vizepräsident der GWH, derjenige der den Vertrag in Tunesien unterschrieb, seit 2011 von der Justiz in der Ukraine und in Italien wegen betrügerischer Tätigkeiten verfolgt wird. Er scheint in eine Reihe undurchsichtiger „Umweltgeschäfte“ verwickelt zu sein.)

Und die Lösungen?

Ein Hauptziel der Landwirtschaftspolitik von Morgen muss die eigene Versorgung der Bevölkerung sein, darin sind sich die Redner alle einig. Aber wie? Wirtschaftsverträge und allerlei Auswüchse der Globalisierung reduzieren den Spielraum. Die neue Regierung muss eine Kommission aus Experten und Wissenschaftlern ernennen, um die Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Tunesien muss dem Beispiel von Frankreich folgen, sagen sie. Dort sind die Erträge und die Rentabilität sehr hoch. Und die Mittel? Grössere Einheiten, Subventionen, mehr Chemikalien, neue Staudämme und Bohrungen, Mechanisierung und Intensivierung der Bio-Landwirtschaft, um auf dem internationalen Markt besser verkaufen zu können. In unserem sonst so netten Beitrag über das „wie und warum“ der „alternativen Landwirtschaft“ in Europa, versuchen wir die Kehrseite vom „Erfolg“ der französischen Landwirtschaft aufzuzeigen. Omar, der viel härter redet, beschreibt die Situation der marokkanischen Kleinbauern, die weitgehend nicht mehr von ihren Höfen leben können und als billige Arbeitskräfte im florierenden Agro-Business eingesetzt werden. Die Konferenz wird ohne weitere Debatte abgeschlossen.

Zwischenspiel

Sami beschreibt das Ausmass der Aufgaben, die anstehen. Ben Ali ist weg, aber sehr viele von denen, die von seinem Regime profitierten, sind noch da. Heute versuchen alle, frühere Anhänger oder Gegner, sich ein Platz zu schaffen, um die Zukunft mit zu bestimmen. Das erklärt vielleicht auch den Mangel an Debatte während der Konferenz. Sami redet von der Situation unter seinen Kollegen, den Schulinspektoren. Früher waren sie nur das Sprachrohr der Macht. Jetzt wollen sie ihre Funktion ganz neu überdenken. Noch dazu soll ein neuer Vorstand der Gewerkschaft UGTT Ende Dezember gewählt werden und vieles steht auf dem Spiel. Der Vorstand war lange Jahre eine treue Stütze für Ben Ali und sein vom Westen gelobtes Wirtschaftswunder. Sami nimmt uns mit auf die lokale Gewerkschaftsversammlung. Die Debatte ist lebhaft, aber auf arabisch, und trotz der Worte und Sätze auf französisch, die die Redner in der Aufregung benutzen, verstehen wir nicht das Ausmass der Uneinigkeiten.
Sami zeigt uns die Olivenhaine seiner Familie. Wir sinken im sandigen Boden ein, wie auf dem Strand. Alle, alte Leute und kleine Kinder inbegriffen, sind daran, die Oliven zu pflücken. Sie haben ein Zelt aufgestellt, um sich gegen den Wind zu schützen. Die Bäume sind alt und gross. Es ist ein Rekordjahr, sagen sie, viele Oliven, aber niedrige Preise. Der Staat kauft das Öl auf und verkauft es ins Ausland weiter. Angeblich zahlen die Ausländer „wegen der unsicheren Lage im Land“ dieses Jahr sehr schlecht. Es ist nicht leicht, genügend Arbeitskräfte zu finden, da viele Arbeitslose höhere Ausbildung haben und die harte und schlecht bezahlte Arbeit nicht ausführen wollen. Es gibt noch immer viele Mühlen, sowohl im traditionellen Stil mit vielem Tragen und Schieben, als auch aus Chromstahl, wo der elegante Besitzer gelassen zuschaut, wie das Öl am Ende sauber heraus fliesst. In beiden Fällen ist das Öl ausgezeichnet.

Gafsa – in der Stadt

Ein Freund von einem Freund wohnt in Gafsa, im trockenen Inneren des Landes, unweit der Kleinstadt Sidi Bouzid, in der sich der junge arbeitslose Akademiker und Gemüsehändler Bouaziz vor einem Jahr angezündet und damit grosse Demonstrationen gegen das Regime ausgelöst hatte. Wir fahren hin, trotz Warnungen über das „gefährliche“ soziale Klima der Region. Hier sind die Einwohner, direkt oder indirekt, alle vom Phosphat abhängig, ein überaus wichtiges Exportprodukt.
Hamid ist Buchhalter in einem chemischen Betrieb. Er liebt seine Stadt und ihre Geschichte und zeigt uns vieles. Vor nur zwanzig Jahren badeten alle in den schönen, tausendjährigen römischen Bädern der Altstadt. Das Wasser floss in ein zweites Bassin ab, in dem die Wäsche gewaschen wurde, und danach in die Kulturen gleich neben der Stadt. Heute liegen in den Bassins nur Plastikflaschen und Tüten herum, das Wasser ist wegen dem Bohren – um höhere Erträge zu erzielen - versiegt. Hamid zeigt uns Beispiele der alten, vom Wassersparen geprägten Methoden: Grosse, alte Olivenbäume, die weit auseinander stehen, dazwischen Obstbäume und kleine Parzellen mit Weizen, Kartoffeln und Gemüse bepflanzt und sogar einzelne Kühe (aus der Rasse Holstein!) an einem Pfosten angebunden.
Die Stadt ist seit langem von Armut geprägt. Auf den Strassen sind viele Menschen, vor allem junge Männer, die diskutierend herumsitzen oder Zigaretten und Taschentücher an kleinen Ständen verkaufen. Durch die Stadt läuft ein riesiger Oued, ein Flussbett, das meistens leer ist. An seinen Rändern bauen unzählige Familien ihre Häuser, ohne Genehmigung und Plan, ohne Wasser und Strom, obwohl sie wissen, dass sie weggerissen werden können, falls ein grosser Regen einsetzt. Katastrophen dieser Art hat es in der Vergangenheit viele gegeben.
In der Region liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei 50%. Das Phosphat wird nunmehr im Tagebau gewonnen, dafür braucht es grosse Maschinen, aber nicht viele Menschen. Seit den grossen Streiks 2008, die mit mehreren Toten und vielen hohen Gefängnisstrafen endeten, ist die Bevölkerung im Aufruhr. Vetternwirtschaft und Korruption sind allgegenwärtig. Die vielen Mittel, die für die Entwicklung der Region und für neue Betriebe genehmigt wurden, sind spurlos verschwunden. Neulich ist ein höherer Angestellter des Phosphatunternehmens mit der Lohnkasse abgehauen. Auf den Eisenbahnschienen liegen drei grosse Güterwagen herum, Resultat eines Aufstands vor drei Wochen. Jung und alt hatten genug davon, dass ihre Forderungen nur auf taube Ohren stossen. „Wollt ihr uns nicht ernst nehmen, sabotieren wir euch!“ Die Lage hat sich inzwischen auf der Oberfläche beruhigt, niemand traut sich aber die Waggons vom Gleis weg zuräumen, und der Zugverkehr ist eingestellt. Hamid kommentiert: „Gafsa hat sich seit ewigen Zeiten gegen die Zentralmacht aufgelehnt. Alle Revolten fangen hier an, es sind aber andere, die die Früchte davon ernten.“
Nach endlosen Verhandlungen wird die neue Regierung an Weihnachten ernannt. Sogar die Zeitungen in Französisch, die eher rechts sind, regen sich auf: „45 Minister für so ein kleines Land! Ein Durcheinander sondergleichen ist vorprogrammiert. Und diese Leute kosten teures Geld!“ Der Premierminister fordert die Bevölkerung auf, die Ärmel hoch zu krempeln. Der neue Vorstand der Gewerkschaft geht noch weiter: „Die Streiks, die unsere Wirtschaft sabotieren und die Errungenschaften der Revolution gefährden, müssen gestoppt werden.“ Während des Jahres 2011 zählen die Behörden mehr als 750 Streiks, von denen nur etwa 150 von der Gewerkschaft unterstützt wurden. Bleiben aber wirkliche Verbesserungen aus, wer soll diese Protestbewegungen dann stoppen? Die Polizei traut sich fast nicht auf die Strasse. Die Armee ist aber da. In Gafsa stehen die Panzer überall herum, und die Soldaten rauchen friedvoll daneben. Sie warten wohl.

Gafsa – auf dem Land

Es ist leicht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, und sie reden viel. „Es ist das einzige, das sich wirklich geändert hat“, sagen sie. „Jetzt können wir laut loslegen. Der ganze Rest aber...“. Glücklicherweise treffen wir am Ende unseres Aufenthalts Bechir. Er wurde schon unter Bourguiba verhaftet, danach lebte er lange Jahre im Irak, Libanon, in Algerien und Frankreich. Jetzt teilt er seine Zeit zwischen Tunesien und Frankreich, wo er mit vielen NGO in Verbindung steht. Er wohnt in einem bescheidenen Haus weit von der Stadt entfernt, und hier versucht er den Leuten zu helfen, sich zusammenzuschliessen. Da gibt es zum Beispiel eine kleine Vereinigung von Bauern, die vor kurzem gegründet wurde. Die Bauern können sich Parzellen vom staatlichen Land unentgeltlich zu eigen machen, sonstige Hilfe können sie aber nicht verlangen. Bechir rechnet mit der Unterstützung seiner Bekannten in Frankreich, nicht nur für Ratschläge und Lehrgänge, sondern auch für kleine Investitionen. Der Präsident der Vereinigung sagt: „Gott sei Dank sind wir arm. Wir haben kein Geld, um Saatgut zu kaufen – Hybride und GMO - also müssen wir es selber produzieren. Hier müssen wir überhaupt auf unsere eigene Ressourcen zählen.“ Seine Schwester ist Hebamme. Mit einigen Kollegen und Kolleginnen zusammen ist sie daran, ein sozialmedizinisches Zentrum für Frauen und Kinder auf die Beine zu stellen. Bechir hilft mit.
Wir begegneten nicht vielen Leuten mit diesem Optimismus, und doch gibt es sie sicher. Wir sind wieder weggefahren mit unruhigen Gedanken und dem Eindruck, dass sie vor allem Zeit und Mittel brauchen, um überlegen zu können und um Neues auszuprobieren. Aber Beides - Zeit und Mittel - sind nicht selbstverständlich.
Was tun, um sie dabei zu unterstützen?