Nach einer längeren Pause haben wir Anfang Oktober wieder einen Brief von unserem Freund und Korrespondenten aus dem Dorf Nischnje Selischtsche erhalten, in dem er das «seltsame Leben» in Transkarpatien beschreibt. Dies war ganz kurz vor den Explosionen auf der Brücke zur Krim und den darauffolgenden massiven Bombardierungen ukrainischer Städte.
In den vergangenen Monaten kamen kaum neue Flüchtlinge hierher, aber das kann sich mit der Kälte schnell ändern. In der Region werden mehrere grosse Unterkünfte renoviert, um im Winter Flüchtlinge aufzunehmen. Die Schulbehörden wurden angewiesen, sich auf die Ankunft von Tausenden von Geflüchteten vorzubereiten. Derzeit sind in drei Schulen in unserem Gemeindeverband noch 58 Menschen untergebracht, im Frühjahr waren es noch 800. Die Menschen, die hiergeblieben sind, sind arme Leute, Alte, Kranke etc. Nur zwei Personen unter ihnen arbeiten, und zwar in einer Kabelfabrik in Chust. Unsere Flüchtlingsunterkunft im Dorf ist im Bau; im November soll sie die ersten Vertriebenen aufnehmen. Zwei Freunde kommen dieses Wochenende aus Deutschland, um in dem alten Haus, das von unseren aus Luhansk geflüchteten Freund·inn·en renoviert wurde und seither bewohnt wird, einen Grundofen zu bauen. Das ist schon ziemlich dringend, denn die Temperaturen sinken. Unser junger zehn Hektar grosser Obstgarten, der zu unserem Hof gehört, hat die grösste Dürre der letzten Jahrzehnte überstanden. Doch auch hier macht sich der Krieg bemerkbar. Mehrere Fachleute, die uns bei diesem Projekt unterstützten, sind nicht verfügbar. Ein mit uns befreundeter Bodenwissenschaftler und ein Abfülltechnologe aus der Gegend sind an der Front. Ein Agronom und Pomologe ist als Freiwilliger nach Poltawa gegangen. Wir schlagen uns also so durch und beginnen in einigen Tagen zu ernten und zu pressen. Zum Glück haben wir im vergangenen Jahr ausreichend Flaschen gekauft. Die Fabrik befindet sich in Hostomel (einem Vorort von Kyjiw) und wurde, so wie einer der wenigen Apfelwein-Betriebe der Ukraine (ebenfalls bei Kyjiw) im März vollständig zerstört.
Unsere Freundin N. konnte ihrem Bruder, der in Moskau lebt, helfen, das Land mit dem letztmöglichen Flug nach Bischkek, der Hauptstadt Kirgisiens, zu verlassen. Seine Frau und die beiden Kinder werden hoffentlich demnächst folgen.
Der Krieg
Die Perversität der russischen Mobilisierung kennt keine Grenzen. Besonders empörend ist die Zwangsmobilisierung der Krimtataren. Man muss befürchten, dass es ihnen nicht besser ergeht als den Rekruten aus dem besetzten Donbass, die unmittelbar als Kanonenfutter an die Front geschickt werden. Dies wird den Kriegsverlauf nicht ändern, aber es ist eine weitere Methode, um die nicht moskauhörige Bevölkerung zu terrorisieren. Die internationalen Medien haben ausführlich über den Vormarsch der ukrainischen Armee in den Regionen Charkiw (Isjum, Kupjansk, Lyman) und in jüngster Zeit auch in Cherson und der Region Luhansk berichtet.
Wahrscheinlich haben Sie auch von der Freilassung von 215 ukrainischen Kriegsgefangenen gehört, die dieses Mal recht «günstig» für die Ukraine ausfiel, indem es gelang, den meistgehassten Oligarchen des Landes, Viktor Medwedtschuk, zu einem hohen Preis einzutauschen. Und von der «Teilmobilmachung» in Russland, die dazu führt, dass mehrere hunderttausend Männer und ganze Familien aus der Russischen Föderation vor allem nach Zentralasien fliehen. Gleichzeitig scheint es, dass die Massaker an Zivilist·inn·en durch gezielten Raketenbeschuss immer weniger Aufmerksamkeit in den westlichen Medien erregen, ebenso wie Berichte über Folter und Hinrichtungen während der Besatzung in den kürzlich befreiten Gebieten. Im Osten nichts Neues? Putin und seine Komplizen drohen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Unsere Medien geben Ratschläge, wie man sich in einem solchen Fall verhalten sollte. Aber irgendwie sind wir im Moment zu beschäftigt, um darauf zu achten. Ausserdem stehen unsere Leute auf schwarzen Humor. Ein Freund sagte gestern, dass er im Falle einer Atombombenexplosion nicht den Anweisungen folgen würde, sich auf den Boden zu legen oder sich in einem Schutzraum zu verstecken. Stattdessen werde er sich aufrecht hinstellen und dem Atompilz ins Gesicht sehen, um das Spektakel zu geniessen, bevor er ohnehin sterben werde. Wer hat schon das Privileg auf einen so grossartigen Tod?
«Alle gegen Alle»
Der Menschenrechtsverteidiger Maksym Butkevych, ein langjähriger Freund von uns (siehe Arch. Nr. 317, Sept.2022) ist seit mehr als drei Monaten in Kriegsgefangenschaft. Anfang September erhielt er endlich die Gelegenheit, seine Eltern für einige Minuten anzurufen. Das russische Militär leitet ein Strafverfahren gegen ihn ein, dessen Einzelheiten er nicht kennt. Er konnte in Erfahrung bringen, dass sie ihn gegen einen ihrer Offiziere austauschen möchten, der bei der russischen Offensive auf Kyjiw, zu Beginn des Krieges, gefangen genommen wurde. Am Telefon sagte Maksym, dass mit ihm alles in Ordnung sei, was natürlich nicht viel bedeutet, aber zumindest lebt er und seine Angehörigen haben wieder etwas Hoffnung. Gerade erfahre ich, dass eine Freundin in Berlin die Gelegenheit hatte, mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier über Maksym zu sprechen, und es scheint, als wolle er die Initiative für seine Freilassung ergreifen. Alle Initiativen des Solidaritätsnetzwerks erfolgen in Absprache mit den Eltern und dem Freundeskreis. Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanov, informierte kürzlich, dass ein Austausch «Alle gegen Alle» verhandelt werde. Die Freilassung von 215 ukrainischen Soldaten Ende September löste im Land eine Welle der Begeisterung aus, vielleicht sogar mehr als die Befreiung der besetzten Gebiete im Nordosten. Dies war umso wichtiger, weil viele die Gefangennahme der Verteidiger von Asowstal als Verrat von der Staatsspitze empfunden hatten. Ich habe keine zuverlässigen Informationen über die aktuelle Gesamtzahl der ukrainischen Geiseln gefunden. Und noch etwas zu diesem Thema: Haben Sie den im September freigelassenen, furchtbar abgemagerten Soldaten gesehen, dessen rechter Arm deutlich kürzer war als der andere? Stellt Euch vor, er ist in seinem zivilen Leben Musiker, spielt Bassgitarre und legt einen unverwüstlichen Optimismus an den Tag. Es gibt hier wirklich viele Menschen, die für die Zukunft der Menschheit Hoffnung verströmen.
Um zu verstehen, was an der Front vor sich geht, sind die russischen Blogger·innen eine deutlich schnellere und informativere Quelle als die ukrainischen Medien. Ab und zu macht es jetzt auch Spass, sich Ausschnitte aus russischen Propaganda-Talkshows anzusehen. Abgesehen von der üblichen «Schlachtet sie alle ab»-Hysterie sieht man, dass sie langsam die Fassung verlieren: «Wo sind unsere Panzer? Wo war unsere Luftwaffe?!» und «Man muss all diese unfähigen Generäle barfuss an die Front schicken!» Werden diese Leute eines Tages vor Gericht stehen, wie die Verbrecher vom Radio der 1000 Hügel in Ruanda?
Es gibt nicht nur die Front. Die Massaker an der Zivilbevölkerung gehen unaufhörlich weiter. Unser Freund Livon, der für eine Flüchtlingsorganisation im Osten arbeitet, war besonders empört, als mehrere Boden-Luft-Raketen (!) auf einen Hilfskonvoi in der Nähe von Zaporijje (Saporischschja) abgefeuert wurden, wobei mehr als 30 Zivilist·inn·en getötet und zahlreiche verletzt wurden. Gemeinsam ist diesen Raketenangriffen, dass sie in militärischer Hinsicht den Besatzern nichts nützen, sondern lediglich die Bevölkerung terrorisieren sollen. Wir haben mehrere Freund·innen, die in den kürzlich befreiten Gebieten recherchieren und Zeugenaussagen über Folterungen, vorsätzliche Tötungen, Vergewaltigungen, Raubüberfälle usw. zusammentragen. Der Fotograf Sasha Glyadyelov ist gerade aus dem Osten von Charkiw zurückgekehrt. Er war schockiert über die Menge an zurückgelassener Militärausrüstung, die Landschaft voller gefährlicher Gegenstände und die kolossalen Zerstörungen.
Tägliches Überleben
Unsere Währung Hryvna hat seit Beginn des Krieges 30 Prozent ihres Wertes verloren, aber weder die Löhne noch die Renten haben damit Schritt gehalten, ganz zu schweigen von den Menschen, die von staatlicher Sozialhilfe leben. Immerhin werden die Tankstellen ständig beliefert und die Kraftstoffpreise bleiben stabil bei etwa 1,20 Euro/Liter. Der Staat überlebt dank der Unterstützung des Westens und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Freund·innen in der Verwaltung erzählen, dass dort das Chaos herrscht. Zum Beispiel im Bildungswesen kommt das Geld, das eigentlich schon längst ausgegeben ist, einfach nicht an, und die Behörde kumuliert grosse Schulden. Der Krieg frisst alle Ressourcen auf, doch auch hier deckt der Staat bei weitem nicht alle Bedürfnisse ab. Derzeit sammeln Freiwillige unter anderem, um warme Kleidung für die Armee zu kaufen. Es gibt unzählige Hilfsinitiativen, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Ukraine nur dank dieser Initiativen die letzten sieben Monate überstanden hat. Zu den spektakulärsten Ergebnissen gehört, dass einer der grossen privaten Fonds kürzlich einen türkischen Satelliten gekauft hat, mit dessen Hilfe die gegnerischen Stellungen leichter zu finden sind. Ein Blogger sammelt auf Bitten seiner Freunde an der Front für den Kauf von zwei Kühlcontainern, in denen die im Kampf Gefallenen gelagert werden sollen; wie soll man das ertragen?
In einer der nächsten Nachrichten werde ich gerne mehr über die fabelhafte Arbeit unserer Kolleginnen vom «Komitee für medizinische Hilfe in Transkarptien» (CAMZ) in Uschhorod schreiben. Sie eröffnen demnächst zwei Zentren für Binnenvertriebene, eines davon speziell für Menschen mit Behinderungen. Ausserdem verteilen sie hunderte Tonnen humanitärer Hilfe und riesige Mengen an Medikamenten an medizinische Einrichtungen in allen Teilen des Landes.
Im Zentrum der Stadt Poltawa (südöstlich von Kyjiw) hat eine lokale Initiative eine ehemalige Stadtgärtnerei (0,6 ha) gerodet, um sie in einen Gemüsegarten für Binnenvertriebene umzuwandeln. Viele Freiwillige beteiligen sich daran und es wurde bereits Gemüse geerntet und an die Flüchtlingsunterkünfte verteilt. Die Saison neigt sich dem Ende zu, aber die Freiwilligen sind motiviert, im nächsten Jahr noch mehr zu tun. Poltawa ist ein sehr fruchtbares Gebiet mit hervorragenden Böden. Dort leben Zehntausende von Geflüchteten.
Vielleicht schreibe ich auch ein anderes Mal ausführlicher über das Leben ausserhalb des Krieges, es gibt wie immer Gutes und Schlechtes: Zaghafte, aber zugleich sehr wichtige Schritte in der Justizreform; der absurde und gefährliche Abbau von Rechten der Arbeiter·innen und Angestellten; Korruption auf allen Ebenen trotz des Krieges und Machtkonzentration dort, wo es ums grosse Geld geht, insbesondere im Energiebereich. Die Fäden werden wie immer von einigen Leuten aus dem Präsidialamt gezogen. Nach dem Krieg wird es in diesem Land neue Superreiche geben. Dennoch bleibe ich optimistisch; die Ukrainer und Ukrainerinnen sind keine Schafe. Demnächst werden wir uns wieder auf den Weg machen, um verschiedene Initiativen im Zentrum und im Osten der Ukraine zu treffen.
Jürgen Kräftner Landwirt und Musiker