UKRAINE: Revolution oder Manipulation? Zweiter Teil

von Jürgen Kräftner *(EBF Ukraine), 10.04.2005, Veröffentlicht in Archipel 125

Während mehreren Wochen war die Ukraine in den Schlagzeilen der internationalen Medien.

Nach dem jahrelangen Schattendasein dieses nach Russland größten Landes Europas mussten für eilige Fernsehnachrichtenkonsumenten einfache Schemata geschaffen werden.

PORA...

Viel wurde spekuliert über die Rolle der Bewegung PORA1 (es ist Zeit). PORA besteht aus zwei Strömungen , zwei etwa zeitgleichen Gründungen in Kiew, die Unterschiede spielen aber nur in der Hauptstadt eine Rolle. In den Regionen benützten Studenten für ihre spontanen und lokal initiierten Aktionen den Namen PORA, ohne von einer Zentrale gesteuert oder gar bezahlt zu sein. Anlässlich einer Grossveranstaltung zum Gedenken des im Herbst 2000 ermordeten Journalisten Georgij Gongadse, einigten sich die delegierten Aktivisten darauf, dass PORA eine «Bürgerkampagne» sei, ohne hierarchische Strukturen und anerkannte Leader. PORA steht ausdrücklich nicht im Dienst einer politischen Partei oder eines Kandidaten, sondern wurde gegründet, um sich für den demokratischen Ablauf der Wahlen einzusetzen. Einige der Kiewer Aktivisten von PORA hatten einen gewissen Vorsprung in der Organisationsform. Sie kommen von der NGO-Plattform Freedom of Choice und gehören damit zu der Kaste der «Subventionsesser». Diese Gruppierung hat in der Tat sehr gute Beziehungen zu einer ganzen Reihe von amerikanischen Stiftungen. Einer der Leiter von Freedom of Choice versuchte seit geraumer Zeit, sich als Sprecher von PORA in Szene zu setzen. Kurz vor Weihnachten organisierte sein Kreis eine Delegiertenversammlung von PORA in Kiew mit dem Ziel, das politische Kapital von PORA für die Gründung einer Partei zu nutzen. Obwohl das Treffen gut vorbereitet war, lehnte die Mehrheit der Delegierten die Parteigründung ab. Die Aktivisten der Regionen sehen die zukünftigen Aufgaben von PORA in der Öffentlichkeitsarbeit, Denunzierung von Korruption und Machtmissbrauch. Arbeit gibt es genug. Auch der Vorschlag, PORA als Agentur zur internationalen Verbreitung von Demokratisierungsprozessen auszubauen, wurde von den Delegierten nicht ernst genommen. Ganz offenbar handelte es sich um Vorschläge, die einigen wenigen, selbsternannten Leadern von PORA mit guten Verbindungen zu ausländischen Stiftungen zum Karrieresprung verhelfen sollten.

...und der Onkel Sam

PORA wird häufig als die fünfte Kolonne der USA in der Ukraine dargestellt, die die orangene Revolution nach Vorbild von OTPOR in Serbien und Khmare in Georgien staatsstreichmässig inszeniert habe. Ich möchte dieser These ein anderes Bild gegenüberstellen. Mehrere grosse Stiftungen aus den USA verteilen seit Jahren Millionen-Dollar-Beträge in der Ukraine. Von diesem Geld leben sowohl amerikanische Funktionäre und Experten als auch zahlreiche schlaue UkrainerInnen, die wissen, mit ihren NGOs im richtigen Moment die passenden Projekte anzubieten. Meist handelt es sich um Seminare, Reisen, Ausbildung usw. Sowohl die amerikanischen Experten als auch die ukrainischen NGOs haben alles Interesse daran, die Wirksamkeit der Subventionsprogramme gegenüber den Geldgebern zur Geltung zu bringen. Die Realität sieht etwas anders aus.

In den Monaten vor den Wahlen wurden die Aktivisten von PORA zu Seminaren eingeladen, in denen über gewaltfreien Widerstand, öffentlichen Druck auf die potentiellen Wahlfälscher und weitere Mittel der Öffentlichkeitsarbeit gesprochen wurde. Einer der Aktivisten berichtete uns von einer Aktion, die von den Beratern der Stiftung Freedom House (Umfeld der CIA) vorgeschlagen wurde: Es sollten an alle Mitglieder der lokalen Wahlkommissionen Briefe geschrieben werden, in denen sie auf ihre Verantwortung hingewiesen und davor gewarnt würden, dass sie für Wahlfälschung zur Verantwortung gezogen würden. Diese Kampagne sollte auch von Graffitis in der Umgebung der privaten Wohnungen der Mitglieder der Kommissionen begleitet werden. Die nötige Finanzierung bzw. Material sollte von der amerikanischen Stiftung bereitgestellt werden. Alles verzögerte sich, die Leute in Kiew sagten, sie hätten die Listen der Kommissionen nicht. In der Provinz fanden die Aktivisten die nötigen Listen und wollten mit der Aktion beginnen. Als von der «Zentrale» immer noch gebremst wurde, machten die Aktivisten die Aktion ohne fremde Hilfe. Zumindest in Transkarpatien ist mir bekannt, dass keine der Aktionen von PORA mit ausländischen Mitteln finanziert wurde.

Hingegen gab es eine starke Beteiligung von einheimischen Geschäftsleuten: Sie spendeten Geld, Material, organisierten Minibusse, um Freiwillige und Material nach Kiew zu bringen...

Die Zeltstadt in Kiew

Etwa eine Woche vor der Wahlwiederholung gab es immer mehr Druck auf die Aktivisten, um die Zeltstädte auf dem Kreschtschatik-Boulevard und die Blockade des Präsidentenpalastes aufzulösen. PORA einigte sich mit den Behörden auf den Abbau und unterzeichnete ein entsprechendes Abkommen. Als der «Vertreter» von PORA mit dem unterzeichneten Dokument zu den Besetzern ging und sie aufforderte, ihre Zelte abzubauen, schickten die ihn wieder weg: «Wir haben mit PORA nichts zu tun und bleiben hier, bis der gewählte Präsident der Ukraine rechtmässig seine Funktionen übernommen hat». Daraufhin distanzierte sich der genannte Vertreter von den Aktivisten...

Aus der Provinz: Khust, Transkarpatien

Der Leiter unseres Bezirksschulamtes (Khust 2, Transkarpatien), Herr Rusyn, ist ein ehrlicher Mann 3. In seiner Funktion leistet er seit mehreren Jahren engagierte Arbeit und wird dafür von Lehrern und Schuldirektoren geschätzt. Vor drei Jahren wurde er bedrängt, der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei (SDPUo) beizutreten, dies würde seine Arbeit erleichtern. Unterschwellig klang mit, dass er andernfalls seine Stelle verlieren könnte. Er wurde Mitglied und kurz darauf auch als Abgeordneter in das transkarpatische Regionalparlament gewählt. Die SDPUo gilt als die Oligarchenpartei schlechthin, sie stand im Pakt mit Kutschmas Kronprinzen Janukowitsch. Die aggressive Führung der Partei übte in den vergangenen Jahren einen dominierenden Einfluss auf die grossen Medien und die Verwaltung aus.

Herr Rusyn hat damit nicht viel zu tun. Er setzt sich für das Wohlergehen der Schulen ein, und seine Parteizugehörigkeit sah er bisher als eine Fortsetzung sowjetischer Tradition: Wer dem Staat dient, stellt die Machtverhältnisse nicht in Frage. Ohne grosse Überzeugung beteiligte er sich an der Wahlkampagne des vom gesamten Verwaltungsapparat unterstützten Präsidentschaftskandidaten Janukowitsch. Alle Schüler bekamen Hefte mit Wahlpropaganda und wurden angehalten, diese im Unterricht auch zu benützen. Zu Beginn des Schuljahres wurden in allen Schulen Wahlveranstaltungen zugunsten Janukowitschs abgehalten. Die SchülerInnen mussten Propagandamaterial von ihren Eltern unterschreiben lassen und wieder in die Schule bringen. An gröberen Eingriffen beteiligte sich Herr Rusyn nicht. Ein Kollege von ihm liess es sich nicht nehmen, die Schulleiter in unserem Bezirk einzeln zu bedrohen: Sollte ihr Dorf nicht für den richtigen Kandidaten stimmen, dann müssten sie sich nach einer anderen Arbeit umsehen.

In den ersten Tagen der orangenen Revolution, als Hunderttausende Demonstranten nach Kiew strömten, wurden leitende Beamte in den Provinzen aufgefordert, Kontingente von bezahlten Gegendemonstranten nach Kiew zu schicken; Herr Rusyn verschwand in den Urlaub, in Transkarpatien wurde die Aktion schliesslich ganz abgeblasen.

Nach der Wahlwiederholung und der Erklärung des Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko zum Wahlsieger nahmen die Demonstrationen ein Ende. Herr Rusyn kann es heute noch nicht so recht fassen, was passiert ist. Wie konnten «diese Kinder» dem Staat trotzen? Herr Rusyn war während der Demonstrationen nicht in Kiew und weiss offenbar nicht, dass auch viele alte Leute – Tag und Nacht – auf der Strasse waren. Er meint, dass das ukrainische Volk nicht reif für die Demokratie sei. Eine starke, staatstragende Partei müsse sich Respekt verschaffen und Kraft ihrer Autorität Gutes für die Bevölkerung tun. Dass das Volk plötzlich mitbestimmen könne, sieht er mit Skepsis. Verächtlich betrachtet er das Schauspiel seiner Kollegen, Politiker und Beamte, die schnell die Seite gewechselt haben und für den erwarteten Postenschacher in den Startlöchern stehen. Das politische System der Ukraine ist sehr zentralistisch und es wird erwartet, dass Jusch-tschenko seine Verbündeten in den Regionen belohnt...

Jürgen Kräftner *

EBF Ukraine

* Der Autor dieses Berichts lebt seit acht Jahren in der Ukraine, Gebiet Transkarpatien. Eine Zugreise von Transkarpatien nach Donezk dauert etwa 36 Stunden. Nicht alles, was dort vor sich geht, ist für mich nachvollziehbar und ich misstraue den westukrainischen Vorurteilen. Hier möchte ich davon berichten, was ich selbst erlebt oder aus m.E. vertrauenswürdiger Quelle erfahren habe.

  1. Bezirk Khust, etwa 100‘000 Einwohner, knapp 40 Dörfer. Schulen ukrainischer, ungarischer, rumänischer und russischer Sprache.

  2. Abgesehen von der Person Herrn Rusyns: Ein solcher Posten wird in der Ukraine grundsätzlich immer durch nicht deklarierte Nebeneinkünfte verbessert, die häufig ein vielfaches des offiziellen Gehalts betragen. Von diesen Nebeneinkünften wird wiederum ein Teil an die nächsthöhere Stufe der Hierarchie abgegeben. Diese endemische Korruption durchzieht alle Stufen der Gesellschaft. Die gegen Kutschma gerichtete Losung der Demonstranten «Hanba!» (Schande!) betraf nicht zuletzt seine Schuld an diesem System.