UKRAINE: Revolution oder «déja-vu» in der Ukraine?

von Jürgen Kräftner, EBF, 10.04.2014, Veröffentlicht in Archipel 224

Der folgende Artikel wurde am 17.Februar 2014 von unserem Korrespondenten in der Ukraine geschrieben. Inzwi-schen haben sich die Ereignisse überstürzt: mindestens 80 getötete Menschen auf dem zentralen Platz Maidan in Kiew; der Präsident wurde abgesetzt... Der Artikel erklärt die Elemente, die zu einer solchen Entwicklung führen konnten.

Über die Ursprünge und die Motive des Euromaidan Seit der Machtübernahme von Viktor Janukowytsch im Februar 2010 hat sich die Ukraine in ein Pulverfass verwandelt. Innerhalb weniger Monate gelang ihm, das flächengrößte Land Europas gemäß seinen persönlichen Interessen neu zu organisieren. Mit seinen beiden Söhnen und einigen engen Vertrauten kontrolliert er alle wesentlichen Bereiche des Landes: Polizei und Armee, Finanzen mit Zoll und Steuern, die Nationalbank, Staatsanwaltschaft und Gerichte, die großen Fernsehanstalten. Nach der umstrittenen gerichtlichen Wiedereinführung des präsidialen Regierungssystems vom Herbst 2010 beschließt das Parlament nichts gegen seinen Willen. Sein älterer Sohn Oleksandr, gelernter Zahnarzt, ist binnen drei Jahren zu einem der reichsten und einflussreichsten Geschäftsmänner (Banker, Rohstoffhändler und Investor) der Ukraine aufgestiegen. Trotz der katastrophalen Wirtschaftslage des Landes scheint der Appetit des Präsidenten auf Luxus keine Grenzen zu kennen. Journalist_in-nen, die über seine auf Staatskosten gebauten Schlösser berichten, riskieren ihr Leben. Wenn Janukowytsch mit großem Konvoi auf Ausfahrt ist, werden stundenlang ganze Städte lahmgelegt. Die Korruption hat bisher unerreichte Ausmaße angenommen, das Vertrauen in Polizei und Justiz nähert sich dem Nullwert. Der verstärkte Druck auf kleine und mittlere Unternehmen durch exzessive Steuern und ruinöse Kontrollen treibt viele Unternehmer_in-nen zurück in die Schattenwirtschaft oder in den Ruin; die offizielle Wirtschaftsleistung wird zu über 80% von den Großbetrieben der begünstigten Magnaten erbracht. Diese wiederum legen ihre Gelder in Offshore-Zonen, in Zypern, Österreich und der Schweiz an.

Nach wie vor lebt ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung an der Armutsgrenze, während sich das Vermögen der Superreichen, von denen die meisten der Partei der Regionen des Präsidenten angehören, stetig vermehrt.
Zufrieden mit dem aktuellen System können nur dessen unmittelbare Nutznießer sein. Dazu gehören Beamte von Justiz, Polizei, Finanzämtern und ein großes Günstlingsnetz, besonders im Osten des Landes.
Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung ihrem Unmut Luft verschaffen würde. Heftige, aber lokal begrenzte Proteste gegen krasse Vorfälle der Willkür und Käuflichkeit von Polizei und Justiz in verschiedenen Regionen hatten sich in letzter Zeit gehäuft. Die parlamentarische Opposition hatte mehrmals versucht, Massendemonstrationen in Gang zu bringen, war damit aber gescheitert.
Der offizielle Abbruch des Euro-Integrationsprozesses am 21. November 2013 war dann der auslösende Moment. Während die parlamentarische Opposition – vorsichtig und geprägt von ihren vorhergehenden Misserfolgen – zu Demonstrationen am folgenden Wochenende aufrief, versammelten sich mehrere tausend junge Leute, vor allem Student_in-nen, spontan am selben Abend des 21.11. am zentralen Maidan in Kiew. Am 30.11. um 4 Uhr morgens wurden die etwa tausend friedlichen Demonstrant_innen von drei Einheiten der Einsatzpolizei Berkut angegriffen und verjagt. Flüchtende junge Leute wurden in bis zu einem Kilometer Entfernung brutal zusammengeschlagen. Dies war das Startsignal für eine beispiellose Solidarisierung: Am darauffolgenden Sonntag versammelten sich, je nach Schätzungen, zwischen 500‘000 und einer Million Demonstrant_innen im Zentrum Kiews; in mehreren anderen Städten wurden ebenfalls Proteste organisiert. Weitere Anwendung von Gewalt von Seiten der Macht und brutale Versuche der Einschüchterung haben zu einer Konsolidierung der Bewegung, aber auch zu ihrer Radikalisierung geführt. Es geht nun nicht mehr um die Annäherung an die EU, sondern um das Ende des Systems Janukowytsch: Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie, Auflösung der Einsatzpolizei Berkut, Neuwahlen. Die vergangenen drei Monate haben das wahre Antlitz des Regimes offenbart, aber auch bewiesen, dass es in der Ukraine genügend Menschen gibt, die den Mut haben, sich aufzulehnen. Die nach Zeiten der Sowjetunion geborene Generation hat sich unverhofft als Triebfeder dieses Protests erwiesen.
Wer den Maidan nach beinahe drei Monaten Proteste erlebt, spürt trotz der Unsicherheit über die unmittelbare Zukunft eine große Entschlossenheit, die Zukunft der Ukraine mitzubestimmen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Alle wissen, dass ein Nachlassen der Bewegung eine Zementierung des bisherigen Zustands und einen wachsenden Einfluss Moskaus – und damit einer autoritären Staatsführung – auf den ukrainischen Staat mit sich bringen würde. Aktuelle Meinungsumfragen geben Janukowytsch keine Chance, in den für 2015 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen seinen Posten mit demokratischen Mitteln zu verteidigen; viele Menschen zweifeln daran, dass diese Wahlen überhaupt stattfinden werden, wenn Janukowytsch sie verlieren könnte. Eine Verfassungsänderung für die Ernennung des Präsidenten durch das Parlament ist bereits vorbereitet.

Das Assoziierungsabkommen mit der EU Paradoxerweise gab es über die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen dieses Vertrags in der Ukraine kaum öffentliche Debatten, obwohl seine definitive Fassung schon im März 2012 paraphiert worden war. Zu Diskussionen führten die Auflagen im Bereich der Justizreform und natürlich die geforderte Freilassung von Julia Tymoschenko als berühmtestes Opfer einer vom Präsidenten dirigierten Gerichtsbarkeit. Für die ukrainische Wirtschaft könnte dieses weitreichende Freihandelsabkommen erhebliche Risiken bergen: Während die ukrainischen Unternehmen investieren müssten, um sich an die europäischen Standards anzupassen, könnten sie auf ihrem heimatlichen Markt von der europäischen Konkurrenz verdrängt werden. Trotzdem galt die Unterzeichnung des Abkommens während des vergangenen Jahres als oberstes Ziel der ukrainischen Politik. Erst nach dem unerwarteten Richtungswechsel der Regierung machte Ministerpräsident Mykola Asarow für die kommenden zehn Jahre Kosten von 160 Milliarden Euro für eine Anpassung der ukrainischen Betriebe geltend. An einer Demonstration des Anti-Maidan in Kiew warnte er zudem davor, dass die EU die Ukraine zwingen wolle, gleichgeschlechtliche Ehen zu genehmigen. Die Angst vor diesem Schreckensbild hinderte ihn allerdings nicht, sich noch am Tag seines Rücktritts in eine seiner Villen in Wien abzusetzen.
In Anbetracht der Undurchsichtigkeit der ukrainischen Wirtschaft ist es praktisch unmöglich, glaubwürdige Prognosen für den Fall einer Unterzeichnung des Abkommens zu treffen. Die ukrainischen Unternehmer_innen haben sich jedoch sicher frühzeitig informiert und Vor- und Nachteile abgewogen; von ihrer Seite ist im Vorfeld der geplanten Unterzeichnung kaum Kritik zu hören gewesen.

Der Einfluss der extremen Rechten Die Geschichte und der Stellenwert der nationalen und nationalistischen Bewegungen in der Ukraine sind komplex und müssen im historischen Kontext betrachtet werden. Vorausgeschickt sei, dass die nationalistischen Gruppierungen durchaus nicht das Monopol auf Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Homophobie haben. Davon zeugt z.B. eine Facebook-Seite der Einsatzpolizei Berkut, auf der sich bis vor kurzem zahlreiche heftige antisemitische und homophobe Einträge befanden; den Besucher_innen schien das zu gefallen. Im Norden und Osten der Ukraine machten in den vergangenen Jahren panslawische, faschistoide Gruppierungen mit Überfällen auf dunkelhäutige Menschen und Linke auf sich aufmerksam.
Es gibt in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit eine Reihe von radikal nationalistisch und fremdenfeindlich eingestellten Gruppierungen. Einzig die Partei Svoboda («Freiheit») hat sich in den letzten Jahren auch in der offiziellen Politlandschaft etabliert. Ihre Ideologie ist fremdenfeindlich, antisemitisch und vor allem antirussisch. Vor den Parlamentswahlen von 2012 verfügte Svoboda plötzlich über sehr viel Geld unklarer Herkunft und erreichte prompt ihren historischen Höchstwert mit etwa 12% der Stimmen. Dies hing auch mit dem Vertrauensverlust der anderen Oppositionsparteien zusammen, deren Abgeordnete nach den Wahlen häufig die Seite wechseln, um bei der Verteilung der Pfründe nicht leer auszugehen. Svoboda galt zumindest damals im großen Basar der ukrainischen Politik als die einzige ideologisch gefestigte Partei. Ich weiß persönlich von Vertreter_innen der liberalen, russischsprachigen Kiewer Intelligenzija, die den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollten und für Svoboda gestimmt haben, um die Partei der Regionen zu verjagen. Laut aktuellen Meinungsumfragen würde Svoboda bei vorgezogenen Parlamentswahlen die 5%-Hürde heute nur mehr knapp erreichen.
Am Maidan ist die Präsenz des rechtsnationalen Lagers sehr sichtbar; dies umso mehr, als die zahlreicheren anderen Demonstrant_in-nen keine äußerlichen Merkmale ihrer ideologischen Ausrichtung tragen. Außer der Partei Svoboda mit ihren großen Fahnen haben sich verschiedene Gruppierungen zum Rechten Sektor vereinigt. Sie sind vor allem in der Selbstverteidigung des Maidan engagiert; allerdings kann nicht die Rede davon sein, dass die Mehrheit der Maidanbewegung ihre Ansichten teilt. Gleichzeitig hängt der rechte Flügel Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus hier nicht an die große Glocke. Graffiti nationalen Inhalts teilen sich denn auch die Wände mit anarchistischen Parolen oder Georg Büchners «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!». Unsere Freund_innen aus dem linken Spektrum, das in der Ukraine noch sehr schwach ausgebildet ist, engagieren sich dennoch mit den Worten «Das ist unser Maidan!» Sie sind wie üblich in der Menschenrechtsarbeit und im Journalismus tätig. Natürlich sind sie wachsam und besorgt, wie sich diese widernatürliche Kohabitation entwickelt, denn sie kennen ja so manchen der rechten Aktivisten von un-zimperlichen Auseinandersetzungen aus der Vergangenheit.

Werden neue Oligarchen die bisherigen ablösen? Aus Zeiten der Präsidentschaft von Leonid Kutschma (1994 – 2005) wird die ukrainische Politik von einigen wenigen Wirtschaftsmagnaten kontrolliert. Seit der Machtübernahme von Viktor Janukowytsch hat sich dies noch verschärft. Bemerkenswert ist das Auftauchen, quasi aus dem Nichts, eines erst 28 Jahre jungen Milliardärs namens Serhij Kurtschenko, Freund des Präsidentensohns. Die mancherorts aufgestellte Behauptung, dass der Euromaidan von «anderen Oligarchen» manipuliert wird, ist von Kiew aus gesehen nicht nachvollziehbar. Dass die Oppositionsparteien mit ihren Präsidentschaftskandidaten und Lobbyisten jeweils eigene Interessen verfolgen, ist auch klar. Aber immerhin ist mit dem Maidan eine nicht zu unterschätzende zivilgesellschaftliche Kraft entstanden, von der zu erwarten ist, dass sie sich auch in Zukunft Gehör verschaffen wird. Und entgegen den gängigen Vorurteilen hat die Welle des Maidan inzwischen alle Regionen der Ukraine erfasst, Osten und Süden mit inbegriffen.

Löst eine Bürgergesellschaft eine Feudalherrschaft ab? Im Jahr 1991 ist der Ukraine ihre Unabhängigkeit praktisch in den Schoss gefallen. Nach den ersten zehn Jahren chaotischen Raubkapitalismus konnten die Bewegungen von 2001 («Ukraine ohne Kutschma») und 2004 («Orangene Revolution») die Vormachtstellung der Magnaten nicht nachhaltig in Frage stellen; die anschließende, enttäuschende Präsidentschaft von Viktor Juschtschenko hat das Vertrauen in die Politik nachhaltig erschüttert. Auf dem Maidan sind es nun eher die Demonstrant_innen, die den Ton angeben; die Leader der Oppositionsparteien werden häufig mit Pfiffen bedacht, wenn sie auf die große Bühne treten.
Eindrücklich ist die funktionierende Selbstverwaltung dieses kleinen Parallelstaates im Herzen der Hauptstadt, ein starker Kontrast zum öffentlichen Leben in der Ukraine. Barrikaden bauen, Notarzt-Ordinationen einrichten, Feldküchen unterhalten, Musizieren, der Bereitschaftspolizei auf einer großen Leinwand kritische Dokumentarfilme zeigen, alles funktioniert. Zahlreiche Künstler_innen haben den Maidan zum Zentrum ihrer Tätigkeit gemacht. An den Barrikaden stehen Nationalist_innen und Liberale, Frauenrechtler_innen, Ver-ehrer_innen der freien Kosakentradition und der anarchistischen Machnowschtschina, Veteranen des Afghanistankriegs, Krimtataren und ehemalige Armeeoffiziere Seite an Seite. Sie kommen aus allen Teilen der Ukraine, wie mehrere soziologische Untersuchungen unterstrichen haben.
Trotz aller Unreife, hier entsteht eine Zivilgesellschaft. Die Ukraine als europäischer Staat: Für die Demonstrant_innen bedeutet dies den Respekt von Menschenrechten und Meinungsfreiheit, ein Ende der käuflichen Willkürjustiz, der Prügel- und Mordpolizei und des oligarchisch-korrupten Systems. In diesem Kampf zählen sie, je länger, desto mehr, nur auf sich selbst.

Notiz für unsere Leser_innen Der ukrainische Euromaidan ist eine komplexe Bewegung, die sich natürlich auch vor dem Hintergrund von handfesten Großmachtinteressen abspielt. Der unmittelbare Einfluss der EU und der USA auf die ukrainische Protestbewegung wird aber von einigen Berichterstattern eindeutig übertrieben; deshalb, und aus Platzgründen, habe ich diese Frage hier ausgelassen.
Ebenso wenig will ich über die Motive des späten Kurswechsels Janukowytschs bezüglich der Ausrichtung des Landes zwischen der EU und Russland spekulieren.