U.S.A. :Falsche Noten in New Orleans

von Cédric Bertaud ( EBF, Radio Zinzine), 23.11.2005, Veröffentlicht in Archipel 131

Der Wirbelsturm Katrina – warum unbedingt ein Frauenname? – hat 235.000 Quadratkilometer verwüstet, das entspricht etwa der Hälfte der Oberfläche Frankreichs. Mit etwas Distanz will ich nun versuchen, anhand einiger aus der Nachrichtenflut herausgefilterter Informationen und Analysen, über die Konsequenzen dieser Katastrophe zu berichten.

Am meisten aufgeregt hat mich die Berichterstattung über die Plünderungen und das Verhalten der Ordnungskräfte. Sehr rasch nach dem Wirbelsturm begannen die Medien, vom Chaos zu sprechen und die Bevölkerung (zwei Drittel Schwarze, ein Drittel unter der Armutsgrenze lebend) zu stigmatisieren. Man las von Supermärkten, in denen Waffen und von Spitälern, in denen Medikamente entwendet wurden. Auch ich ließ mich anfänglich von der „Desinformation“ über die Plünderungen blenden. Ich brauchte einige Tage, einige Diskussionen, Vergleiche zwischen verschiedenen Artikeln und die Lektüre einiger Augenzeugenberichte, um mir etwas Klarheit zu verschaffen.

Die Personen, die nach dem Hurrikan in der Stadt blieben, sind jene, die nicht die Möglichkeit hatten zu fliehen, denn es gab keine öffentlich zur Verfügung gestellten Transportmittel. Von den 500 Schulautobussen standen 400 unter Wasser. Der Wirbelsturm hatte überdies am Monatsende gewütet, ein schwerer Zeitpunkt für alle, die sonst auch nur schlecht und recht über die Runden kommen. Die Löhne sollten am Freitag ausbezahlt werden. Die meisten Leute, die geblieben sind, hatten ganz einfach keinen Ort, wohin sie gehen konnten, kein Transportmittel und kein Geld. Dazu kommt, dass ein Teil der Bevölkerung mit Lebensmittelkarten lebt, die aber nur für drei Wochen im Monat reichen. Sie hatte also keine andere Wahl, als Essbares dort herzunehmen, wo es war. Man könnte sogar sagen, dass die Plünderungen Zeichen gesunden Hausverstandes waren: „Man soll die Esswaren nicht verderben lassen“. Wenn man Bilder von den so genannten Plünderungen sieht, dann sind es keine Horden von Barbaren, welche über die Supermärkte herfallen, sondern Mütter mit Kindern, die mit Wasserflaschen oder Ähnlichem weggehen. Selbst wenn teure Fernsehapparate gestohlen wurden, dann wahrscheinlich, um sie gegen Benzin, Essen oder einen Platz in einem Autobus einzutauschen. Viele meist ältere Personen erzählten, dass sie von jungen Leuten „gestohlenes“ Wasser oder Esswaren bekommen haben.

Der Rap-Sänger Kanye West sagt sehr treffend zur Berichterstattung über die „Plünderungen“: „Sie sehen eine schwarze Familie, das sind Plünderer, Sie sehen eine weiße Familie, das sind Menschen, die etwas zu essen suchen.“

Doch so einfach kommt man nicht an Privateigentum heran. Die 300 ersten Soldaten, die in New Orleans ankamen, waren vorher im Irak gewesen und hatten denselben Befehl wie die Soldaten in London nach den Attentaten: „Schießen, um zu töten.“ (1) In New Orleans gab es keinen brasilianischen Elektriker, es ist hingegen erwiesen, dass die Ordnungskräfte auf mindestens acht „Plünderer“ geschossen haben, von denen fünf getötet und einer schwer verletzt wurden. (2)

Ordnung über alles Diese Katastrophe ist viel größer, viel schwerwiegender als der 11. September, aber man wird es nicht wagen, Parallelen zu ziehen. Die Medien- und Staatsmanipulation ist bei terroristischen Attentaten vital. Rassismus, schlechte Organisation und Überheblichkeit der Führenden sind weniger tragisch und vor allem weniger rentabel als die Delirien eines Bin Laden.

Die Nationalgarde (man spricht von 30.000 Männern) patrouillierte zusammen mit den Polizisten, welche schon bald die Rettungsaktionen aufgaben, um sich der Aufrechterhaltung der Ordnung zu widmen. Malik Rahim, ein ehemaliger „Black Panther“, der in New Orleans lebte, berichtete am 3. September von weißen Privatmilizen, die von Lastwagen aus auf Schwarze schossen. Doch darüber kein Wort in den Medien. Auch kein Wort über die Söldner der privaten Sicherheitskompagnie „Blackwater“, die üblicherweise Persönlichkeiten wie Paul Bremer im Irak beschützt oder sich bei Angriffen wie dem auf die Stadt Fallouja hervortut. Auch wenn das Departement des Inneren es leugnet, so geben die Söldner ihrerseits zu, mit diesem Departement unter Vertrag zu stehen. Wir beobachten hier also paramilitärische Gruppen und die Privatisierung des Krieges und der Aufrechterhaltung der Ordnung. Ich werde aber dennoch nicht so weit gehen, den öffentlichen Dienst in diesem Bereich zu verteidigen…

Was in der Presse ein wenig durchkommt ist die tägliche Gewalt und Korruption innerhalb der Polizeikräfte von New Orleans: 10 Tote durch Erschießungen und zwei Vergewaltigungen in Kommissariaten seit Beginn des Jahres waren bisher bekannt. Niemand stellte hingegen Fragen über die Bedeutung der massiven Dienstquittierungen (man spricht von 500 bis 1000 und schätzt, dass die sonst noch fehlenden 1000 Individuen „verschwunden“ sind) von PolizistInnen. Es wurden sogar PolizistInnen gesehen, die an den Plünderungen teilnahmen.

Und wer hat übrigens Informationen über die Tausenden Gefangenen dieser Stadt, Minderjährige inbegriffen? Sind sie in ihren Zellen ertrunken, wie gewisse Augenzeugenberichte andeuten, oder wurden sie evakuiert? Wahrscheinlich beides…

Der berühmte Satz, der die Rolle der Ordnungskräfte definiert, sagt sehr klar: „Schutz der Güter geht vor Schutz der Personen“!

Ich frage mich, wie die Journalisten nachts schlafen und morgens in den Spiegel schauen können, wenn man Bilder sieht von Menschen, die um Wasser und Essen bitten, und die Kamera läuft weiter… Dieses Verhalten ist so banal, dass es leider kaum noch jemanden schockiert.

Merkwürdige Organisation Malik Rahim spricht auch von dem Stadtviertel, in dem er lebt, das algerische Viertel, das von den Wasserfluten verschont geblieben ist. Er schätzt, dass 40.000 Personen dort hätten untergebracht werden können, in öffentlichen Gebäuden, Kirchen usw. Er erzählt auch, dass sie dort noch eine Woche nach Beginn der Katastrophe Trinkwasser hatten. Aber die Behörden zogen es vor, 30.000 Menschen in einem Stadion zusammenzupferchen, mit einem entsetzlichen Geruch von schon bald verstopften Toiletten und Leichen, die begannen sich zu zersetzen.

Als die Leute nach dem Wirbelsturm begannen, in dieses Stadion zu fliehen, mussten sie vier bis fünf Stunden im Regen warten: Die Soldaten durchsuchten alle Leute einzeln. Wenn sie einmal drinnen waren, konnten sie nicht mehr heraus, bis drei Tage später Busse kamen, die sie auf das Astrodrom von Houston brachten. Wenn du auf dem Weg Freunde hattest, die dich eventuell hätten aufnehmen können, durftest du nicht aussteigen, du musstest bis zur Endstation im Bus bleiben. Rahim sagte auch, dass er Leuten Wasser bringen wollte, aber daran gehindert wurde, und die Soldaten sagten: „Entweder können Sie allen etwas geben, oder sonst keinem.“ Die Anzahl der Aussagen über Soldaten, welche die Leute daran hinderten, sich gegenseitig zu helfen, ist erschreckend. Der 18-jährige Jabbor Gibbson wurde verhaftet, weil er einen Bus „stahl“, ihn mit verzweifelten Menschen füllte und bis nach Houston fuhr. Verdient er auch die Todesstrafe?

Und übrigens: Die vielen Menschen, die, wie wir gesehen haben, mehrheitlich arm sind, wie werden sie in einigen Monaten zurückkehren? Wer wird ihnen die Rückfahrkarte bezahlen?

Für die Menschen, die aus New Orleans fliehen mussten, ist der Leidensweg noch lange nicht zu Ende. An die 400 Personen wurden in Fort Smith untergebracht, eine ehemalige Militärbasis in Arkansas. Seit Jahren rätseln die Behörden darüber, wie sie diesen riesigen „Mülleimer“ beseitigen könnten: Farben mit Bleigehalt, mit giftigen Chemikalien behandelte Balken usw… Bisher konnte aufgrund des hohen Giftgehalts in den Baumaterialien keine Lösung gefunden werden. Die Baracken sind nicht isoliert, es herrscht erstickende Hitze und die Leute dürfen nicht hinaus. Man könnte meinen, es handle sich um Gefangenenlager und nicht um Unterkünfte für Menschen, die alles verloren haben und unter Schock stehen.

Naturkatastrophe? Auch eine Supermacht ist also nicht vor Naturkatastrophen gefeit. Eine Naturkatastrophe? Die Experten haben keinen Beweis dafür, dass es einen Bezug gibt zwischen der Erwärmung der Erde und der Intensität dieses Hurrikans. O.K. Eines aber ist sicher: Die Meerestemperatur muss über 26 Grad betragen, damit sich ein Wirbelsturm bildet – Erwärmung der Erde, der Meere… Eine Reihe von Experten sagen übrigens schon seit langem voraus, dass Hurrikans mit der Erderwärmung häufiger werden. Die Tatsache, dass letztes Jahr zum ersten Mal im Südatlantik ein Wirbelsturm aufgetreten ist, in einem Gebiet, wo es das noch nie gab, und dass etwa anderthalb Wochen nach Katrina vor der Küste Barcelonas Tornados vorbeizogen, ist doch beunruhigend, oder?

Die Zerstörung von New Orleans rührt übrigens viel mehr vom Einsturz der Dämme her als vom Hurrikan selbst. Bush verringerte das Budget der „New Orleans Corps of Engineers“ um 71,2 Millionen Dollar (44 Prozent) wegen der hohen Ausgaben für den Kampf gegen den Terrorismus. Nicht leicht, auf diese Weise Dämme instand zu halten… Ganz zu schweigen von den 64 Quadratkilometern Moore und Sümpfe, die jedes Jahr verschwinden und die eine wichtige Rolle spielten, wenn das Wasser stieg.

Umweltverschmutzung Wenn eine Naturkatastrophe vorliegt, dann muss man ihre Ursachen auch in der Umweltverschmutzung suchen: 20 Erdöl-Bohrtürme untergegangen, acht Raffinerien außer Betrieb (3), ein Depot für Erdöl-Abfall und zwei weitere Chemiebetriebe in Flammen aufgegangen. Man weiß nicht, ob der Rauch giftig war. Man muss auch wissen wollen. Das US-Umweltministerium erklärte, die einzige Lösung sei, all diesen Müll im Golf von Mexiko zu versenken, wo er sich mit der Zeit auflösen würde. Wahrscheinlich ist es in dieser Situation wirklich die einzige Lösung.

In der vom Hurrikan betroffenen Region wurde ein Achtel des US-Erdölverbrauchs verarbeitet, der amerikanische Verbrauch entspricht einem Viertel des weltweiten Konsums. Kein Wunder, dass einige vor einer neuen Erdölkrise zittern!

Die wirtschaftlichen Folgen sind auch nicht nur in der Erhöhung der Erdölpreise zu spüren. Über das Mississippi-Delta wurden 70 Millionen Kubikmeter amerikanischer Waren exportiert. Transporte über den Landweg werden in der jetzigen Situation kaum eine Alternative dazu sein. Die Produkte der intensiven Landwirtschaft müssen auch gelagert werden. 1,6 Millionen Kaffeesäcke sind bereits in den Lagern von Procter und Gamble verschimmelt. Die Liste der betroffenen Bereiche wäre zu lange, als dass ich hier im Detail darauf eingehen könnte.

Diese Katastrophe zeigt den Zustand der Auflösung, in dem sich dieses Land befindet, den riesigen Graben zwischen den Eliten und der Bevölkerung sowie die Blindheit dieser Eliten in Bezug auf die wahren Lebensbedingungen ihrer „Untertanen“. Die Supermacht ist ein Riese mit Füßen aus Ton, Ton, der sich im Wasser auflöst, bei Überschwemmungen zum Beispiel…

Die einzige gute Nachricht in diesem Chaos ist die Tatsache, dass alle Akten der Polizei und der Gerichte von New Orleans mit den Schwermetallen im Golf von Mexiko liegen.

Unser wunderbares System hängt also an Dämmen von vier Metern Höhe. Das ist reichlich wenig.

Cédric Bertaud

EBF, Radio Zinzine

(1) Die Gouverneurin Kathleen Blanco erklärte: „Diese Truppen (die 300 Mann von der Nationalgarde) können schießen und töten. Sie zögern nicht, es zu tun und ich hoffen, sie werden es tun.“

(2) Es ist schwierig zu wissen, was sich wirklich abgespielt hat. Associated Press berichtete, dass die Opfer unter Vertrag mit dem Department fü Verteidigung standen, der New-Zealand Herald hingegen sprach von "Plünderern", die auf die Polizisten geschossen hatten. Wie auch immer. die Polizei lieferte zwei verschiedene Versionen innerhalb von einer halben Stunde, in der ersten war keine Rede von einer Schießerei mit der Polizei.

(3) eine davon bekannt für Missachtung der Regelungen... Die USA haben seit 1971 keine einzige mehr gebaut

In letzter Minute

Dieser Artikel wurde vor dem zweiten Hurrikan "Rita" geschrieben. Er stützt sich vor allem auf Artikel, die in den großen französischen Tageszeitungen erschienen sind sowie auf Berichte von <neworleans.indymedia.org>.

Nach dem zweiten Hurrikan wurden einige Informationen, insbesondere in Bezug auf die Erölindustrie im Golf von Mexiko in Frage gestellt. Ich hatte leider keine Zeit, dies zu überprüfen.

Radiosendung „Europa von unten“ - Oktober 2005

1. Ein anderes Europa ist möglich - Am Weg zu einer EU-Verfassung von unten

Interview mit dem Lateinamerikaexperten und Journalisten Leo Gabriel, der sich seit Langem im Rahmen der Sozialforen und der Euromärsche engagiert. Mit der Ablehnung der Referenden zur „EU-Verfassung“ in Frankreich und Luxemburg tat sich ein Fenster auf, das Handlungsspielraum für die Sozialbewegungen schaffte. Unter dem Titel „Europa: Den Völkern eine Stimme!“ sollen in den nächsten Monaten im Rahmen lokaler Foren Alternativstrategien diskutiert und eine gemeinsame Forderungsliste an eine echte Europäische Verfassung erarbeitet werden.

Mehr Infos unter: www.socialforum.at , www.kaernoel.at

2. Situationsbericht aus Rumänien

von Joachim Cotaru

Nach den enormen Regenfällen der letzten Monate sind große Teile des Landes von den Auswirkungen der Flutkatastrophe betroffen. Angesichts innenpolitischer Zwistigkeiten und dem Druck, die Vorgaben für den EU-Beitritt zu erfüllen, versäumte die Regierung rasch die wichtigsten Entscheidungen zur Katastrophenhilfe zu treffen. Jochen Cotaru vermittelt ein Stimmungsbild aus Rumänien, in dem sich alle Hoffnungen – berechtigt oder unberechtigt – an den baldigen EU-Betritt klammern.

3. Wohnen im Postsozialismus – Gesellschaften von Eigentümern?

Vorstellung der aktuellen Nummer der Vierteljahresachrift Ost-West-Gegeninformationen

Mit der Wende 1989 wurde in fast allen Ländern Ost und Südosteuropas eine Privatisierungswelle im Wohnungssektor ausgelöst, die historisch vermutlich einmalig ist. In der aktuellen Ausgabe der Ost-West-Gegeninformationen werden in einer Reihe von Beiträgen die Situation in Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Rumänien und Russland unter die Lupe genommen.

Bestellungen unter:

http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/csbsc/ostwest/