Im Juli fand das Europäische Sozialforum in Istanbul statt. VertreterInnen des EBF nahmen an mehreren Workshops teil, e sich mit der Migrationsfrage beschäftigten. Bei dieser Gelegenheit trafen sie die Französin Clémence, die seit sechs Jahren in Istanbul lebt. Sie ist aktives Mitglied von Migrant Solidarity Network*, dem türkischen Netzwerk für Solidarität mit Migranten. Das Gespräch führten Martina Widmer und Nicholas Bell am 4. Juli in Istanbul.
Clémence: Mit informellen Gruppen an der Uni in Frankreich haben wir vor der Präfektur Aktionen gegen die Ausweisungen von Sans Papiers (Papierlosen) gemacht. Ich habe mich also schon vorher mit dieser Frage beschäftigt. In der Türkei überraschte mich vor allem, dass ich sehr viele französischsprachige Afrikaner treffen konnte, die hier völlig unsichtbar leben.
Die geographische Situation macht die Türkei zu einem Transitland, aber die griechisch-türkische Grenze wird immer mehr und mehr kontrolliert und undurchlässig. Damit wird die Türkei de facto zu einem Land, in dem sich die Migranten niederlassen. Obwohl sie es nicht vorhaben, bleiben sie hier, weil sie aufgehalten werden und natürlich ohne Status in der Falle sitzen. Ihre Situation ist ziemlich erschreckend und hoffnungslos. Die Leute bleiben fünf Jahre, zehn Jahre im Transit. Nach zehn Jahren ist es kein Transit mehr, sondern eine Niederlassung.
Die Immigranten konzentrieren sich in einigen Stadtvierteln, einerseits aus wirtschaftlichen Gründen, wegen den Mietpreisen, und andererseits finden sich die einzelnen Gruppen verschiedener Herkunft zu ihrer Sicherheit zusammen. Hier ist enorm viel Faschismus und Rassismus zu spüren und es gibt zahlreiche Überfälle auf Migranten auf offener Straße. Die Afrikaner bleiben zum Beispiel in Aksaray, Richtung Kumkapi, wo das Abschiebegefängnis ist, und auch in Kurtulus. Die Afghanen sind in einem anderen Stadtviertel, in Zeytinburnu.
Archipel: Seit Jahrzehnten gibt es eine starke Migration innerhalb der Türkei. Die Gründe dafür sind Landflucht, Repression und Kriege, vor allem in den kurdisch besiedelten Gebieten in Ostanatolien. Vor allem in den 1980er und 90er Jahren, als Tausende kurdischer Dörfer von der Armee in Brand gesteckt und zerstört wurden, gab es eine innertürkische Zwangsmigration. Es wohnen also viele Kurden in den Istanbuler Stadtvierteln, und all diese ethnischen Gemeinschaften kommen schwer miteinander zurecht.
Man wird Euch sagen, dass es keinen Rassismus in der Türkei gibt, man liebt die Afrikaner. Sie sind Basketballspieler oder sie gleichen zum Beispiel dem Bild des amerikanischen Rapsängers. Viele sind aber Rassisten, weil sie es nicht gewohnt sind, mit Migranten zu leben. Schon die interne Migration führt zu großen Gewalt- und Rassismusproblemen zwischen Türken und Kurden in den Städten im westlichen Landesteil. Die Migranten wollen nicht sichtbar sein, sie wollen nach Europa, aber andererseits haben sie wirklich Angst. Ich erinnere mich, vor drei Jahren war ich mit Jugendlichen aus dem Kongo unterwegs, und Leute kamen, um ihr Haar anzufassen, Kinder berührten ihre Haut und fragten, warum sie schwarz seien. Das ist eher Unkenntnis. Manchmal aber ist es von Rassismus begleitet.
Wie Spanien, Italien oder Griechenland ist die Türkei ein Land, aus dem viele Menschen emigriert sind. Viele Familien haben Angehörige in Deutschland, Belgien oder Frankreich. Die Geschichte der Migration ist auch ihre Geschichte. Können sie die Situation der heutigen Migranten nicht verstehen?
Das Problem liegt darin, dass die Migrationsfrage in der Türkei nicht zur Debatte steht. Niemand weiß Bescheid, dass Migranten in der Türkei landen, um zu versuchen, in die EU zu kommen, niemand weiß, was ein Abschiebegefängnis ist. Sogar der Nachbar von gegenüber weiß nicht, was es ist – «die Leute da drinnen sind Kriminelle, sie haben was angestellt, man hat sie verhaftet und ins Gefängnis gesperrt». Die Unkenntnis ist unvorstellbar. Es gibt auch konzeptuelle Vorstellungen, die unterschiedlich in der Türkei verwendet werden: Nennt man zum Beispiel Migranten Göçmen, dann sind damit alle gemeint, die aus dem Balkan, Bulgarien etc. kommen und türkischer Abstammung sind.
Spricht man von Afrikanern, sagen die Türken Kaçak, das sind Illegale. Man weiß nicht, was diese Leute hier tun, was sie wollen und vor allem, warum sie in die Türkei kommen. Es ist kein reiches Land, die Situation ist schon schwierig, und es herrscht ein totales Unverständnis.
Die Türkei ist Anwärterin auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Dies wird sicherlich nicht in nächster Zeit passieren, trotzdem führt das Land ziemlich intensive Verhandlungen mit Brüssel. Es wird sehr viel Druck auf ein Land ausgeübt, das an der Außengrenze liegt, was die «Kontrolle des Migrationsflusses» betrifft, wie man es nennt.
Die EU übt großen Druck bezüglich der Migrationsfrage auf die Türkei aus. Einerseits, damit die Türkei ihre Grenzen auf effizientere Weise kontrolliert, andererseits, damit sie zu einer Art Pufferstaat zwischen der EU und dem Iran und dem Irak wird. Aus diesen beiden Ländern und Afghanistan kommen die meisten Flüchtlinge. Es herrschen enorme Konflikte und Spannungen in den angrenzenden Ländern. Die EU fordert mit Nachdruck die Rücknahme der Flüchtlinge, die illegal in Europa sind. Bisher trat die Türkei heuchlerisch auf und sagt, wenn die EU kein Geld für die Grenzkontrolle bereitstelle, wolle sie nicht der «Abfalleimer» der EU sein, der alle Migranten zurück nimmt und alle, die ankommen, behält.
Seit einiger Zeit aber zeigt die Türkei viel mehr Kooperationswillen, weil sie die Verhandlungen über Rücknahmeabkommen von Flüchtlingen wieder aufgenommen hat. Es ist ein politisches Spiel in dem Sinn, dass schlussendlich alle es schaffen, sich über die Migrationsfrage zu verständigen. Bezüglich anderer Themen gibt es hingegen kein Weiterkommen, wie in der Zypernfrage, den Menschenrechten, den Gefängnissen, der Kurdenfrage...
Wie verläuft die Grenze zwischen der Türkei und der EU?
Es gibt die Grenze auf dem Festland von Bulgarien und Griechenland zur Türkei. Das Gebiet ist bergig und der Fluss Evros bildet die Grenze. Die zweite Grenze ist das Ägäische Meer mit all den griechischen Inseln, nur wenige Kilometer vor der türkischen Küste. Inseln wie Samos, Lesbos und Chios liegen in nicht einmal 20 km Entfernung zur türkischen Küste. Das Ägäische Meer ist sehr schwierig zu überwachen. Für die EU bleibt es eine problematische Grenze, wo es nicht genügt, Zäune aufzubauen wie in Ceuta und Melilla. Folglich gelingt es vielen Menschen, diese Grenze zu überwinden.
Die Situation ist äußerst dramatisch, weil diese Grenze mit großer Polizei- und Militärpräsenz bewacht wird. Im Gebiet von Evros ist die Grenze auch sehr militarisiert auf Grund der Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei. Als Antwort auf die türkische Militärintervention auf Zypern verminte Griechenland seine Grenze. Ursprünglich richten sich die Minen nicht gegen die Migranten. Man sagte mir, die Entminung hätte vor einigen Monaten begonnen. Viele Migranten haben aber ihr Leben auf den Minenfeldern verloren, andere starben während der nächtlichen Überquerung der Berge. Es gibt Geschichten von Menschen, die von Wölfen angefallen wurden. Andere versuchen, den Fluss zu durchschwimmen und ertrinken dabei. Die Menschen brechen ins Ägäische Meer mit kleinen, überfüllten Schlauchbooten auf. Zu Vierzigst in einem Boot mit einem kleinen Motor versuchen sie des Nachts, zu den griechischen Inseln überzusetzen. Es passieren viele Unfälle und die Leute ertrinken. Die griechische Küstenwache beschlagnahmt oft die Ruder, den Schiffsmotor oder stechen die Schlauchboote an, damit die Türken gezwungen sind, die Migranten an Land zu holen.
Ich hörte auch viele Geschichten von Schnellbooten der Küstenwache: Sie umkreisen die Wasserfahrzeuge, um Wellen zu erzeugen, viele Menschen fallen deswegen ins Wasser und kommen ums Leben.
Sicherlich vergrößert auch die Überwachung von Frontex1 das Risiko. Ihre Hauptmission ist, Migranten an den Grenzen aufzugreifen und zurück zu schicken. Die Agenten von Frontex sind an den Ausweisungen per Charterflugzeug beteiligt, an den Kontrollen im Meer und auf dem Land. Sie sind bewaffnet und haben das Recht zu schießen, wenn sie sich bedroht fühlen. Zu ihren Aufgaben zählt nicht, Migranten zu retten, wenn diese in Gefahr sind. Ihr Hauptziel ist zu gewährleisten, dass die Migranten nicht den Boden der EU betreten.
Man muss sagen, dass Frontex im westlichen Teil des Mittelmeers zwischen Marokko, Libyen und dem Süden Europas und auch im Raum der kanarischen Inseln Erfolg hatte. Die Anzahl der Migranten, die es schaffen, nach Europa zu kommen, hat sich verringert – folglich muss sich der Druck auf die türkisch–griechische Zone verstärken.
Aus diesem Grund kommen immer mehr Migranten über Istanbul. Das Übersetzen von Marokko aus ist heute praktisch unmöglich. Die Migranten siedeln sich jetzt in Marokko an. Das gleiche gilt für Libyen. Es ist sehr schwer geworden, via Malta oder Lampedusa in die EU zu gelangen. Der Migrationsfluss ändert folglich die Route. Ich traf Afrikaner aus Schwarzafrika, die in Marokko waren, aber als sie begriffen, dass sie über diesen Weg nicht nach Europa kommen, umwanderten sie das Mittelmeer bis in die Türkei.
Die Türkei verweigerte bis jetzt ihre Beteiligung an Frontex, aber Zeichen deuten darauf hin, dass sich dies ändern könnte.
In den Augen der Türkei war Frontex immer wie eine Bedrohung für ihre nationale Souveränität. Es ereigneten sich ziemlich bizarre Situationen, in denen Flugzeuge von Frontex über dem Ägäischen Meer patrouillierten, um Migranten aufzuspüren und Funksprüche von den türkischen Kontrolltürmen erhielten: «Sie befinden sich im türkischen Luftraum, ich ersuche Sie, in Ihren Luftraum zurückzukehren.» Die Flugzeuge von Frontex ignorierten die Mitteilung, also sind türkische Flugzeuge gekommen, um sie bis zum griechischen Luftraum zu begleiten.
Dieses Jahr wurde anscheinend ein Grundsatzabkommen zwischen Frontex und den türkischen Behörden unterzeichnet, nur gibt es keinerlei Information darüber. Ich habe mehrmals versucht, mit Frontex Kontakt aufzunehmen, um zu wissen, was in der Türkei passiert, aber ich bekam nie eine Antwort.
Die Türkei ist ein Land, in dem die Armee eine sehr wichtige Rolle spielt. Die Grenzen mit dem Irak und dem Iran werden strengstens bewacht, und nach wie vor besteht der Konflikt mit der PKK. Die EU hätte gerne, dass die Türkei eine neue starke Grenzpolizei gründet, die Armee will aber ihre Machtposition nicht aufgeben.
Die EU fordert die Einrichtung einer einzigen, vom Militär unabhängigen, an das Innenministerium gebundene Grenzkontroll-Agentur. Zurzeit werden die Grenzen von fünf verschiedenen Autoritäten bewacht: Gendarmen, Militär, Küstenwache, Zollwache und Fremdenpolizei. Diese hängen entweder vom Innenministerium oder von der Armee ab. Es ist also nicht ganz klar, wie die Grenzen kontrolliert werden. Die Armee ist jedenfalls nicht bereit, ihre Rolle anderen zu überlassen.
Dennoch verliert sie immer mehr an Einfluss. Die AKP, die derzeitige islamistische Regierungspartei, versucht die Armee zu neutralisieren. Bei dem Skandal von Ergenekon2, als ein ultra-nationalistischer Staatsstreich stattfinden sollte, wurden viele wichtige Armeemitglieder verhaftet. Die Armee ist zwar nicht mehr so wichtig, hat aber immer noch eine starke Legitimität und angesichts der Situation im Osten wird sie dort wohl nicht so schnell an Bedeutung verlieren. Dieses Jahr gab es einen ersten Ansatz von Gesprächsbereitschaft in der Kurdenfrage von Seiten der Regierung, der zu nichts führte; aber immerhin wurde diese Problematik zum ersten Mal in dieser Art diskutiert. Vor drei Wochen haben die Militäroperationen im Osten aber wieder angefangen; vor zwei Wochen ist eine Bombe in Istanbul explodiert. Wir haben wieder eine Periode der Anspannung und Krise vor uns.
Die Türkei hat regelmäßige Ausbildungsprogramme für die Küstenwache und die Grenzpolizei sowie den Austausch von Kompetenzen und Information akzeptiert. Es wird sehr viel europäisches Geld in die Grenzverwaltung gesteckt – ungefähr zehn Millionen Euro. Die EU besteht auf eine Zusammenarbeit mit Frontex; das kommt der Türkei gelegen, denn so wird von anderen gravierenden Problemen nicht mehr geredet.
Es gibt bereits Flüchtlinge und Migranten, die in die Türkei zurückgeschickt werden. Was machen die türkischen Behörden mit diesen Menschen? Es gibt Abschiebelager, aber werden Afghanen und Afrikaner von den Türken zurückgeschickt?
Im Moment hat die Türkei bereits 35 Rücknahmeabkommen abgeschlossen und verhandelt auch mit Afghanistan, Pakistan, den meisten afrikanischen und vielen asiatischen Ländern. Mit den osteuropäischen Ländern hat sie noch kaum Abkommen. Eine der Bedingungen für die Verhandlungen über ein Rückübernahme-Abkommen mit der EU ist, dass Brüssel die Türkei in ihren Verhandlungen mit den Herkunftsländern unterstützt.
Zurzeit schiebt die Türkei viel nach Afghanistan, in den Irak und den Iran ab. Das ist einfacher, weil diese Länder nahe sind. Für den Irak und den Iran muss man die Flüchtlinge nur in einen Bus stecken, an die Grenze schicken und den Behörden auf der anderen Seite übergeben.
Nach Afrika wird hingegen von der Türkei aus selten abgeschoben. Bis jetzt wird das hier so gehandhabt: «Wenn du selber dein Flugticket zahlst, schicken wir dich zurück, wenn nicht, bleibst du in Haft.» Deswegen dauert die Abschiebehaft oft jahrelang. Wenn die Behörden die Nase voll haben, weil der Flüchtling schon seit zwei, drei Jahren da ist, oder das Gefängnis übervoll ist, oder es Aufstände gibt, wird eine Art Papier ausgestellt, auf dem steht, dass du binnen 30 Tagen das Land verlassen musst. Mit diesem Schriftstück darf man aber nicht über die Grenze – es nützt dir also nichts. Es geht eigentlich nur darum, ein bisschen Platz in den Abschiebelagern zu machen.
Ab diesem Jahr sollen neue Reformen verhandelt werden. Die Abschiebelager hießen «Herberge für Gäste», ein äußerst unpassender Name. Die EU hat ein riesiges Budget für die Türkei locker gemacht, um sieben «Screening Centers» einzurichten – Zentren, in denen die Asylgesuche sortiert werden sollen. Diese Zentren dienen sowohl zum Sortieren, als auch für die behördliche Haft. Eine Hälfte des Gebäudes soll offen, die andere geschlossen sein; dort kommen die Asylwerber, deren Gesuch als unbegründet eingestuft wird, direkt in Abschiebehaft. Es sollen auch andere neue Abschiebezentren eröffnet werden.
Das Ausschaffungssystem wird also immer mehr den «europäischen Normen» angeglichen.
In unserem Arbeitskreis habe ich auch von den schrecklichen Geschichten der Flüchtlinge gehört, die im Osten der Türkei in einen Fluss geworfen und so beseitigt wurden.
Das war in Silopi, wo eine Gruppe von ca. dreißig Leuten, die aus dem Irak kamen, aufgegriffen wurde. Die türkische Polizei wollte sie den irakischen Behörden übergeben, die jedoch nur fünfzehn von ihnen akzeptiert haben. Nachdem die türkischen Behörden nicht wussten, was sie mit den Restlichen machen sollten, warfen sie diese in den Tigris. Einige Körper wurden wieder gefunden – andere nicht. Die Nachricht gelangte nach Istanbul, wo sie in der Presse veröffentlicht wurde. Ich bin sicher, dass solche Gräuel jede Woche stattfinden, nur wird es nicht bekannt. Diese Grenzen sind dermaßen militarisiert; dort ist «Niemandsland».
Seit wann gibt es das Migrant Solidarity Network?
Im Sommer vor einem Jahr mobilisierten sich verschiedene Sozialbewegungen der türkischen Linken unter dem gemeinsamen Namen «Istanbul im Widerstand» gegen das für Oktober angekündigte Treffen der Weltbank und des IWF. Es wurden Arbeitsgruppen für verschiedene Themenbereiche gebildet: Urbanisierung, Gentrifikation3, ökologische Fragen …und wir haben mit einigen Leuten eine Gruppe gebildet, die sich mit den Fragen von Migration auseinandersetzt und gegen die Abschiebezentren, für die Öffnung der Grenzen und Bewegungsfreiheit eintritt. Nach Ende des Gipfeltreffens hat «Istanbul im Widerstand» faktisch aufgehört, die Arbeitsgruppen haben aber weitergemacht. In dem Moment haben wir das Migrant Solidarity Network gegründet.
Auf der Mailing-list sind wir ungefähr 300 Personen in Istanbul; an unseren Treffen und Aktionen nehmen ca. zwanzig Leute regelmäßig teil. Wir sind kein Verein, sondern ein Netzwerk. Unser Ziel ist es, die Unsichtbarkeit der Immigration zu durchbrechen und dieses Anliegen, der türkischen Linken und den Gewerkschaften in ihre Agenda zu schreiben. Wir wollen dieses völlig absurde Internierungssystem an die Öffentlichkeit bringen. Die Leute bleiben oft ein bis zwei Jahre eingesperrt, manche bis zu fünf Jahren, aufgrund nicht vorhandener Papiere. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, klar zu machen, dass es sich bei diesen «Zentren» um Gefängnisse handelt. Niemand weiß, dass hier schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden; es gibt Berichte über Folter. Wir fordern schlicht und einfach die Schließung all dieser Gefängnisse für die Abschiebehaft.
Es gibt so viele andere Probleme in der Türkei, dass die Leute nicht wirklich darauf achten, was hier passiert. Das Ägäische Meer ist ein wahrhaftiger Friedhof geworden. Und in den Bergen bei Van, im Osten der Türkei sterben fast täglich Menschen, ohne dass jemand davon weiß. Van ist eine Stadt mit hoher Konzentration von Flüchtlingen und Migranten aus Afghanistan und dem Iran.
Dieses Forum bot Euch Gelegenheit, sich mit anderen Netzwerken, die in Europa arbeiten, zusammen zu schließen. Es wird kaum über die Kriegsfolgen in Afghanistan informiert, wo europäische Truppen stationiert sind.
Einer der positiven Aspekte dieses Sozialforums ist, Netzwerke bilden zu können mit Aktivisten, die im selben Bereich arbeiten. Mit den Aktivisten aus Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland haben wir am Sozialforum das Netzwerk für Migration eingerichtet.
Wir haben eine ganze Reihe von Diskussionen in den Seminaren organisiert. So konnten wir die Situation in der Türkei erklären, die kaum bekannt ist.
Wir haben in der Migrationsfrage nicht von Null angefangen, sondern konnten uns auf die Überlegungen und Aktionen stützen, die wir vorher durchgeführt hatten. Wir kamen mit einem sehr konkreten Aktionskalender aus der Diskussion und konnten auch hier Aktionen durchführen. Wir haben vor dem Internierungszentrum von Kumkapi demonstriert und haben dort durch die Fenster mit den MigrantInnen in verschiedenen Sprachen gesprochen.
Einziger negative Nebeneffekt dieser Demonstration, an der 150 Personen teilgenommen haben, könnte sein, dass sie Konsequenzen für uns haben wird: Wenn wir nächstes Mal zu dreißigst oder vierzigst kommen, kann es uns sehr schlecht ergehen. Die Polizei wird sich rächen. Na ja, wir werden sehen, was passiert.
Gibt es etwas für die nächsten Monate anzukündigen?
Ja, schon in diesem Sommer gab es in Samos und Lesbos ein griechisches No Border Camp mit Aktionen gegen Frontex. Ende September findet dann das No Border Camp in Brüssel statt und im Oktober eine Aktion in Oujda in Marokko anlässlich des 5. Jahrestages der Geschehnisse in Mellila. Geplant sind eine Konferenz und eine Demonstration vor dem Gitterzaun von Mellila. Im Januar startet eine Karawane in Bamako zum Weltsozialforum nach Dakar, um gegen die Ausgliederung der Grenzkontrolle und die Art und Weise der EU, die Flüchtlingsströme zu verwalten, zu protestieren.
Wir werden versuchen, mit türkischen Gruppen internationale Aktionstage zur Frage der Abschiebehaft ins Leben zu rufen. Wir haben auch vor, mit Gruppen und Netzwerken, die in einer anderen Problematik arbeiten wie Klimawandel, Unterdrückung durch den Staat, Erziehung etc., Gemeinsamkeiten zu finden.