UKRAINE: Ein Jahr nach der "orangenen Revolution"

von Jürgen Kräftner (EBF, Ukraine ), 20.01.2006, Veröffentlicht in Archipel 132

Es war nicht schwer vorherzusehen, dass auf das fröhliche Volksfest der „orangenen Revolution“ die große Ernüchterung folgen würde. Unabhängige Intellektuelle hatten sich betreffs der Erneu-erung der politischen Klasse und einer neuen Politik keine großen Illusionen gemacht. Das hatte sie nicht daran gehindert, sich mehrere Wochen lang auf dem Kiewer Maidan die Füße abzufrieren.

Anzeichen dafür, dass sich Viktor Juschtschenkos Politik doch nicht so grundsätz-lich von jener seines Vor-gängers Leonid Kutschma unterscheiden würde, gab es schon nach wenigen Wo-chen.

Erste Schwierigkeiten ent-standen, weil der neue Prä-sident offenbar sowohl Julia Timoschenko als auch dem reichen Schokoladefabrikan-ten Poroschenko den Posten zum Ministerpräsidenten versprochen hatte. Juschtschenko entledigte sich des Problems, indem er einen „Nationalen Sicherheitsrat“ schuf. Dessen prompt ernannte Vorsitzen-de Petro Poroschenko machte in den folgenden Monaten regelmäßig pro-vokativ Politik im Wider-spruch zur Regierung.

Auch die Nominierungen der mächtigen Provinzgou-verneure verliefen chao-tisch und in offenem Wi-derspruch zur ukrainischen Verfassung. Die mächtige Präsidialverwaltung wurde kaum entschlackt und ist neben Regierung und Si-cherheitsrat ein dritter konkurrierender Machtpol.

Am 4. März 2005 wurde der frühere Innenminister Juri Krawtschenko mit zwei Kugeln im Kopf tot in seiner Datscha bei Kiew aufgefun-den. Einige Stunden später hätte er vor der General-staatsanwaltschaft aussagen sollen. Krawtschenko galt als Schlüsselfigur zwischen den Auftraggebern und den Mördern des unabhängigen Journalisten Georgij Gon-gadse im September 2000. Trotz der beiden Schusswunden schlossen General-staatsanwaltschaft, Innen-ministerium und Staatssi-cherheit einhellig auf Selbstmord. Einen Tag vor Krawtschenkos Tod hatte der Leiter der parlamentarischen Untersuchungskommission zum Fall Gon-gadse, der Abgeordnete Omeltschenko (Block Julia Timoschenko) den General-staatsanwalt aufgefordert, den ehemaligen Minister zum Schutz seines Lebens in Polizeigewahrsam zu nehmen.

Die Affäre Gongadse zieht sich wie ein rotes Band durch die jüngere Opposi-tionsbewegung der Ukraine. Nach den großspurigen Versprechen Juschtschenkos an die Mutter des Jour-nalisten und die Öffent-lichkeit, in kurzer Zeit Licht in dieses Staatsverbrechen zu bringen, ist heute klar, dass auch er in zu viele Interessenskonflikte ver-strickt ist, um die Auftrageber des Mordes vor Ge-richt zu bringen. Der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskom-mission bezichtigt neben Kutschma und Krawtschenko auch den derzeitigen Vorsitzenden des Parla-ments, Lytvyn1 der Urheberschaft an Gongadses Ermordung. Auf Betreiben Lytvyns und Juschtschenkos wurde der Bericht im Parlament nicht zur Debatte gestellt.

Ebenfalls schon im März protestierten Journalisten und Menschenrechtsakti-visten dagegen, dass auch Juschtschenko vom präsidialen Gewohnheitsrecht Gebrauch machte, geheime Dekrete zu erlassen, von denen nur die Nummern veröffentlicht werden. Leonid Kutschma hatte während seiner über zehnjährigen Amtszeit 873 sol-cher Dekrete erlassen. Die außerparlamentarische Op-position fordert ihre Veröf-fentlichung, um amtlichem Missbrauch einen Riegel vorzuschieben.

Trotz der hohen Erwartungen und des verstärkten Drucks der Öffentlichkeit blockieren mächtige Lobbies die Justiz. Auch der gewaltsame Tod des lang-jährigen Rektors der Uschgoroder Universität im Mai 2004 gilt weiter als Selbstmord, und es gibt keine ernstzunehmende Gruppierung, die es wagt, diese These öffentlich in Frage zu stellen.

Symbolik

Trotz ihrer politischen Brisanz wird die Affäre Gongadse in der Ukraine nur von einer Minderheit mitverfolgt. Der im Som-merloch veröffentlichte Serienbericht unter dem Titel „Der Sohn Gottes“ waren Juschtschenkos Aura als „Präsident des Volks“ schon bedeutend schäd-licher. Die unabhängige Internetinitiative Ukrainska Prawda 2 (gegründet von Gongadse) beschrieb detailliert den luxuriösen Le-bensstil Juschtschenkos 19-jährigen Sohns aus erster Ehe. Erstmals verlor der neue Präsident an einer Pressekonferenz die Nerven und brüllte den verantwortlichen Journalisten vor laufender Fernsehkamera an. Der Papa hatte seinem Sohn nach dem Ende der Revolution die lukrativen Vermarktungsrechte der orangenen Symbole übertragen.

Öffentlichkeit

In diese Atmosphäre schlug der Rücktritt des Stabschefs des Präsidenten Alexander Sintschenko3 wie eine Bombe ein. Die gut vorbereitete Pressekonferenz des abtretenden Sintschenko stellt eine Premiere in der Geschichte der Ukraine dar. Ausführlich erklärte er sei-nen Rücktritt mit der gras-sierenden Korruption im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten, ein Umfeld, das den Zeitplan und die Begeg-nungen Juschtschenkos kontrollierte und steuerte. In erster Linie handelt es sich um den Industriellen Poroschenko, der auch einen Fernsehkanal besitzt und als wichtigster Financier der Wahlkampagne Juschtschenkos gilt. Die Anschuldigungen treffen Juschtschenko tief, ist er doch mit den Versprechen von Transparenz, Bürger-nähe und Korruptionsbekämpfung angetreten.

Pikanterweise sind Poroschenko und der ebenfalls beschuldigte erste Sekretär des Präsidenten Tretjakow Taufpaten Juschtschenkos Kinder. Beide wurden drei Tage nach der Pressekonferenz Sintschenkos entlassen, aber dabei blieb es nicht. Mit ihnen musste auch gleich die ganze Regierung unter Premierministerin Julia Timoschenko unfrei-willig abdanken. Seit den Entlassungen vergeht kein Tag ohne neue Enthüllungen über Machtmissbrauch.

Neu an alldem ist eins: Trotz offensichtlicher Einflussnahme, besonders auf die großen Fernsehsender, hat die neue Macht kein Medienmonopol, so wie Kutschma und seine Mag-naten es hatten. Die zur Demission gezwungene Julia Timoschenko konnte sich aussuchen, auf welchem Fernsehkanal sie zu Primetime während 90 Minuten ihre Meinung kundtun wollte und tat dies äußerst wirkungsvoll. Erstaunt frag-te ein Politiker der alten Garde, wo man das schon gesehen habe, dass eine entlassene Politikerin sich auch noch vor den Medien produziere. Andere wiesen auf die komfortable Position Putins und Lukaschenkos hin: Was hört man schon von deren Regierungschefs?

In der Bevölkerung dominiert nun wieder das Gefühl, dass sich „die da oben“ ihre Geschäfte sowieso unterei-nander ausmachen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese „Normalisierung“ mit dem symbol-trächtigen Handschlag der beiden Opponenten Jusch-tschenko und Janukowitsch bei den Bemühungen, im Parlament eine Mehrheit für den neuen Regierungschef Jechanurow zu erreichen.

Julia Timoschenkos Regierungsbilanz

Die Bilanz ist durchzogen und muss vor allem unter einem Aspekt betrachtet werden: Seit der Machtübernahme von Juschtschenko befindet sich die Ukraine schon wieder in einer Vorwahlkampfperiode, spätestens im März 2006 müssen Parlamentswahlen abgehalten werden. Diese Wahlen sind von großer Bedeutung: Noch während der Umsturz-periode im vergangenen Dezember, am Ende der offiziellen Amtszeit Leonid Kutschmas, erfolgte eine tiefgreifende Verfassungs-änderung, welche die Vormachtstellung des Staatspräsidenten zugunsten von Parlament und Ministerrat abschafft. Die Verfassungs-änderung soll spätestens am 1. Januar 2006 in Kraft tre-ten.

Juschtschenkos Parteiblock und die Parteien der Regierungsallianz versu-chen, aus ihrer Machtposi-tion nach alter Manier Profit zu schlagen. Einerseits müssen die Parteikassen gefüllt, andererseits die Behörden bis in den lokalen Bereich so weit wie möglich unter Kontrolle gebracht werden. Das ukrainische Parlament besteht zu einem großen Teil aus reichen Ge-schäftsleuten. Mit der Einführung eines reinen Proporzsystems ab den nächsten Parlamentswahlen sind die Preise für wählbare Plätze auf den Parteilisten in astronomische Höhen gestiegen. Die Rede ist von 2 Millionen US-Dollar für ein Abge-ordnetenmandat.

Julia Timoschenko mit ihrem eigenen Wahlbündnis zählt vor allem auf ihre persönliche Popularität. Deshalb ließ sie während ihrer kurzen Regierungszeit nichts unversucht, um der Bevölkerung zu beweisen, wie gut sie es meinte. Von liberaler Wirtschaftspolitik kann jedenfalls nicht die Rede sein. Beamtengehälter und Arbeitslosengeld wur-den um mehr als 20 Prozent, die Mindestlöhne um fast 40 Prozent erhöht. Die Renten, die zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen vom damaligen Kandidaten und Ministerpräsidenten Janukowitsch verdoppelt worden waren, wurden tatsächlich in dieser Höhe ausgezahlt und sogar noch weiter angehoben.

Die meisten ukrainischen Familien haben aus der Zeit der Sowjetunion Bankguthaben bei der Staatlichen Oschadbank, die im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion Bankrott gegangen ist. Timoschenko verordnete, dass Familien, die ihre Gas- und Strom-rechnungen nicht zahlen können, ihr nunmehr virtuelles Guthaben bei der Oschadbank mit den ausstehenden Rechnungen belasten können, der Staat kommt dafür auf.

Eine der spektakulärsten Maßnahmen der Regierung ist eine Geburtenbeihilfe in Höhe von umgerechnet 1.400 Euro. Damit will der Staat gegen den seit über zehn Jahren chronischen Bevölkerungsrückgang kämpfen. Die ukrainische Bevölkerung verringert sich jedes Jahr um etwa ein Pro-zent, das entspricht einer halben Million Menschen. Die starke Wirkung der Prä-mie machte sich diesen Sommer sogar im Straßenbild bemerkbar, aber die Statistik belegt, dass auch diese Maßnahme die Tendenz nicht umkehren wird.

Natürlich heißt dies nicht, dass die Bevölkerung zu-frieden ist. Spekulation auf Fleisch und Zucker ukrainischer Herkunft ließ deren Preise zeitweise auf westeuropäisches Niveau klettern. Die Treibstoffpreise stiegen seit vergangenem Winter um 50 Prozent, sie haben sich seit zwei Jahren verdoppelt. Die Ukraine ist im Energiesektor stark von Russland abhängig. Als Julia Timoschenko versuch-te, die Lieferanten in ihren Preisforderungen zu mä-ßigen, führte dies zur ersten größeren Krise der jungen Regierung. In einem un-verhohlenen Kraftakt sperr-ten die Firmen den Hahn zu und versetzten uns in die Krisenzeit der frühen 1990er Jahre zurück.

Reprivatisierung

Eine der größten Aufgaben der neuen Regierung war die groß angekündigte „Reprivatisierung“ großer Betriebe, die größten gehören zur Stahlindustrie, die unter Kutschmas Herrschaft zu lachhaften Preisen an einige Milliardäre verschenkt worden waren, darunter der Schwiegersohn des Präsidenten. Bei diesen Neuverkäufen geht es um Milliardenbeträge, und es ist nicht verwunderlich, dass verschiedene Clans sich mit aller Macht die beste Ausgangsposition verschaffen wollen. Wäh-rend Juschtschenko in dieser Frage vor allem auf das „Investitionskli-ma“ achtet, vertrat Timoschenko einen radikaleren Gerechtigkeitsanspruch, weshalb sie der Demagogie bezichtigt wurde.

Korruption an den Grenzen

Leider sind der Ankündigung Juschtschenkos, die Korruption bekämp-fen zu wollen, bisher kaum wirkungsvolle Taten gefolgt. Im Gegenteil muss Juschtschenko angelastet werden, dass ein ehemaliger Schmuggler zum Direktor der Zollbehörden ernannt wurde. Das Resultat waren zwar spektakuläre Kontrollen, aber gleich-zeitig ein Anstieg der Schmiergeldforderungen der Zöllner an den Grenzen. Eine Abnahme des Schmuggels war nur während wenigen Wochen zu bemerken. Der Direktor der Zollbehör- den wurde im September ebenfalls entlassen.

Ukraine und Europa

Die zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist nach dem Überschwang der ersten Wochen wieder in weite Ferne gerückt. Immer-hin hat sich die Abschaffung der Visapflicht für Bürger der EU, der Schweiz und Kanadas als sehr wirkungsvoll erwiesen. In den ersten Monaten hat sich die Besucherzahl aus diesen Ländern mehr als verdoppelt. Vor allem aus diesem lukrativen Grund wurde das visa-freie Regime auf unbefriste-te Zeit verlängert. Im Austausch erhofft sich die Ukraine für Studenten, Wissenschaftler und Journalisten Einreiseerleichterungen in die betroffenen Länder. Bisher gab es aus Europa al-lerdings keinerlei Signale in diese Richtung. Anlässlich eines Ukraine-EU Gipfeltreffens soll darüber ver-handelt werden. Als „Etap-pe“ auf dem Weg in die EU strebt ein Teil des ukraini-schen politischen Establish-ments die rasche Mitglied-schaft in der NATO an. In erster Linie müsste dafür aber die eigene Bevölkerung überzeugt werden. In Mei-nungsumfragen sind nur 22 Prozent der Ukrainer für einen NATO-Beitritt, 56 Prozent sprechen sich da-gegen aus.

In der Provinz

Eine umfassende administrative Reform soll in Zukunft den direkten Zugriff der Zentralmacht auf die Regionen und Bezirke stark verringern und die gewählten Räte stärken. Die Vorbereitung dieser Reform ver-laufen allerdings bisher sehr chaotisch und stoßen auf Widerstand und Unverständnis. Auch auf lokaler Ebene wird die Politik beinahe durchwegs als Möglichkeit der persönlichen Bereiche-rung und der korrupten Einflussnahme betrachtet, was leider der Realität entspricht, und sogar relativ unbedeutende Posten auf regionaler Ebene werden zu stolzen Preisen gehandelt. Der Kampf um die Posten zog sich nach Juschtschenkos Machtübernahme acht Monate hin und stellte wäh-rend dieser Periode alle anstehenden Aufgaben in den Hintergrund.

Trotz dieser einigermaßen negativen Bilanz der ersten Monate „orangener“ Macht in der Ukraine: Die Atmos-phäre im Land hat sich deut-lich zum Besseren verändert und zumindest ein Teil der Bevölkerung, vor allem die Jugend, ist politisch selbstbewusster geworden. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: Das Land hat sich nicht in zwei Teile gespalten, und es zeichnet sich keine neoliberale Rosskur à la Gaidar ab.

Jürgen Kräftner

EBF, Ukraine

  1. Lytvyn leitete zur Zeit Gongadses Verschwindens die mächtige Präsi-dialverwaltung. Während des Wahl-kampfes von 2004 wechselte er recht-zeitig die Seite, um an der Macht zu bleiben

  2. www.pravda.com.ua

  3. Die „Administration des Präsidenten“ wurde von Juschtschenkos Vorgänger Leonid Kutschma zur mächtigsten Behörde des Staatsapparats ausgebaut

Es war nicht schwer vorherzusehen, dass auf das fröhliche Volksfest der „orangenen Revolution“ die große Ernüchterung folgen würde. Unabhängige Intellektuelle hatten sich betreffs der Erneuerung der politischen Klasse und einer neuen Politik keine großen Illusionen gemacht. Das hatte sie nicht daran gehindert, sich mehrere Wochen lang auf dem Kiewer Maidan die Füße abzufrieren.

Anzeichen dafür, dass sich Viktor Juschtschenkos Poli-tik doch nicht so grundsätz-lich von jener seines Vorgängers Leonid Kutschma unterscheiden würde, gab es schon nach wenigen Wochen.

Erste Schwierigkeiten entstanden, weil der neue Präsident offenbar sowohl Julia Timoschenko als auch dem reichen Schokoladefabrikan-ten Poroschenko den Posten zum Ministerpräsidenten versprochen hatte. Juschtschenko entledigte sich des Problems, indem er einen „Nationalen Sicherheitsrat“ schuf. Dessen prompt ernannte Vorsitzen-de Petro Poroschenko machte in den folgenden Monaten regelmäßig pro-vokativ Politik im Wider-spruch zur Regierung.

Auch die Nominierungen der mächtigen Provinzgouverneure verliefen chaotisch und in offenem Wi-derspruch zur ukrainischen Verfassung. Die mächtige Präsidialverwaltung wurde kaum entschlackt und ist neben Regierung und Si-cherheitsrat ein dritter konkurrierender Machtpol.

Am 4. März 2005 wurde der frühere Innenminister Juri Krawtschenko mit zwei Kugeln im Kopf tot in seiner Datscha bei Kiew aufgefunden. Einige Stunden später hätte er vor der General-staatsanwaltschaft aussagen sollen. Krawtschenko galt als Schlüsselfigur zwischen den Auftraggebern und den Mördern des unabhängigen Journalisten Georgij Gon-gadse im September 2000. Trotz der beiden Schusswunden schlossen Generalstaatsanwaltschaft, Innen-ministerium und Staatssi-cherheit einhellig auf Selbst-mord. Einen Tag vor Krawtschenkos Tod hatte der Leiter der parlamenta-rischen Untersuchungskommission zum Fall Gongadse, der Abgeordnete Omeltschenko (Block Julia Timoschenko) den Generalstaatsanwalt aufgefordert, den ehemaligen Minister zum Schutz seines Lebens in Polizeigewahrsam zu nehmen.

Die Affäre Gongadse zieht sich wie ein rotes Band durch die jüngere Opposi-tionsbewegung der Ukraine. Nach den großspurigen Versprechen Juschtschenkos an die Mutter des Journalisten und die Öffent-lichkeit, in kurzer Zeit Licht in dieses Staatsverbrechen zu bringen, ist heute klar, dass auch er in zu viele Interessenskonflikte ver-strickt ist, um die Auftraggeber des Mordes vor Gericht zu bringen. Der Bericht der parlamentari-schen Untersuchungskom-mission bezichtigt neben Kutschma und Krawtschen-ko auch den derzeitigen Vorsitzenden des Parlaments, Lytvyn1 der Urheberschaft an Gongadses Ermordung. Auf Betreiben Lytvyns und Juschtschenkos wurde der Bericht im Par-lament nicht zur Debatte gestellt.

Ebenfalls schon im März protestierten Journalisten und Menschenrechtsaktivisten dagegen, dass auch Juschtschenko vom präsidialen Gewohnheitsrecht Gebrauch machte, geheime Dekrete zu erlassen, von denen nur die Nummern veröffentlicht werden. Leonid Kutschma hatte während seiner über zehn-jährigen Amtszeit 873 sol-cher Dekrete erlassen. Die außerparlamentarische Opposition fordert ihre Veröffentlichung, um amtlichem Missbrauch einen Riegel vorzuschieben.

Trotz der hohen Erwartungen und des verstärkten Drucks der Öffentlichkeit blockieren mächtige Lobbies die Justiz. Auch der gewaltsame Tod des langjährigen Rektors der Uschgoroder Universität im Mai 2004 gilt weiter als Selbst-mord, und es gibt keine ernstzunehmende Gruppierung, die es wagt, diese These öffentlich in Frage zu stellen.

Symbolik

Trotz ihrer politischen Brisanz wird die Affäre Gongadse in der Ukraine nur von einer Minderheit mitverfolgt. Der im Som-merloch veröffentlichte Serienbericht unter dem Titel „Der Sohn Gottes“ waren Juschtschenkos Aura als „Präsident des Volks“ schon bedeutend schäd-licher. Die unabhängige Internetinitiative Ukrainska Prawda 2 (gegründet von Gongadse) beschrieb detailliert den luxuriösen Le-bensstil Juschtschenkos 19-jährigen Sohns aus erster Ehe. Erstmals verlor der neue Präsident an einer Pressekonferenz die Nerven und brüllte den verantwort-lichen Journalisten vor laufender Fernsehkamera an. Der Papa hatte seinem Sohn nach dem Ende der Revolution die lukrativen Vermarktungsrechte der orangenen Symbole übertragen.

Öffentlichkeit

In diese Atmosphäre schlug der Rücktritt des Stabschefs des Präsidenten Alexander Sintschenko3 wie eine Bombe ein. Die gut vorbereitete Pressekonferenz des abtretenden Sintschenko stellt eine Premiere in der Geschichte der Ukraine dar. Ausführlich erklärte er sei-nen Rücktritt mit der grassierenden Korruption im unmittelbaren Umfeld des Präsidenten, ein Umfeld, das den Zeitplan und die Begeg-nungen Juschtschenkos kontrollierte und steuerte. In erster Linie handelt es sich um den Industriellen Poroschenko, der auch einen Fernsehkanal besitzt und als wichtigster Financier der Wahlkampagne Juschtschenkos gilt. Die Anschuldigungen treffen Juschtschenko tief, ist er doch mit den Versprechen von Transparenz, Bürger-nähe und Korruptionsbekämpfung angetreten.

Pikanterweise sind Poroschenko und der ebenfalls beschuldigte erste Sekretär des Präsidenten Tretjakow Taufpaten Juschtschenkos Kinder. Beide wurden drei Tage nach der Pressekonferenz Sintschenkos entlassen, aber dabei blieb es nicht. Mit ihnen musste auch gleich die ganze Regierung unter Premierministerin Julia Timoschenko unfreiwillig abdanken. Seit den Entlassungen vergeht kein Tag ohne neue Enthüllun-gen über Machtmissbrauch.

Neu an alldem ist eins: Trotz offensichtlicher Einflussnahme, besonders auf die großen Fernsehsender, hat die neue Macht kein Medienmonopol, so wie Kutschma und seine Magnaten es hatten. Die zur Demission gezwungene Julia Timoschenko konnte sich aussuchen, auf welchem Fernsehkanal sie zu Primetime während 90 Minuten ihre Meinung kundtun wollte und tat dies äußerst wirkungsvoll. Erstaunt frag-te ein Politiker der alten Garde, wo man das schon gesehen habe, dass eine entlassene Politikerin sich auch noch vor den Medien produziere. Andere wiesen auf die komfortable Position Putins und Lukaschenkos hin: Was hört man schon von deren Regierungschefs?

In der Bevölkerung dominiert nun wieder das Gefühl, dass sich „die da oben“ ihre Geschäfte sowieso unterei-nander ausmachen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese „Normalisierung“ mit dem symbolträchtigen Handschlag der beiden Opponenten Jusch-tschenko und Janukowitsch bei den Bemühungen, im Parlament eine Mehrheit für den neuen Regierungschef Jechanurow zu erreichen.

Julia Timoschenkos Regierungsbilanz

Die Bilanz ist durchzogen und muss vor allem unter einem Aspekt betrachtet werden: Seit der Machtübernahme von Juschtschenko befindet sich die Ukraine schon wieder in einer Vorwahlkampfperiode, spätestens im März 2006 müssen Parlamentswahlen abgehal-ten werden. Diese Wahlen sind von großer Bedeutung: Noch während der Umsturzperiode im vergangenen Dezember, am Ende der offiziellen Amtszeit Leonid Kutschmas, erfolgte eine tiefgreifende Verfassungs-änderung, welche die Vor-machtstellung des Staatspräsidenten zugunsten von Parlament und Ministerrat abschafft. Die Verfassungs-änderung soll spätestens am 1. Januar 2006 in Kraft treten.

Juschtschenkos Parteiblock und die Parteien der Regierungsallianz versuchen, aus ihrer Machtposi-tion nach alter Manier Profit zu schlagen. Einerseits müssen die Parteikassen gefüllt, andererseits die Behörden bis in den lokalen Bereich so weit wie möglich unter Kontrolle gebracht werden. Das ukrainische Parlament besteht zu einem großen Teil aus reichen Geschäftsleuten. Mit der Einführung eines reinen Proporzsystems ab den nächsten Parlamentswahlen sind die Preise für wählbare Plätze auf den Parteilisten in astronomische Höhen gestiegen. Die Rede ist von 2 Millionen US-Dollar für ein Abge-ordnetenmandat.

Julia Timoschenko mit ihrem eigenen Wahlbündnis zählt vor allem auf ihre per-sönliche Popularität. Des-halb ließ sie während ihrer kurzen Regierungszeit nichts unversucht, um der Bevölkerung zu beweisen, wie gut sie es meinte. Von liberaler Wirtschaftspolitik kann jedenfalls nicht die Rede sein. Beamtengehälter und Arbeitslosengeld wur-den um mehr als 20 Prozent, die Mindestlöhne um fast 40 Prozent erhöht. Die Renten, die zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen vom damaligen Kandidaten und Ministerpräsidenten Janu-kowitsch verdoppelt worden waren, wurden tatsächlich in dieser Höhe ausgezahlt und sogar noch weiter angehoben.

Die meisten ukrainischen Familien haben aus der Zeit der Sowjetunion Bankguthaben bei der Staatlichen Oschadbank, die im Zuge des Zusammenbruchs der Sowjetunion Bankrott gegangen ist. Timoschenko verordnete, dass Familien, die ihre Gas- und Strom-rechnungen nicht zahlen können, ihr nunmehr virtuelles Guthaben bei der Oschadbank mit den aus-stehenden Rechnungen belasten können, der Staat kommt dafür auf.

Eine der spektakulärsten Maßnahmen der Regierung ist eine Geburtenbeihilfe in Höhe von umgerechnet 1.400 Euro. Damit will der Staat gegen den seit über zehn Jahren chronischen Bevölkerungsrückgang kämpfen. Die ukrainische Bevölkerung verringert sich jedes Jahr um etwa ein Prozent, das entspricht einer halben Million Menschen. Die starke Wirkung der Prämie machte sich diesen Sommer sogar im Straßenbild bemerkbar, aber die Statistik belegt, dass auch diese Maßnahme die Tendenz nicht umkehren wird.

Natürlich heißt dies nicht, dass die Bevölkerung zufrieden ist. Spekulation auf Fleisch und Zucker ukrainischer Herkunft ließ deren Preise zeitweise auf west-europäisches Niveau klettern. Die Treibstoffpreise stiegen seit vergangenem Winter um 50 Prozent, sie haben sich seit zwei Jahren verdoppelt. Die Ukraine ist im Energiesektor stark von Russland abhängig. Als Julia Timoschenko versuch-te, die Lieferanten in ihren Preisforderungen zu mäßigen, führte dies zur ersten größeren Krise der jungen Regierung. In einem un-verhohlenen Kraftakt sperrten die Firmen den Hahn zu und versetzten uns in die Krisenzeit der frühen 1990er Jahre zurück.

Reprivatisierung

Eine der größten Aufga-ben der neuen Regierung war die groß angekündigte „Reprivatisierung“ großer Betriebe, die größten gehören zur Stahlindustrie, die unter Kutschmas Herrschaft zu lachhaften Preisen an einige Milliardäre verschenkt worden waren, darunter der Schwiegersohn des Präsidenten. Bei diesen Neuverkäufen geht es um Milliardenbeträge, und es ist nicht verwunderlich, dass verschiedene Clans sich mit aller Macht die beste Ausgangsposition verschaffen wollen. Wäh-rend Juschtschenko in dieser Frage vor allem auf das „Investitionsklima“ achtet, vertrat Timoschenko einen radika-eren Gerechtigkeitsanspruch, weshalb sie der Demagogie bezichtigt wurde.

Korruption an den Grenzen

Leider sind der Ankündigung Juschtschenkos, die Korruption bekämp-fen zu wollen, bisher kaum wirkungsvolle Taten gefolgt. Im Gegenteil muss Juschtschenko angelastet werden, dass ein ehemaliger Schmuggler zum Direktor der Zollbehörden ernannt wurde. Das Resultat waren zwar spektakuläre Kontrollen, aber gleichzeitig ein Anstieg der Schmiergeldforderungen der Zöllner an den Grenzen. Eine Abnahme des Schmuggels war nur während wenigen Wochen zu bemerken. Der Direktor der Zollbehör- den wurde im September ebenfalls entlassen.

Ukraine und Europa

Die zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine ist nach dem Überschwang der ersten Wochen wieder in weite Ferne gerückt. Immerhin hat sich die Abschaffung der Visapflicht für Bürger der EU, der Schweiz und Kanadas als sehr wirkungs-voll erwiesen. In den ersten Monaten hat sich die Besucherzahl aus diesen Ländern mehr als verdoppelt. Vor allem aus diesem lukrativen Grund wurde das visa-freie Regime auf unbefristete Zeit verlängert. Im Austausch erhofft sich die Ukra-ine für Studenten, Wissenschaftler und Journalisten Einreiseerleichterungen in die betroffenen Länder. Bisher gab es aus Europa allerdings keinerlei Signale in diese Richtung. Anlässlich eines Ukraine-EU Gipfel-treffens soll darüber verhandelt werden. Als „Etap-pe“ auf dem Weg in die EU strebt ein Teil des ukrainischen politischen Establishments die rasche Mitglied-schaft in der NATO an. In erster Linie müsste dafür aber die eigene Bevölkerung überzeugt werden. In Mei-nungsumfragen sind nur 22 Prozent der Ukrainer für einen NATO-Beitritt, 56 Prozent sprechen sich dagegen aus.

In der Provinz

Eine umfassende administrative Reform soll in Zukunft den direkten Zugriff der Zentralmacht auf die Regionen und Bezirke stark verringern und die gewähl-ten Räte stärken. Die Vorbereitung dieser Reform ver-laufen allerdings bisher sehr chaotisch und stoßen auf Widerstand und Unverständ-nis. Auch auf lokaler Ebene wird die Politik beinahe durchwegs als Möglichkeit der persönlichen Bereicherung und der korrupten Einflussnahme betrachtet, was leider der Realität entspricht, und sogar relativ unbedeutende Posten auf regionaler Ebene werden zu stolzen Preisen gehandelt. Der Kampf um die Posten zog sich nach Juschtschenkos Machtübernahme acht Monate hin und stellte wäh-rend dieser Periode alle an-stehenden Aufgaben in den Hintergrund.

Trotz dieser einigermaßen negativen Bilanz der ersten Monate „orangener“ Macht in der Ukraine: Die Atmosphäre im Land hat sich deutlich zum Besseren verändert und zumindest ein Teil der Bevölkerung, vor allem die Jugend, ist politisch selbstbewusster geworden. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich nicht bewahrhei-tet: Das Land hat sich nicht in zwei Teile gespalten, und es zeichnet sich keine neoliberale Rosskur à la Gaidar ab.

Jürgen Kräftner

EBF, Ukraine

  1. Lytvyn leitete zur Zeit Gongadses Verschwindens die mächtige Präsidialverwaltung. Während des Wahlkampfes von 2004 wechselte er rechtzeitig die Seite, um an der Macht zu bleiben

  2. www.pravda.com.ua
  3. Die „Administration des Präsidenten“ wurde von Juschtschenkos Vorgänger Leonid Kutschma zur mächtigsten Behörde des Staatsapparats ausgebaut